Frauenwahlrecht

[Wahlrechtslexikon]

Das Wahlrecht der Frauen

Entwicklung in Europa

In Europa erhielten die Frauen als erste in Finnland das Wahlrecht. Die Reichstagsordnung und ein neues Wahlgesetz vom 1. Juni 1906 legten das aktive und passive Wahlrecht für alle männlichen und weiblichen Bürger über 24 Jahren fest. Die erste Wahl zum finnischen Parlament (Eduskunta) fand am 15. und 16. März 1907 statt, diese war sogar die weltweit erste nationale Wahl mit aktivem und passivem Frauenwahlrecht, bei der Frauen gewählt wurden.

In den anderen europäischen Staaten schien die Einführung des Frauenwahlrechts zu der Zeit noch in weiter Ferne (siehe den Stand der Diskussion im Jahre 1909). Ein langes Ringen der Frauen um ihr Wahlrecht begann und Spuren dieser Bemühungen findet man auch noch heute: So war der seit 1911 am 19. März und ab 1921 am 8. März – als Internationaler Sozialistischer Frauentag und heute als Internationaler Frauentag begangene Tag ursprünglich als Kampftag für das Frauenwahlrecht bestimmt.

Mit Ende des I. Weltkrieges veränderte sich die Lage stark. In Deutschland erhielten die Frauen das Wahlrecht im Zuge der Novemberrevolution durch den Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. November 1918: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystem für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen. Auch für die Konstituierende Versammlung, über die nähere Bestimmung noch erfolgen wird, gilt dieses Wahlrecht.“

Dies wurde kurze Zeit darauf in Paragraph 2 der Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung (Reichswahlgesetz) vom 30. November 1918 umgesetzt: „Wahlberechtigt sind alle deutschen Männer und Frauen, die am Wahltag das 20. Lebensjahr vollendet haben.“ Am 19. Januar 1919 fand dann mit der Wahl der Deutschen Nationalversammlung die erste reichsweite deutsche Wahl statt, bei der Frauen das aktive und passive Wahlrecht besaßen.

Schon vor diesem Termin konnten Frauen bei den am 15. Dezember 1918 in Anhalt und Mecklenburg-Strelitz, am 22. Dezember 1918 in Braunschweig sowie am 12. Januar 1919 in Bayern, Württemberg und Baden stattfindenden Landtagswahlen bereits wählen und gewählt werden.

Stand der Diskussion 1909

Auszug aus: Das Wahlrecht von Oskar Poensgen, 1909, der den Stand der Diskussion vor fast 100 Jahren wiedergibt:

Eine andere Beschränkung, welche die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung vom Wahlrechte zu Volksvertretungen ausschließt, ist heute beinahe überall gebräuchlich, nur wenige kleinere Staatsgebilde machen vorläufig eine Ausnahme: Es ist die Beschränkung des Wahlrechts auf das männliche Geschlecht. Mit der allgemeinen prinzipiellen Behauptung, daß die angeborene Anlage der Frauen sie nicht zur Betätigung politischer Rechte befähige, ist allerdings wenig anzufangen. Die heute vorhandenen Anlagen und Fähigkeiten der Frauen sind so sehr von Erziehung und Tradition abhängig, daß man daraus nicht einen allgemein gültigen Satz begründen könnte.

Richtig ist aber, daß in den größeren Kulturnationen heute die Frauen durchschnittlich wohl zur Ausübung politischer Rechte nicht so wie der Mann befähigt sind. Zunächst hat bei uns in allen Ständen die Frau geringere Kenntnisse in bezug auf politische und staatliche Angelegenheiten als die Männer derselben Stände. Bei den sogenannten gebildeten Klassen ist die Schulbildung der Frauen eine ganz andere, mehr auf die ästhetische Seite gerichtet, und auch in den arbeitenden Ständen pflegt sich die Frau meist nicht oder doch weniger als der Mann mit staatlichen und politischen Dingen zu beschäftigen. In sämtlichen Ständen hat heute die Frau ein verhältnismäßig geringes Interesse an der Politik. Man braucht im täglichen Leben doch nur zu beobachten, welchen Gesprächsstoff Frauen und welchen Männer haben. Es gehört, glaube ich, zu den seltenen Dingen, daß eine Frau den politischen Leitartikel einer Zeitung liest. Abgesehen von den wichtigeren Weltereignissen interessiert heute auch die gebildete Frau am meisten in der Zeitung der unter dem Strich. Dazu kommt, daß der Mann heute im selbständigen Berufsleben von vornherein an ein öffentliches Wirken gewöhnt ist, während die Frauen, wenigstens im wahlberechtigten Alter nach 25 Jahren, heute doch zum größeren Teile nicht selbständig beruflich tätig sind. Man braucht nicht mit den Gegnern der Frauenemanzipation und des Frauenwahlrechtes zu sagen: "Die Frau gehört ins Haus, der Mann ins Leben", um doch davon überzeugt zu sein, daß heute zum größeren Teile dies tatsächlich der Fall ist.

Auch führt man gegen das Wahlrecht der Frauen die Tatsache an, daß diese keine militärische Dienstpflicht erfüllen. Da das Wahlrecht keine Gegenleistung für irgendeine Leistung dem Staate gegenüber darstellt, so würde dieser Grund ohne weiteres nicht durchschlagen; immerhin kann man zugeben, daß die Möglichkeit, für das Vaterland das eigene Leben einzusetzen, auch die Angehörigkeit zu dem großen staatlichen Heeresorganismus ein gewisses größeres Verantwortlichkeitsgefühl in nationalen Dingen und ein größeres Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit zu geben geeignet ist. Von Befürwortern des Frauenstimmrechtes wird auf die Einführung einer allgemeinen Frauendienstpflicht im sozialen Sinne (Krankenpflege usw.) hingewiesen. Diese Neuerung würde allerdings dazu mitwirken, den Frauen ein größeres Gemeingefühl zu geben.

Wenn man heute auch noch die Beschränkung des Wahlrechts auf die männliche Bevölkerung als richtig ansieht, wird man doch nicht ohne weiteres für immer das Frauenwahlrecht ablehnen können. Wenn in erster Linie die Grundlagen der heutigen Frauenerziehung wesentlich geändert und der des Mannes angenähert werden, wenn weiter ein noch größerer Teil der Frauen selbständige Existenz im wirtschaftlichen Leben und damit eine innigere Berührung mit den öffentlichen wirtschaftlichen Leben erwirbt, und wenn schließlich die Frauen mehr als bisher öffentliche Pflichten auf sich nehmen, werden vielleicht auch allmählich die entsprechenden Rechte nachfolgen. Die Einführung des Kommunalwahlrechtes der Frauen in manchen Staaten, in denen sie das parlamentarische Wahlrecht nicht besitzen, zeigt den natürlichen Weg einer dahin zielenden Entwicklung: Die Bewährung im öffentlichen Leben engerer Kreise wird vielleicht das Recht der Betätigung auch im weiteren Umfange, also in der Volksvertretung selbst, mit sich bringen.

Dabei ist allerdings außer acht zu lassen, daß in den Staaten mit beschränkterem Stimmrechte das Frauenwahlrecht leichter durchzusetzen ist, als in denen mit allgemeinem Stimmrecht. In England beispielsweise, wo im allgemeinen Grundbesitz oder ein selbständiger Haushalt oder eine bestimmte Steuerleistung zum Wahlrecht erfordert werden, würde nach der Schätzung der Befürworter des Frauenstimmrechtes zu den vorhandenen 7 266 708 männlichen Wählern nur die verhältnismäßig geringe Zahl von etwas 300 000 weiblichen Wählern bei Einführung des Frauenstimmrechtes unter den gleichen Bedingungen, wie es die Männer haben, hinzutreten.

Wie weit das Frauenstimmrecht in den europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten von Nordamerika eingeführt ist, ergibt sich aus der Darstellung des Wahlrechts in den einzelnen Staaten. Außerdem besteht das Frauenstimmrecht in Neuseeland dem Parlament des australischen Bundesstaates (Commonwealth of Australia) und mehreren australischen Einzelstaaten.

Oskar Poensgen: Das Wahlrecht, Leipzig, Teubner Verlag, 1909, S. 29–31.


von Martin Fehndrich und Matthias Cantow (Erstellt: 02.01.2004, letzte Aktualisierung: 19.03.2007)