Verfassungsgerichtshof für das
Land Nordrhein-Westfalen

[Pressemitteilungen]

Pressemitteilung

 

06.07.1999


Urteil vom 6. Juli 1999

Organklagen gegen 5 %-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht erfolgreich

Der Landtag Nordrhein-Westfalen hat das Recht auf Chancengleichheit der Parteien und auf Gleichheit der Wahl dadurch verletzt, daß er im Mai 1998 bei der Verabschiedung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes die 5 %-Sperrklausel im Kommunalwahlgesetz nicht aufgehoben oder abgemildert hat. Ihre Beibehaltung hat nicht auf einer hinreichenden Begründung ihrer weiteren Erforderlichkeit beruht. Dies hat der Verfassungsgerichtshof NRW in einem heute verkündeten Urteil festgestellt. Das Urteil ist in zwei verbundenen Organstreitverfahren ergangen, welche die Ökologisch-Demokratische Partei (ödp) und die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) gegen den Landtag Nordrhein-Westfalen anhängig gemacht hatten. 1
Der Verfassungsgerichtshof NRW hatte durch Urteil vom 29. September 1994 festgestellt, daß der Landtag verpflichtet ist, für die Kommunalwahlen 1999 zu überprüfen, ob die 5 %-Sperrklausel im Kommunalwahlgesetz unverändert aufrecht erhalten werden darf. Der Verfassungsgerichtshof hatte hierfür dem Landtag ein „Prüfprogramm“ vorgegeben. Er hatte insbesondere die Notwendigkeit hervorgehoben, die Erfahrungen zu erheben und auszuwerten, die andere Länder wie Bayern und Baden-Württemberg mit ähnlicher Kommunalverfassung, aber ohne Sperrklausel im Kommunalwahlrecht gemacht haben. Im Oktober 1997 brachte die Landesregierung im Landtag den Entwurf eines Zeiten Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes ein. In diesem Gesetzgebungsverfahren sollte nach dem Willen des Landtags die notwendige Überprüfung der 5 %-Sperrklausel vorgenommen werden. Das Zweite Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes wurde am 6. Mai 1998 vom Landtag verabschiedet. Er beschloß dabei zugleich, die 5%-Sperrklausel beizubehalten. Die Antragstellerinnen haben am 5. November 1998 ihre Anträge beim Verfassungsgerichtshof eingereicht. Die Antragserwiderung des Landtags lag dem Verfassungsgerichtshof Mitte März 1999 vor, nachdem die Frist auf Bitten des Landtags verlängert worden war. Nach Eingang der Gegenäußerung der Antragstellerinnen hat der Verfassungsgerichtshof wegen der Eilbedürftigkeit der Sache mit Blick auf die anstehenden Kommunalwahlen Termin zur mündlichen Verhandlung für den 15. Juni 1999 anberaumt. Aufgrund der mündlichen Verhandlung mußte der Verfassungsgerichtshof davon ausgehen, der Sachverhalt sei mit den eingereichten Stellungnahmen und Unterlagen geklärt. Er setzte deshalb Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 6. Juli 1999 an. Ein nachgereichter Schriftsatz des Landtags gab keinen Anlaß, diesen Termin aufzuheben. 2
Zur Begründung des heute verkündeten Urteils führte der Präsident des Verfassungsgerichtshofs Dr. Bertrams unter anderem aus: Der Landtag habe die Überprüfung der Sperrklausel nicht so vorgenommen, wie es den Vorgaben des Verfassungsgerichtshofs in seinem Urteil aus dem Jahre 1994 entspreche. Er habe sich zu Unrecht mit der theoretischen Möglichkeit begnügt, bei einem Wegfall der Sperrklausel könnten vermehrt Splitterparteien in die Kommunalvertretungen einziehen und deren Funktionsfähigkeit beeinträchtigen. Für diese Annahme fehle es indes an nachvollziehbaren tatsächlichen Erkenntnissen. 3
Der Landtag sei zwar nachvollziehbar zu dem Ergebnis gelangt, den Kommunalvertretungen seien Aufgaben von solchem Gewicht geblieben, daß sie gegen Störungen ihrer Funktionsfähigkeit geschützt werden müßten, auch nachdem nicht mehr sie, sondern unmittelbar die Bürger den Hauptverwaltungsbeamten zu wählen hätten. Der Gesetzgeber habe diesen Befund jedoch nicht ausreichend mit den Erfahrungen in anderen Ländern verglichen, die eine ähnliche Kommunalverfassung hätten, aber ohne Sperrklausel auskämen. Aus diesen Ländern seien Störungen oder Gefährdungen der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen nicht bekannt geworden. Daß die Erfahrungen dieser Länder wegen bestehender Unterschiede in der Kommunalverfassung und der Aufgabenstellung der Kommunalvertretungen nicht übertragbar seien, habe der Landtag nicht plausibel dargelegt. 4
Soweit der Landtag mit Blick auf die Bildung notwendiger Mehrheiten befürchte, kleinere Parteien und Wählergruppen verträten nur bestimmte eingeschränkte Interessen, verkenne er, daß auch größere politische Parteien nicht dagegen gefeit seien, daß in ihren Ortsgruppen und Kreisverbänden Interessengruppen eine maßgebliche Rolle spielten. Es fehle an einer ausreichenden Erhebung der tatsächlichen Erfahrungen mit dem hier relevanten bürgerschaftlichen Engagement in den Räten und Kreistagen, das insbesondere durch freie Wählergemeinschaften geprägt werde. Der Landtag habe keine Erfahrungen dafür aufbieten können, daß von derartigen Wählergruppen nur singuläre, partikuläre oder temporäre Interessen vertreten würden. 5
Nicht hinreichend begründet sei auch die Befürchtung des Landtags, die Vorteile einer Arbeitsteilung durch Vorbereitung der Ratsbeschlüsse in Ausschüssen könnten verloren gehen, wenn Splittergruppen in diesen nicht vertreten seien und deshalb darauf drängten, daß der Rat sich im Plenum zeitaufwendig mit Vorlagen befassen müsse, die im Ausschuß bereits abgearbeitet gewesen seien. Über Vermutungen hinaus fehle es auch insoweit an der Erhebung einschlägiger tatsächlicher Erfahrungen. Die Größe der Ausschüsse lasse im übrigen auch jetzt in der Regel Parteien nicht zum Zuge kommen, welche die 5 %-Hürde nur um weniges übersprungen hätten. 6
VerfGH 14/98  
VerfGH 15/98  

 


eingetragen von Matthias Cantow