Negatives Stimmgewicht

[Bundestagswahl 2009]

Bei Bundestagswahl 2009 droht verkehrte Wahl

Für den Fall, dass zur Bundestagswahl 2009 das Wahlsystem noch negative Stimmgewichte ermöglicht, droht eine Rückwirkung auf die Stimmabgabe in einem größeren Ausmaß. Bedingt durch das noch gültige (aber verfassungswidrige) Wahlrecht erwarten wir in Bundesländern, in denen Überhangmandate möglich sind, Kandidaten, die ausschließlich um Erststimmen werben, während ihre Partei dort möglichst keine Zweitstimmen erhalten möchte.

Massives Stimmensplitting zu erwarten

In Bundesländern, in denen Überhangmandate zu erwarten sind, wird es ein Stimmensplitting größeren Ausmaßes geben. Ein Wähler, der das Wahlsystem verstanden hat und davon ausgeht, dass die von ihm präferierte Partei dort Überhangmandate erhält und daher ein negatives Stimmgewicht zu erwarten ist, wird seiner Partei kaum dadurch schaden, dass er ihr die Zweitstimme gibt. In der Regel bietet sich eine andere Partei an, der er seine Zweitstimme kann.

Durch das negative Stimmgewicht gibt es einen qualitativen Unterschied beim zum Anreiz des „normalen“ Stimmensplittings. Das normale Stimmensplitting ist Folge eines Abwägungsprozesses. Man erkauft sich ein etwas höheres Stimmgewicht durch die Wahl einer etwas anderen politischen Richtung. Ein negatives Stimmgewicht bricht diesen den Abwägungsprozess auf. Die Nichtwahl der präferierten Partei ergibt sich nun schon aus der Schädlichkeit der Zweitstimme für diese Partei. Die einzige Alternative zur Nichtwahl ist dann die Wahl einer anderen Partei. Aber selbst wenn das negative Stimmgewicht nicht sicher zu erwarten ist. Die Hemmschwelle zum Stimmensplitting wird deutlich niedriger. Und schon die theoretische Möglichkeit negativer Stimmgewichte verstärkt einen Abwägungsprozess hin zum Stimmensplitting.

Diesmal kennen die Wähler das Wahlsystem mit seinen Folgen

Vermutlich haben nur wenige Wähler der Bundestagswahlen der Jahre 1957 bis 2005 ein negatives Stimmgewicht erwartet oder auch nur für möglich gehalten.

Mit der Nachwahl in Dresden hat sich das geändert. Ganz Deutschland konnte in wenigen Wochen diesen absurden Teil des Wahlrechts studieren und Presse und Parteien haben fleißig darauf aufmerksam gemacht. Viele Wähler in Dresden haben entsprechend gewählt und vom Briefwahl- zum Urnenwahlergebnis ist der Lerneffekt deutlich erkennbar.

Ein Beispiel, dass Wähler und wahlwerbende Parteien in der Lage sind, das Wahlsystem zu verstehen und auszunutzen, ist die Parlamentswahl in Albanien 2005. 98 von 100 Wahlkreisen gehen an die beiden „großen“ Parteien, die aber wegen massiven Stimmensplittings jeweils nur rund 8 % der Zweitstimmen erhalten. Koalitionstaktisches Stimmensplitting ist dort der Normalfall. Und auch hier war Auslöser des Lerneffektes eine Nachwahl. Es ist nicht ersichtlich, warum die Wähler in Deutschland weniger rational wählen sollten.

Vor allem wird man die Verfassungswidrigkeit des Wahlgesetzes kaum mit einer angenommen Irrationalität der Wähler oder ihrer Unkenntnis des Wahlsystems rechtfertigen können. Das Unvermögen der Wähler wäre sonst quasi Voraussetzung für das Wahlgesetze.

Größenordnung des Effektes: 90 Sitze

Das Sitzpotential durch Stimmensplitting ist die Anzahl der Direktmandate für überhängende Landeslisten. Zur Bundestagswahl 2005 wären dies 47 CDU- und 42 SPD-Sitze (vgl. 6,5 Mio. betroffene Wähler 2005.)

Vorteil für FDP in Sachsen

Der Vorteil in der Sitzverteilung läge am Ende vor allen bei den Parteien, die erfolgreich um die für andere schädlichen Zweitstimmen werben (also die FDP in CDU-Überhangländern, die GRÜNEN in SPD-Überhangländern). Der vergleichsweise kleine Vorteil für die überhängenden Parteien, würde durch Splittingwähler in Nicht-Überhangländern wieder aufgebraucht. Für die großen Parteien bedeutete das deutlich weniger Listenmandate, insbesondere auch deutlich weniger als durch die eine interne Kompensation (vgl. diesen minimalen Lösungsvorschlag) entstünde.

Wahlkampf verkehrt – Kandidaten werben ausschließlich um die Erststimme

Der Wahlkampf bei der Nachwahl im Wahlkreis Dresden I 2005, bei dem der Kandidat der Überhang-Partei nur noch um die Erststimme warb, wird in dieser Form in allen Bundesländern, in denen Überhangmandate erwartet werden, stattfinden.

Die anderen Parteien, insb. natürlich der mögliche Koalitionspartner, werden die Wähler über das Wahlsystem und die Folgen aufklären, und entsprechendes Stimmensplitting empfehlen. Die großen Parteien müssen dabei darauf achten, dass sich diese Art von Wahlkampf nur auf ihre überhängende Bundesländer beschränkt und nur auf die Bundestagswahl 2009.

Wählerverwirrung

Die Durchführung einer Wahl unter diesen Rahmenumständen kann man kaum noch als eine „Wahl“ bezeichnen. Bei den Bundestagswahlen von 1957 bis 2005 ist der Effekt der Stimmgewichtsumkehr nur deshalb nicht so deutlich zutage getreten, weil die überwiegende Zahl der Wähler in der Annahme eines normalen Wahlsystems ihre Stimme abgegeben hat, so dass die Zahl der Überhangmandate sich in Grenzen hielt (aber nicht in engen).

Allgemeine Wahlen in der Kenntnis, dass das Wahlsystem verfassungswidrig ist und die eigene Stimme zu paradoxen Ergebnissen führen kann, führen zu einer großen Verunsicherung der Wähler verbunden mit einem Vertrauensverlust unabschätzbaren Ausmaßes in das Funktionieren von Demokratie und Wahlen.


von Martin Fehndrich (12.08.2008, letzte Aktualisierung am 17.10.2008)