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2-Verfahren-Paradoxon

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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 08. Oktober 1999 - 15:52 Uhr:   

Unter der Rubrik "Wahlparadoxien" wird eine spezielle Klausel in der Geschäftsordnung des Bundestags beschrieben (streng genommen als keine Wahlrechtsfrage).
Dabei wird zwischen zwei Sitz-Zuteilungs-Verfahren gewechselt, um je nach Mandatsstand im Plenum die Regierungsmehrheit in den Ausschüssen zu gewährleisten.

Hier geht es eigentlich nicht um die Stärken und Schwächen bestimmter Verfahren, auch nicht um ein Paradoxon, sondern das ist eigentlich ein Skandal!

Das Parlamentarismus-Verständnis hinter dieser Regelung ist erschütternd.
Der Bundestag als Parlament ist eine eigenständige Säule im demokratischen Staat, eine der drei Gewalten und damit gleichberechtigt neben der Regierung (und der Jurisdiktion).
Da kann es den Begriff "Regierungsmehrheit" bei der internen Geschäftsordnung des Parlaments und seiner Organe nicht geben.

Leider ist die Gewaltenteilung im politischen Leben unseres Landes schon ziemlich runtergekommen - in Praxi sehen sich (Regierungs-)Fraktionen nicht als Teil des die Exekutive kontrollierenden Parlaments sondern als verlängerter Arm und Befehlsempfänger der Regierung.

Diese im Alltag vorkommende Deformation aber auch in den offiziellen Regelungen zu sanktionieren ist unglaublich.
Da würde ich (so es denn eine Möglichkeit gäbe) gerne klagen...
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Martin Fehndrich
Veröffentlicht am Freitag, 08. Oktober 1999 - 17:26 Uhr:   

Das Paradoxon entsteht dadurch, WIE man zwischen den Berechnungsverfahren hin und herwechselt und rührt daher, daß es mathematisch nicht möglich ist, alle Mehrheiten von einem großen Ausschuß (Plenum) in einen kleinen zu transformieren.

Man versucht zu gewährleisten, daß eine Mehrheit im Parlament (die Regierungsmehrheit) auch zu einer Mehrheit im Ausschuß führt. (Daß dies nicht 100%-tig gewährleitet wird, spricht im Übrigen auch gegen das derzeitige Verfahren).

Als Problem trat das in den 70ern auf, als die Union als stärkste Fraktion die Ausschußmehrheiten hatte, bei einer SPD/FDP Regierungsmehrheit.

Das dies ein Problem ist, bestätigt allerdings, daß die Gewaltenteilung hier nicht besonders ausgeprägt ist.
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Hans Petermann
Veröffentlicht am Freitag, 08. Oktober 1999 - 17:52 Uhr:   

Die Bestimmung, auf die Ralf Arnemann hinweist, gibt es meines Wissens für fast jedes Gremium. So gilt beispielsweise für die Wahl der Ferienausschüsse der Akademischen Senate, daß deren Sitze zwar grundsätzlich nach der d'Hondt-Methode auf die Fraktionen im Akademischen Senat verteilt werden, daß aber hiervon abgewichen werden kann, wenn der Ferienausschuß hierdurch vom Akademischen Senat abweichende Mehrheitsverhältnisse aufweisen würde. Meiner Meinung nach könnte dieses Problem umgangen werden, indem die Ausschüsse -zumindestens wenn sie nicht zu groß sind- von den Mitgliedern des entsprechenden Gremiums nach der Übertragbaren Einzelstimmgebung gewählt würden. Für die größeren Ausschüsse ist dieses Paradox ohnehin weniger wahrscheinlich.
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Wilko Zicht
Veröffentlicht am Donnerstag, 14. Oktober 1999 - 18:07 Uhr:   

Mich stört es auch, daß die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive zunehmend in Vergessenheit gerät. Ich hoffe z.B., daß die Grünen sich damit durchsetzen, daß das Bundestagsmandat von Mitgliedern der Bundesregierung während ihrer Amtszeit ruht (wie in einigen Bundesländern). Wobei dieselbe Partei keine Skrupel hat, neuerdings die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsfraktionen an den Kabinettssitzungen teilnehmen zu lassen. Was haben die da zu suchen? Das ist wirklich ein Skandal!

Andererseits ist es in einer Parteiendemokratie m.E. unvermeidlich, daß sich die Gewaltenteilung praktisch größtenteils vom Gegensatz Parlament-Regierung auf den Unterschied Regierung(sfraktionen)-Opposition verlagert. Und wenn gewisse Mindeststandards der Trennung von Regierung und Parlamentsmehrheit eingehalten werden, sehe ich das auch nicht als soo schlimm an.

Ralfs Kritik an der Geschäftsordnungsbestimmung, wonach die Regierungsfraktionen auch in den Ausschüssen ihre Mehrheit behalten sollen, halte ich aber für überzogen.

Was wäre denn die Konsequenz einer Abschaffung dieser Regelung? Würde dadurch ein Mehr an Gewaltenteilung erreicht werden? Ich glaube nicht. Schließlich kann das Plenum jederzeit ein Ausschußvotum aufheben. Die Ausschüsse sind dazu da, die Parlamentsarbeit effektiver zu gestalten. Würden im Ausschuß andere Mehrheiten als im Plenum gelten, hätte dies lediglich zur Folge, daß die Arbeitfähigkeit des Parlaments beeinträchtigt wird.

Viel wichtiger fände ich eine Änderung im Bewußtsein der betroffenen Politiker und inssbesondere der Medien dahingegend, daß es ein Stück weit Normalität wird, wenn im Bundestag auch mal mit wechselnden Mehrheiten abgestimmt wird.

Zu dem Beitrag von Hans Petermann: Ich sehe nicht, wie das Problem durch Wahl per übertragbarer Stimmgebung gelöst werden könnte. Im Gegenteil: Wenn die Stimmberechtigten nicht fraktionstreu abstimmen, dürfte erst recht ein anderes Mehrheitsverhältnis im Ausschuß herauskommen.

Mit Hilfe der übertragbaren Stimmgebung kann generell die Parteien- bzw. Fraktionsproportionalität nicht verbessert werden. Der große Vorteil dieser Stimmgebung besteht aber darin, eine differenziertere, über den bloße Parteienproporz hinausgehende Proportionalität zu gewährleisten, indem die differenzierte politische Überzeugung jedes einzelnen Wählers Berücksichtigung findet.
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Hans Petermann
Veröffentlicht am Freitag, 15. Oktober 1999 - 12:56 Uhr:   

Wilko Zicht schrieb: "Ich sehe nicht, wie das Problem durch Wahl per übertragbarer Stimmgebung gelöst werden könnte. Im Gegenteil: Wenn die Stimmberechtigten nicht fraktionstreu abstimmen, dürfte erst recht ein anderes Mehrheitsverhältnis im Ausschuß herauskommen." Im Gegenteil: Nur die Übertragbare Einzelstimmgebung garantiert, daß im Ausschuß stets dieselben Mehrheitsverhältnisse gelten wie im Bundestag.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 15. Oktober 1999 - 15:44 Uhr:   

Mit "ruhenden" Mandaten habe ich Schwierigkeiten. Wie sieht denn das praktisch aus? Was für Folgen hat das für die Abstimmungen im Parlament?

Korrekt und konsequent ist doch, daß ein Minister nicht gleichzeitig Abgeordneter sein kann (so praktiziert das z. B. die F.D.P. in Hessen). Das hat auch Nachteile (die Minister kleben etwas stärker an ihren Posten), aber eigentlich müßte das gesetzlich vorgeschrieben sein.
Und Fraktionsvorsitzende im Kabinett sind tatsächlich ein weiterer Tiefpunkt.

Den Begriff "Regierungsmehrheit" in einer Geschäftsordnung zu verwenden halte ich nach wie vor für einen fetten Skandal (damit wird überdies der faktische Fraktionszwang als generelle Regel vorausgesetzt).
Ob diese Kritik überzogen ist? Tja, jeder definiert halt seinen "Sack Reis in China" anders.
Mir ist das grundsätzliche Selbstverständnis von Parlament und Abgeordneten wichtiger als die Zuteilung eines Sitzes.
Mich quält es ziemlich, wie servil sich Abgeordnete trotz aufmüpfiger Interviews dann doch als Befehlsempfänger des Kanzleramts verstehen.
Wohlgemerkt, das war unter Kohl nicht anders, die Kritik ist wirklich parteineutral. Nur ist es derzeit besonders peinlich sichtbar, weil die Meinungswechsel in der Regierung immer nachvollzogen werden müssen. Ich habe einen Vorfall erlebt, in dem ein MdB öffentlich in einer Bürgerversammlung seine eben begründete Meinung geändert hat, weil ihm die dpa-Meldung mit der neuesten Schröder-Äußerung aufs Podium gereicht wurde! Man möchte im Boden versinken ...

Ein Hauptziel jeder Wahlrechtsreform wäre für mich, den Abgeordneten wieder etwas mehr Unabhängigkeit und Selbstachtung wiederzugeben.

Aber zu den Ausschüssen: Was wäre denn so schlimm, wenn die Regierung in einem Ausschuß keine garantierte Mehrheit hätte?
Wenn die Opposition nun aus Prinzip alle Regierungsvorlagen ablehnen würde, könnte das Plenum genauso routinemäßig darüber hinweggehen.
Das ist im Parlamentsalltag eine Sekundensache, die Arbeitsfähigkeit wäre kein bißchen gefährdet.

Wenn die Opposition aber nur ab und zu einmal eine Änderung vorschlägt und per Ausschuß ins Plenum bringt - das wäre doch eine ganz gute Differenzierung der wichtigen Punkte und würde den politischen Prozeß lebendiger machen.
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Wilko Zicht
Veröffentlicht am Freitag, 15. Oktober 1999 - 17:40 Uhr:   

Okay, wenn man davon ausgeht, daß die Abgeordneten nicht nur für alle Kandidaten der eigenen Fraktion stimmen, sondern auch für die Kandidaten des bzw. der Koalitionspartner(s), dann müßten (zumindest bei ungeraden Ausschußgrößen) in der Tat stets die Mehrheitsverhältnisse zwischen Regierung und Opposition erhalten bleiben. Ich war zunächst davon ausgegangen, daß jeder Abgeordnete nur für die Kandidaten seiner eigenen Fraktion stimmt.

Allerdings bleibt natürlich die "Gefahr", daß einige Abgeordnete nicht derart koalitionstreu abstimmen werden.


Das "ruhende Mandat" ist (jedenfalls hier in Bremen) so geregelt, daß Regierungsmitglieder ihr Abgeordnetenmandat verlieren und dieses Mandat von einem Nachrücker besetzt wird. Allerdings lebt das ursprüngliche Mandat wieder auf, sobald der ehemalige Abgeordnete wieder aus der Regierung ausscheidet. Der Nachrücker verliert sein Mandat dann wieder.

Die Gefahr, daß die Minister dann noch stärker an ihrem Stuhl kleben, wird also verhindert.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Mittwoch, 20. Oktober 1999 - 17:42 Uhr:   

> Ich war zunächst davon ausgegangen, daß jeder Abgeordnete nur für die Kandidaten seiner eigenen Fraktion stimmt.
Ich gehe davon aus, daß bei der Ausschußbesetzung überhaupt nicht abgestimmt wird, sondern die Zahl der Mitglieder pro Fraktion aus der Fraktionsstärke im Parlament abgeleitet wird und dann Vertreter in entsprechender Anzahl benannt werden.

> ... Der Nachrücker verliert sein Mandat dann wieder.
Aaargh!
Ein Parlamentsmandat auf Widerruf?
Was den Leuten nicht alles einfällt.
Ich habe große Zweifel, ob das denn verfassungsgemäß sein kann.

Die Trennung zwischen Parlament und Regierung ist dann natürlich sauberer. Aber wenn die Regierung die Möglichkeit hat, bei knappen Mehrheiten Parlamentsmitglieder per gezieltem Rücktritt von Kabinettsmitgliedern ins Aus zu schießen, ist das ja noch viel schlimmer!
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Wilko Zicht
Veröffentlicht am Mittwoch, 20. Oktober 1999 - 21:33 Uhr:   

Hans Petermann hatte angeregt, die Ausschußmitglieder von den Mitgliedern des jeweiligen Gremiums per übertragbarer Stimmgebung wählen zu lassen. Natürlich stellt sich die derzeitige Rechtslage so dar, wie du es beschrieben hast.

Die Frage, ob die Bremer Regelung zur Trennung von Amt und Mandat verfassungswidrig ist, stellt sich hier nicht, weil sie in der Bremer Landesverfassung ausdrücklich so vorgesehen ist.

Auf Bundesebene wäre vermutlich eine Grundgesetzänderung notwendig. Aber derartige Fragen wurden ja bisher eh stets im Bundestag einvernehmlich entschieden, so daß dies keine unüberwindliche Hürde wäre.

Die Gefahr, die du ansprichst, halt ich für arg unrealistisch. Außerdem würden die Nachrücker durch "gezielte Rücktritte" ja eh nur dorthin "zurückgeschossen", wo sie ohne die Regelung ohnehin wären. Bisher ist es dann halt so, daß unliebsame Nachrücker durch "gezielte" Nichtabgabe des Mandats durch Regierungsmitglieder vom Parlament ferngehalten werden.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 22. Oktober 1999 - 16:27 Uhr:   

> Die Frage, ob die Bremer Regelung zur Trennung von Amt und Mandat verfassungswidrig ist, stellt sich hier nicht, weil sie in der Bremer
Landesverfassung ausdrücklich so vorgesehen ist.
Eine hervorragende Juristen-Antwort ;-)
In meiner schlampigen Laien-Formulierung steht "verfassungswidrig" halt für grundsätzlich falsch.

Und der Grundsatz, der eigentlich auch in einer Verfassung realisiert sein sollte, ist der der Gewaltenteilung - hier zwischen Exekutive und Legislative.

Bremen versucht dem per Ämtertrennung Genüge zu tun - aber so geht das nicht.
Einen Nachrücker "draußenzuhalten" ist etwas anderes als einem Parlamentarier, der das Mandat angenommen hat und in der politischen Arbeit steht eben dieses Mandat (je nach Wohlverhalten) wieder entziehen zu können. Da steckt schon eine gehörige Erpreßbarkeit drin.

Im praktischen Leben spielt das natürlich keine Rolle - aber vor allem deswegen, weil wir uns im politischen Alltag schon ganz weit von der Gewaltenteilung wegbewegt haben.

Das muß nicht von Vornherein falsch sein. Immerhin stammt die Idee mit der Gewaltenteilung aus einer Zeit, als die Exekutive z. B. von einem Erbmonarchen geführt wurde. Im Gegensatz zu damals (und im Gegensatz z. B. zum US-System mit seinen "checks and balances" zwischen Präsident und Kongreß) werden heute Regierung und Parlament mit genau demselben Wahlakt legitimiert.

Nur: Wenn man diese Überlegung weiterführt, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Parlaments.
Die Kontrolle der Regierung ist nicht mehr vorgesehen, die Gesetzgebung wird ohnehin immer mehr von der Fachverwaltung der Ministerien dominiert - die schleichende Degradierung der Abgeordneten hat bestimmt viel zu tun mit dem Vertrauensverlust in die Politik.

Es findet ein (intransparenter und aufwendiger) Parlamentsbetrieb statt, der mit den Machtfragen und den politischen Entscheidungsprozessen immer weniger zu tun hat.

Es fragt sich da: Soll man das Parlament wieder deutlich aufwerten - oder lieber abschaffen.
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Albert Kleffmann
Veröffentlicht am Dienstag, 04. Juni 2002 - 18:40 Uhr:   

Ralf Arnemann schrieb:
Es fragt sich da:
     Soll man das Parlament wieder deutlich aufwerten - oder lieber abschaffen?
          __________Zitatende__________

Antwort
     Natürlich für die Anwendung des Artikels 137 GG trommeln, was denn sonst?

Gewaltenteilung
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C.-J. Dickow
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 16:53 Uhr:   

@ Ralf

In Hamburg haben wir eine entsprechende Regel wie in Bremen und ich kann Dir versichern, daß diejenigen Abgeordneten, die das Bürgerschaftsmandat eines Senators ausüben nicht mehr oder weniger kritisch gegenüber dem Senat sind, als die übrigen Abgeordneten.
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clovis
Veröffentlicht am Freitag, 06. Oktober 2006 - 19:27 Uhr:   

Guten Tag!

Das mit der Gewaltenteilung ist natürlich so eine Sache. Mir ist schon vor längerer Zeit aufgefallen, dass jene zwischen Exekutive und Legislative in Deutschland weniger ausgeprägt ist, als in den USA. Aus meiner Sicht ist das schon im Grundgesetz angelegt, aber im Gegensatz zu Ralf Arnemann bin ich der Ansicht, dass die deutsche Regierung viel stärker vom Parlament abhängt, als in den USA.

Das liegt aus meiner Sicht an zwei Punkten:

1. Die deutsche Regierung wird vom Parlament gewählt und kann jederzeit vom Parlament mit Kanzlermehrheit gestürzt werden.

2. Eine in Nuancen andere Ausprägung des Begriffs Rechtsstaat. In Deutschland braucht die Exekutive um irgendwie handeln zu können eine explizite gesetzliche Ermächtigung. Übertrieben ausgedrückt: Wenn ein kleiner Beamter in einem Katasteramt einen Bleistift spitzen will, braucht er dafür eine gesetzliche Grundlage. In den USA (auch in GB) ist es eher so, dass der Präsident bzw. die Exekutive "alles" machen darf, die Legislative kann aber Gesetze beschliessen, die den Spielraum einschränken (wobei der Präsident sogar ein Veto gegen Gesetze hat).

Wenn also Ralf Arnemann beklagt, dass das Parlament gegenüber der Regierung "degradiert" wird, ist das vor allem auf die Mechanismen der Wahlkämpfe in Massenmedien zurückzuführen: Die total von der Parlamentsmehrheit abhängige Regierung übernimmt natürlich automatisch die Rolle einer Gallionsfigur für die Parlamentsmehrheit, was wiederum die Wahlchancen der Abgeordneten stark abhängig von der Regierung macht.

Meiner Ansicht nach, wäre das nur lösbar, in dem die Regierung ähnlich wie in den USA, völlig unabhängig vom Parlament gewählt werden würde. Gleichzeitig aber vermute ich, das dies große Schwierigkeiten zur Folge hätte, wegen der oben geschilderten Unterschiede in der Rechtsstaatsauffassung.}

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit,
Clovis
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Freitag, 06. Oktober 2006 - 23:40 Uhr:   

Es will mir scheinen, dass die enge Verzahnung zwischen Regierung und Parlament (Bundestag) in Deutschland nicht mit der parlamentarischen Regierungsform und auch nicht mit der Auffassung von Rechtsstaatlichkeit zusammenhängt.
Der verfassungsrechtlichen Theorie nach müsste die deutsche Regierung mächtiger sein als der us-amerikanische Präsident, weil dessen Zuständigkeit wesentlich geringer ist (mehr Rechte und Aufgaben bei den Staaten) als die der deutschen Bundesregierung.
Ein parlamentarisches Regierungssystem verzahnt Regierung und Parlament immer mehr oder weniger miteinander, dies gehört zu ihrem Wesen. Anders gesagt: Ein parlamentarisches System bezweckt eben gerade, die Regierung an die Parlamentsmehrheit zu binden.
Allerdings ist gerade die deutsche Regierung verfassungsrechtlich im Vergleich zu andern parlamentarischen Regierungen komfortabel gestellt: Kein reines Misstrauensvotum, sondern nur konstruktives Misstrauensvotum; kein individuelles Misstrauensvotum, keine Mitwirkung bei Ministerernennungen etc.; Vertrauensfrage als Disziplinierungsinstrument; Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers; Gesetzgebungsnotstand; verfassungsrechtlich verankertes Verordnungsrecht der Bundesregierung usw.
Schaut man sich einmal die Artikel des Grundgesetzes über das Gesetzgebungsverfahren genau an, so finden sich zahlreiche Möglichkeiten für die Bundesregierung, das durchzudrücken, was sie nun einmal will, alles Instrumente, die faktisch wohl ebenso wirksam sein können wie ein formelles Veto in den USA; ja, darüber hinaus kann auf Veranlassung der Regierung bzw. des Kanzlers, was durch die jüngste Rechtsprechung hierzu noch bestärkt worden ist, das Parlament aufgelöst werden, was in den USA nicht möglich ist.
Auch in der Rolle des Rechtsstaates sehe ich nicht derart gravierende Unterschiede. Gewiss gibt es solche, allerdings muss man auch darauf verweisen, dass in den USA in beachtlichen Punkten sehr viel "enger" gedacht wird als in Europa. Gerade die Themen Bürgerrechte und persönliche Freiheit werden dort doch in vielem deutlich enger gesehen als in Deutschland, entsprechend empfindlich (bis hin zum verfassungsmässig verbrieften Recht auf Widerstand mit Waffengewalt, wohingegen GG 24IV nur ein Papiertiger ist) fallen die Reaktionen auf vermeintlich oder faktisch überbordende Staatstätigkeiten aus. Die gegenwärtige Regierungsauffassung, dass die presidential power bspw. ungenehmigte Abhöraktionen erlaube, ist im Grunde nur die Meinung von Regierungsberatern und dürfte spätestens mit der nächsten Präsidentschaft wieder ad acta gelegt werden, falls nicht sogar der Supreme Court ein Machtwort spricht.

Der wesentliche Unterschied liegt doch wohl im Parteiensystem und dem damit verbundenen Wahlsystem: In den USA und in Deutschland spielen die Parteien eine wesentlich verschiedene Rolle. So werden Parteien in den USA nicht als ideologische Gruppen angesehen, sondern eher als eine Art Vehikel, die Bürger in Staatsämter befördern (man spricht ja auch dort bisweilen von "Wahlmaschinen"). Auch ist der Zusammenhalt der einzelnen Flügel und lokalen Parteiorganisationen weit lockerer als in Deutschland. Zwar gibt es in den USA nur zwei grosse nationale Parteien, doch diese spalten sich faktisch in 50 Landesparteien auf, die wiederum auf Ebene der Counties und Kommunen ihre eigenen Aktivitäten entfalten. Ferner sind die internen Flügel weiter auseinander als in Deutschland, zudem haben die einzelnen Politiker durchaus Spielraum, ihre eigenen oder lokalen Interessen zu verfechten usw.
In Deutschland hingegen werden die Parteien doch im wesentlichen als Blöcke angesehen, die von der kommunalen Ebene aufwärts bis zum Bund doch als eine Einheit aufgefasst werden. Der Kanzler ist in aller Regel auch der Parteichef (Schröder/Müntefering wurde ja schon als Anomalie angesehen), auch Fraktionschef, Parlamentspräsident usw. stehen in der Parteihierarchie regelmässig weit oben, wohingegen die US-Präsdienten und ihre crew regelmässig nicht zur Parteiführung gehören, bisweilen sogar Aussenseiter darunter zu finden sind.
In Deutschland wird eben nun gerade bewusst eine Partei gewählt, die einen Parteichef und Spitzenkandidaten hat, der im Erfolgsfall auch der designierte Kanzler ist. Das entspricht der Auffassung, dass eine Wahl eine politische Richtungsentscheidung und somit eine ideologische Wahl sei. Dies wird durch die Verhältniswahl und das parlamentarische System abgebildet.
In den USA herrscht eine andere Auffassung von den Parteien und der Politik, also gibt es auch ein anderes Wahlverfahren, mit dem primär Personen gewählt werden, nicht Programme.
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juwie
Veröffentlicht am Samstag, 07. Oktober 2006 - 12:41 Uhr:   

Wichtig ist für den US-Fall vor allem, dass die Parteien die Rekrutierungsmacht durch Einführung von parteiinternen Vorwahlen fast völlig verloren haben. Soll heißen: Die US-Parteien haben kaum Einfluss darauf, wer für sie in die Parlamente einzieht. Das ist für die Wahrung von Fraktionsdisziplin nicht förderlich.

Man vergleiche die Situation etwa mit dem südlichen Nachbarn Mexiko: Hier bestimmen die Parteizentralen die Kandidaten für die Parlamentswahlen und prompt ist die Fraktionsdisziplin hoch (hat selbstverständlich auch andere Gründe, dieser wird aber meist übersehen).
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Waelchli (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Samstag, 07. Oktober 2006 - 14:08 Uhr:   

Die Vorwahlen (wobei es konkret zwei Formen gibt, die wieder in Untergruppen zerfallen) sind gewiss ein entscheidender Unterschied zum deutschen Parteiensystem. Aber sie sind nicht so sehr Ursache als vielmehr Ausdruck des grundlegenden Unterschiedes: Parteien in den USA sind eben, wie oben bereits bemerkt, so etwas wie Sprungbretter für Kandidaturen, in gewisser Weise einfach funktional die Überbrückung zwischen Volk und Staat. Deutsche Parteien sind hingegen Bewegungen.
Gerade für die Präsidentschafts-Nominationen gilt aber der oben aufgestellte Satz betreffend Verlust der Rekrutierungsmacht nur bedingt: Zwar spielen die Vorwahlen eine wichtige Rolle, die definitive Entscheidung fällt aber auf Parteikongressen, die nur sehr bedingt durch Vorwahlen entschieden werden. Strategie, Flügelkämpfe und interne Bündnisse spielen dabei eine grosse Rolle. Es gibt sogar einen spannenden Film über einen solchen Parteikongress, auf deutsch mit dem schlichten Titel "Der Kandidat", wenn ich mich nicht irre.

Hilfreich ist auch ein Blick in die Verfassungsgeschichte: In der Zeit, als die US-Verfassung entstand, entstanden weltweit auch manche andere Verfassungen, die allerdings fast sämtliche rasch wieder verschwunden sind. Wenn man diese durchmustert, findet man fast durchwegs ausführliche Regelungen für die Durchführung von Wahlen. Dabei stehen sogenannte Ur- oder Wählerversammlungen eine grosse Rolle: Pro Gemeinde oder Quartier sollen die Bürger sich versammeln und Abgeordnete sowie Wahlmänner bestimmen. Die Abgeordneten gehen dann in ihre jeweiligen lokalen Parlamente, die Wahlmänner versammeln sich bezirksweise, um Abgeordnete und Wahlmänner der nächsthöheren Ebene zu wählen usw. Sogar das preussische Dreiklassenwahlrecht ist noch von Zügend dieses Ende des 18. Jhs. vorherrschenden Systems mitgeprägt, obwohl es fast ein Jahrhundert jünger ist!
Interessant bzw. auffällig ist nun, dass die US-Verfassung eben gerade nicht diesen zeitgenössischen Weg ging, sondern einen völlig verschiedenen: Sie verteilte nur Abgeordnete und Wahlmänner auf die Staaten, alles andere blieb den Staaten überlassen - und den Parteien. Die parteiinternen Vorwahlen füllen also gewissermassen die Lücke aus, die in andern gleichzeitigen Verfassungen die staatlich organisierten Ur-Wahlversammlungen füllten.
Zum Vergleich der Hinweis auf zwei Universitäten desselben Landes:
Beide Universitäten gewähren den sogenannten Ständen, d. h. dem Mittelbau (Assistenten, wissenschaftlichen Mitarbeiter usw.), den Studierenden und dem übrigen Personal (Verwaltung und Technik/Betrieb) Mitspracherechte, in deren Rahmen auch Vertreter in die Entscheidungsgremien auf den verschiedenen Ebenen (Seminarien, Institute, Fakultäten, Gesamtuniversität) zu wählen sind.
Universität A hat für diese Wahlen folgende Lösung gefunden: Der Vorsteher der jeweiligen Ebene, für die die Vertreter bestellt werden müssen, beruft alle Angehörigen eines Standes auf einen Termin zu einer Versammlung ein. Auf dieser Versammlung werden unter seinem Vorsitz in geheimer, schriftlicher Wahl die Vertreter gewählt.
Universität B überlässt es den Vereinigungen des Mittelbaus, der Studierenden und des Personals, ihre Vertreter zu wählen und zu nominieren. Die Universitätsgremien greifen nur ein, falls es zur Gründung konkurrierender Verbände o. dgl. kommen sollte, indem sie dann einen Verband offiziell anerkennen oder die Zahl der durch jeden zu bestimmenden Vertreter festlegen.
Das System der Universität A kommt jenem nahe, das die Verfassungen des 18. Jhs. kannten. Jenes der Universität B entspricht dem US-amerikanischen.
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Florian (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Samstag, 07. Oktober 2006 - 15:10 Uhr:   

"den USA (auch in GB) ist es eher so, dass der Präsident bzw. die Exekutive "alles" machen darf, "

Nicht richtig.
Die Befugnisse des Präsidenten sind im Gegenteil sehr stark beschränkt. Großen Handlungsspielraum hat er eigentlich nur in der Außenpolitik (wobei auch dort jede Botschafter-Ernennung und jeder internationale Vertrag vom Senat bestätigt werden muss - Kyoto wurde vom Präsidenten verhandelt und dann vom Senat einstimmig (!) gekippt!).
In der Innenpolitik ist der Präsident ziemlich machtlos. Allein schon deshalb, weil die Bundesstaaten so mächtig sind. Und weil er sich außerdem für jeden Dollar den er ausgeben will erst einmal eine Mehrheit in beiden Kammern besorgen muss.

Immer wieder gerne empfehle ich den Blog usaerklaert
(einschlägig ist hier der Beitrag:
http://usaerklaert.wordpress.com/2006/06/25/die-grobstruktur-der-usa-oder-wo-man-vor-bush-am-sichersten-ist/
Die Antwort auf die Frage, wo man vor Bush am sichersten ist, ist relativ einfach: In den USA selbst.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Samstag, 07. Oktober 2006 - 16:47 Uhr:   

Da muss ich nun doch wieder ein wenig berichtigen:
Es gibt schon Bereiche, in denen der Präsident der USA eine ziemlich weitreichende Kompetenz hat. Daneben haben es starke Präsidenten aller Epochen immer auch verstanden, eine Lage zu schaffen, in der sie auch über ihre formellen Rechte hinaus Wirkung erzielten, indem sie andere (Parlamentarier, Bundesstaaten) gewissermassen "mitzogen". Das ist aber eine Erscheinung, die auch in andern Ländern zu beobachten ist. Bspw. hatte auch De Gaulle keine anderen Kompetenzen als französischer Präsident denn seine Nachfolger im Amt - hingegen konnte sich kaum ein anderer Akteur in der damaligen Politik seiner Autorität entziehen.
Ein us-amerikanischer Präsident kann Verträge mit fremden Staaten auf drei Arten schliessen: Formell nach dem Buchstaben der Verfassung, d. h. er handelt sie aus und unterzeichnet sie, kann aber die Ratifikation erst nach Zustimmung des Senates mit 2/3-Mehrheit übermitteln. Daneben gab es immer schon "executive agreements", die durch den Präsidenten geschlossen wurden und nur ihn und die Regierung banden. Formell sind solche Abkommen in der Verfassung nicht erwähnt, entsprechen aber der üblichen internationalen Praxis, dass Regierungen sich innerhalb ihrer jeweiligen eigenständigen Wirkungskreise untereinander verpflichten können. Drittens gibt es in neuerer Zeit Abkommen, die durch eine mittels gleichlautender Resolutionen in beiden Kammern des Kongresses erteilten Ermächtigung vom Präsidenten geschlossen und auch ratifiziert wurden. Die Zulässigkeit und der Stellenwert solcher Abkommen ist allerdings nicht geklärt, der Supreme Court scheint sie aber im allgemeinen zu tolerieren und den formellen Verträgen nach dem Wortlaut der Verfassung gleichzustellen.
Wie erwähnt hat der Präsident auch kein formelles Verordnungsrecht, wie es verschiedene europäische Verfassungen und auch das deutsche GG (teilweise mit Zustimmung des Bundesrates, in welchem Falle sich Verordnungen schon stark Gesetzen annähern); executive orders sind im Grunde Anweisungen an die mit deren Vollzug betrauten Organe der USA, wobei aber gleichwohl auch auf Dauer gültige Entscheidungen gefällt oder Regelungen getroffen werden können. Somit nähern sie sich in manchen Fällen Verordnungen an, ohne dass sie aber Verordnungen im eigentlichen Sinne darstellen (ein Phänomen, das uns schon im Honorarrecht der römischen Republik und später in den kaiserlichen Anweisungen begegnet).
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clovis
Veröffentlicht am Montag, 09. Oktober 2006 - 12:01 Uhr:   

Philipp Wälchli: "Der verfassungsrechtlichen Theorie nach müsste die deutsche Regierung mächtiger sein als der us-amerikanische Präsident, weil dessen Zuständigkeit wesentlich geringer ist (mehr Rechte und Aufgaben bei den Staaten) als die der deutschen Bundesregierung."

Das mag ja so sein, nur mit der kleinen Feinheit, dass diese größere Macht qua umfangreicherer Zuständigkeit eigendlich beim Parlament liegt und nicht bei der Regierung. Letztere ist im Grunde genommen nur ein Ausschuß des Parlamentes, der dessen Beschlüsse umsetzt.

Sie sagen ja selbst, dass Regierung und Parlament in parlamentarischen Demokratien "enger verzahnt" sind, was ja nichts anderes bedeutet, als dass legislative und exekutive Gewalt nicht sonderlich stark getrennt sind.

P.W: Kein reines Misstrauensvotum, sondern nur konstruktives Misstrauensvotum.

Das ist so nicht ganz richtig. Der Bundestag kann aus eigener Initiative nur ein konstruktives Mißtrauensvotum erreichen, das die Regierung sofort auswechselt. Wenn allerdings die Regierung eine Vertrauensfrage stellt, sind auch destruktive Mißtrauensvoten möglich.

Die Besonderheit der deutschen Verfassung liegt im Vergleich zu anderen parlamentarischen Verfassungen darin, dass die Regierung über besondere Maßnahmen verfügt bzw. besondere Vorkehrungen getroffen sind, die dazu gedacht sind, das Parlament zu disziplinieren, dennoch bleibt die Regierung völlig abhängig vom Parlament.

Ich bitte auch darum, meine Aussage, die amerikanische Exekutive, namentlich der Präsident dürfe alles, nicht allzu wörtlich zu verstehen. Mir ging es eher darum, erstens eine historische Perspektive einzunehmen und zweitens einen prinzipiellen Unterschied herauszuarbeiten.

Ich denke die angelsächsische Verfassungstradition beruht, beginnend mit der Magna Charta, darauf, dass einem zunächst in rechtlichem Sinne allmächtigen Herrscher bestimmte Grenzen seines Handelns vorgeschrieben werden. So ist auch die Mechanik der amerikanischen Verfassung. Sie definiert eine Zuständigkeit des Präsidenten - anfangs im Wesentlichen die Führung des Militärs und die Außenpolitik - setzt ihm aber keine Beschränkungen bei der Wahl der Ziele oder der Mittel. Das ist die Aufgabe des Parlamentes, das Gesetze beschließen kann und dadurch Einfluß nehmen kann, über das Budget auf die Ziele und über die Definition von Rechten, wie in der Bill of rights, auf die Mittel. Interessanter Weise hat dieses System die intrinsische Eigenschaft, dass es im Laufe der Zeit die Allmacht der Exekutive immer mehr einengt, weil das Parlament eben das tut, wozu es geschaffen wurde: Es beschließt Gesetze, die den tendenziellen Charakter haben, die Macht der Exekutive zu beschränken.

Ich meine auch, dass die deutsche Rechtsstaatstradition davon entscheidend abweicht. Hier braucht die Staatsmacht gesetzliche Ermächtigungen um handeln zu können. Philipp Wälchlis Verordnungsrecht der Bundesregierung verdeutlicht diesen Umstand. Dass die amerikanische Verfassung sowas nicht explizit erwähnt, bedeutet eben nicht, dass der Präsident keine Befehle geben kann. Im Gegenteil, der Präsident tut nichts anderes, als presitential orders an die ihm unterstellten Behörden zu erteilen. Die Bundesregierung benötigt im Gegensatz dazu ein explizit in der Verfassung verankertes Recht.

Interessanter Weise hat das deutsche Rechtsstaatsverständnis kontraintuitiv die eingebaute Eigenschaft, die Staatsmacht tendenziell im Laufe der Zeit zu stärken, weil die Tätigkeit der Legislative darin besteht, Zuständigkeiten der Staatsmacht zu definieren und zu konstituieren. Das kann, nicht nur theoretisch sondern tragischer Weise auch historische Wirklichkeit geworden, sogar soweit gehen, dass der Gesetzgeber die Exekutive pauschal ermächtigt, völlig willkürlich zu handeln, wie das der Reichstag 1933 mit Reichskanzler Hitler getan hat. Die Bundesrepublikanische Verfassung mußte besondere Vorkehrungen treffen, die soetwas verhindern.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Montag, 09. Oktober 2006 - 15:05 Uhr:   

Nun muss ich wieder einmal klar widersprechen:
Eine parlamentarische Regierungsform bedeutet nicht zwingend, dass das Parlament rechtlich oder faktisch der Regierung übergeordnet sei. Soweit ich weiss, ist dies in der verfassungsrechtlichen Theorie nur in den ehemaligen Sowjet-Staaten der Fall gewesen, wobei aber auch dort faktisch andere Stellen (Regierung bzw. Parteiführung) die Macht ausübten und die Parlamente eben nur dem Buchstaben nach oberstes Organ waren.
In der verfassungsrechtlichen Theorie gilt die unangetastete Souveränität nur des englischen Parlamentes, und zwar so weit sogar, dass Beschlüsse eines früheren Parlamentes das gegenwärtige nicht binden. Faktisch ist aber auch in England die Regierung stark und das Parlament mindestens faktisch gezwungen, frühere Beschlüsse wenigstens formell aufzuheben statt sich einfach darüber hinwegzusetzen.
In Deutschland ist aber nicht einmal die Theorie so: Bspw. liegt die Richtlinienkompetenz eindeutig und unstreitig beim Bundeskanzler, der Bundestag kann keine politischen Richtlinien setzen. Faktisch ist zudem bedeutsam, dass regelmässig der Parteiführer der stärksten Fraktion auch Kanzler wird und vorher schon Spitzenkandidat der Partei war, sich also alles auf ihn konzentriert. Im Kabinett treten dann meist auch die übrigen Schwergewichte der regierenden Parteien in Erscheinung, so dass allein schon die faktische Autorität der Personen der Regierung ein entsprechendes Gewicht gegenüber den Hinterbänklern im Parlament gibt. Das ist auch im "souveränen" englischen Parlament ähnlich.
Und schliesslich gilt auch nicht, dass die Bundesregierung nur eine Art "ausführender Ausschuss" des Bundestages sei, das GG gibt ihr ein ganz klar eigenes Profil und eigene Zuständigkeit.

Auch was das Misstrauensvotum angeht, muss ich korrigieren: Der Kanzler (und nur er) kann die Vertrauensfrage stellen. Das ist aber eben kein Misstrauensvotum des Parlamentes. Es kann darauf nur reagieren. Verweigert es das Vertrauen, so muss rein gar nichts geschehen. Der Kanzler hat wiederum die Möglichkeit, etwa den Gesetzgebungsnotstand beim Bundespräsidenten zu verlangen oder eine Neuwahl zu fordern. Der Bundestag bleibt passiv; will er, dass eine verpatzte Vertrauensabstimmung Folgen hat, so muss er aus seiner Mitte ein konstruktives Misstrauensvotum einbringen und dieses mit Mitgliedermehrheit annehmen.

Auch in Sachen Rechtsstaatlichkeit sehe ich keine so klaren Fronten: Beispielsweise ist der gerichtliche Instanzenzug in den USA viel weiter ausgebaut als in Deutschland. In den USA kann man fast gegen alles klagen, in Deutschland eigentlich nur dann, wenn es dafür einen gesetzlichen Klagegrund bzw. eine Klagemöglichkeit gibt. Im angelsächsischen Rechtsbereich gibt es ohnehin die Tradition, bei Bedarf frei neue Klagemöglichkeiten formulieren zu können, was dem europäischen Recht fremd ist. Etwa auch in Bereichen wie Datenschutz oder Bürgerpflichten ist der Argwohn in den USA stets grösser als in Europa und namentlich in Deutschland. Für einen Ausländer, der in einer anderen Mentalität gross geworden ist, erscheint Deutschland sogar als ausgesprochen obrigkeitlicher Staat.
Wenn man es auf eine einfache Formel bringen will, dann bedeutet Rechsstaat in den USA vielleicht am ehesten, dass Bürger und Staat einander gegenüberstehen und ihre jeweilige Stellung durch Recht abgrenzen; in Deutschland hingegen bedeutet Rechtsstaat eher, dass Recht geschieht, gleichgültig, welcher Seite es weh tut.
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clovis
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Oktober 2006 - 09:08 Uhr:   

Guten Morgen!

Philipp Wälchli, die Richtlinienkompetenz besagt doch nicht mehr, als dass der Bundeskanzler gegenüber den einzelnen Ressortministern Weisungsbefugt ist, oder?

Das ändert aber nichts daran, das der Kanzler das Vertrauen des Bundestages benötigt und das liegt aus meiner Sicht vor allem daran, dass der Handlungsspieraum der Regierung aufgrund der Rechtsweggarantie und des Rechtsstaatsprinzips ohne gesetzliche Ermächtigung äußerst begrenzt ist. Ohne Kooperation des Parlamentes, kann die Regierung nicht viel mehr tun, als die Gummibäumchen in ihren Büros zu begießen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit,
Clovis
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Oktober 2006 - 10:43 Uhr:   

Und wie steht es in den USA? Schon mal die hinteren Teile des Grundgesetzes gelesen?
In den USA kann der Präsident noch nicht mal ein Gummibäumchen ins Oval Office stellen, ohne den Segen des Kongresses zu haben. Falls dieser nicht rechtzeitig das Budget absegnet, müssen die Bundesangestellten in unbezahlten Zwangsurlaub gehen. (Ist übrigens schon vorgekommen!)
Dagegen hat die Bundesregierung in Deutschland eben gerade im Grundgesetz verbriefte Rechte, die sie mehr oder weniger unabhängig vom Parlament ausüben kann. Wie bereits erwähnt kann sie u. U. den Bundestag auch schlicht aushebeln, wenn der Bundesrat mitmacht. Einmal eingesetzt, kriegt man einen Kanzler auch schwer wieder weg. Die Unabhängigkeit der Regierung vom Parlament ist in Deutschland für ein parlamentarisches Regierungssystem erstaunlich gross.
Einen wesentlichen Unterschied im Verständnis von "Regierung" zwischen den USA und Deutschland kann man gleichwohl ausmachen, und zwar dürfte auffallen, dass in Deutschland "Regieren" stark mit "Verwalten" assoziiert wird, in den USA hingegen nicht. Das hat aber nichts mit der grundsätzlichen Stellung der Regierung im politischen System zu tun, sondern damit, wie eben die Staatstätigkeit faktisch gewachsen ist: In den USA sind Aussenpolitik, Verteidigung und Sicherheit immer noch die Hauptposten der Bundesregierung (um das, was die Haupttätigkeit der Verwaltung ausmacht, kümmern sich ohnehin in den USA die Einzelstaaten). Der Staat unterhält in den USA tendentiell weniger öffentliche Werke und erbringt weniger Leistungen auf dem Gebiet des Sozialen und der "öffentlichen Dienstleistungen" als in Europa und namentlich in Deutschland. Wo solches der Staat erledigt, greifen zudem meist selbständige Anstalten, die der Regierungs- und Parlamentskontrolle nicht direkt unterstehen, und Kommissionen als Aufsichts- oder Verwaltungsorgane ein. Die staatliche Kontrolle beschränkt sich dann hauptsächlich auf die Wahl dieser Kommissionen, die dann ihrerseits vor wichtigen Entscheiden Hearings durchführen usw., was wiederum den unmittelbaren Einfluss der staatlichen Stellen im engeren Sinne schmälert.
In Europa generell ist die Staatstätigkeit grösser, es werden mehr öffentliche Werke und Dienstleistungen, vor allem auch die grossen sozialen Verischerungssysteme, vom Staat selbst betrieben, und zwar meist ohne Zwischenschaltung intermediärer Stellen wie unabhängiger Kommissionen, selbständiger Anstalten usw. Und diese Werke und Leistungen müssen dann natürlich von einem Amt oder Ministerium verwaltet werden. Daher wird automatisch "Regieren" stark als "Verwalten" wahrgenommen und prägt teilweise auch das Verhalten der Akteure.

Dass Regierungen ohne die Mitwirkung der Parlamente verhältnismässig machtlos sind, sollte im übrigen in jedem rechtsstaatlich verfassten Land die Regel sein. Man vergleiche nur einmal die Literatur zum französischen Staatswesen: In älteren Publikationen wird noch ziemlich vollmundig von einem "Präsidialsystem" gesprochen; seit den verschiedenen Cohabitations werden Begriffe wie "Semipräsidentielles System" u. dgl. gewälzt. Dies hat seinen Grund darin, dass inzwischen auch die Herren Staatsrechtler begriffen haben, dass der vermeintlich allmächtige Präsident auch in Frankreich nicht gegen eine Parlamentsmehrheit regieren kann. Auch in der Schweiz, die ein System völlig eigener Prägung hat, ist es auf Dauer nicht möglich, gegen das Parlament zu regieren. Weshalb sollte dies in Deutschland anders sein?
Man sehe sich nun aber einmal die erste Amtszeit von Präsident Bush jr. an: Im Repräsentantenhaus gibt es schon seit Clinton eine stabile republikanische Mehrheit. Im Senat hat aber während Bushs erster Amtszeit die Mehrheit aus verschiedenen Gründen hin und her gewechselt. Dabei ging es nur um einzelne Mandate und eine hauchdünne Mehrheit von 1 oder 2 Stimmen. Gleichwohl lässt sich rückblickend feststellen, dass Bush immer dann nicht mehr sehr viel durchbrachte, wenn eben die Senatsmehrheit auf die andere Seite gekippt war.
Weshalb sollte dies (Refrain) in Deutschland anders sein?
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clovis
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Oktober 2006 - 09:34 Uhr:   

Guten Tag!

Lieber Philipp Wälchli, wenn ich Ihren Beitrag dahingehend zusammenfassen darf, dass Sie in der Bundesregierung eine Schnittstelle zwischen Gesetzgeber und Verwaltungsapparat sehen, dann wären wir uns einig.

Ich möchte nur mal kurz daran erinnern, worüber wir hier diskutieren. Ralf Arnemann schrieb im ersten Beitrag dieses Stranges: "Leider ist die Gewaltenteilung im politischen Leben unseres Landes schon ziemlich runtergekommen - in Praxi sehen sich (Regierungs-)Fraktionen nicht als Teil des die Exekutive kontrollierenden Parlaments sondern als verlängerter Arm und Befehlsempfänger der Regierung.

Da klingt Ihre Analyse schon ganz anders. Ralf Arnemanns statement verkennt, dass es in der grundgesetzlichen Staatskonstruktion, anders als in der US-Amerikanischen, gar nicht die primäre Aufgabe des Bundestages ist, die Exekutive zu überwachen. Diese Aufgabe obliegt in erster Linie der Verwaltungs- sowie der allgemeinen Gerichtsbarkeit. Die Interessen von Bunderegierung und Bundestagsmehrheit sind eben zu eng verzahnt, als dass der Bundestag eine effektive Kontrollinstanz der Regierung sein könnte und das ist kein Bug sondern ein Feature des Systems.

Was nebenbei die USA betrifft, es mag zwar sein das der Präsident vom Congress ziemlich ausgebremst werden kann, umgekehrt kann aber auch der Präsident den Congress mit seinem Veto lahmlegen, eine Möglichkeit, für die es im deutschen System keinerlei Äquivalent gibt. Dort sind diese beiden Gewalten unabhängig genug voneinander konstituiert, um sich gegenseitig überwachen zu können.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit,
Clovis
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Korinthenk. (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Oktober 2006 - 17:06 Uhr:   

@ clovis:
"Was nebenbei die USA betrifft, es mag zwar sein das der Präsident vom Congress ziemlich ausgebremst werden kann, umgekehrt kann aber auch der Präsident den Congress mit seinem Veto lahmlegen, eine Möglichkeit, für die es im deutschen System keinerlei Äquivalent gibt. Dort sind diese beiden Gewalten unabhängig genug voneinander konstituiert, um sich gegenseitig überwachen zu können."

Doch, nach dem Grundgesetz gibt es für den zu einem Veto berechtigten Präsidenten sehr wohl ein Äquivalent, nämlich den Bundesrat. Der Bundesrat repräsentiert als Kammer der Landesregierungen die die Bundesgesetze ausführende Exekutive. Die Exekutive hat also auch nach dem Grundgesetz ein Veto-Recht ggü. der Legislative.

Im Übrigen widersprechen sich voneinander unabhängige Gewalten und gegenseitige Überwachung derselben: Um einander effektiv überwachen zu können ist vielmehr eine Gewaltenverschränkung notwendig. Deswegen sind sowohl das Grundgesetz als auch die US-amerikanische Bundesverfassung vom Gedanken der Gewaltenverschränkung durchdrungen. M. W. wird im angloamerikanischen Sprachgebrauch auch mehr von "checks and balances" (sic!) gesprochen als von "division" oder gar "separation of powers".
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Gast 3000 (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Oktober 2006 - 17:23 Uhr:   

Ich möchte Korinthenk. darin zustimmen, dass der Bundesrat als Organ der Exekutive in Deutschland die Aufgabe der Kontrolle der Legislative bisher übernommen hat. Daher bin ich mit der Föderalismusreform auch nicht sonderlich glücklich. In vielen Bereichen ist jetzt die Möglichkeit entfallen die Legislative zu kontrollieren, da der Bundesrat nicht mehr zustimmen muss.

Zum Thema Haushalt

Die Situation unterscheidet sich in beiden Ländern nicht so stark. Ohne Haushalt kann keine der Regierungen viel machen. Lediglich die default-Einstellung scheint anders zu sein. Während in Deutschland die konsumtiven Ausgaben weiterlaufen jedoch keine Investitionen getätigt werden können kann in den USA der Präsident offenbar gar kein Geld ausgeben.
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clovis
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Oktober 2006 - 18:48 Uhr:   

Guten Tag!

Korinthenk, die Bundesregierung, die sehr grob gesprochen das Äquivalent zum Präsidenten und seinem Kabinett ist, hat im Bundesrat nichts zu sagen.

Die Rolle des Bundesrat ist im übrigen gar nicht so anders, als die ursprüngliche Rolle des Senates in den USA. In der Urform der US-Amerikanischen Verfassung von 1789 wurden die Senatoren von den legislativen Vertretungen der Gliedstaaten gewählt. Bedenkt man, dass in Deutschland die Regierungen der Gliedstaaten nur "Ausschüsse der Landtage" sind - oder die Landtage Befehlsempfänger der Landesregierungen, je nach persönlichem Geschmack - dann war der Senat gar nicht so anders zusammengesetzt, als der Bundesrat, wobei der Senat im Gegensatz zum Bundesrat allen Bundesgesetzen zustimmen darf und muß.

Die Volkswahl des Senates kam relativ spät, erst 1913 und war mehr oder weniger dem Umstand geschuldet, dass viele Senatssitze wegen starker politischer Gegensätze in den Parlamenten der Gliedstaaten unbesetzt blieben. Man könnte durchaus die Meinung vertreten, das der jetzige Bundesrat mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hat. Koalitionsregierungen in den Ländern führen oft dazu, dass sich die Länder im Bundesrat enthalten müssen, was vergleichbar mit einem nicht besetzten Sitz im Senat wäre.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit,
Clovis
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Oktober 2006 - 23:24 Uhr:   

Es ist gewiss eine zutreffende Auffassung, die deutsche (und allgemeiner: die europäische) Sichtweise der Regierung als "Schnittstelle zwischen Gesetzgeber und Verwaltung" zu charakterisieren. Demgegenüber dürften sich die Regierungen im angelsächsischen Raum auch selbst stärker als Eekutive verstehen. Pikantes Detail am Rande: Dieser Tage stiess ich darauf, dass der Begriff der Exekutive an einer zentralen Stelle des Grundgesetzes erst später eingefügt wurde und den ursprünglichen Begriff "Verwaltung" ersetzte.

Ein paar Worte noch zum us-amerikanischen Senat: Es trifft gewiss zu, dass dieser ursprünglich ähnlich bestellt wurde wie der deutsche Bundesrat, obwohl der näherliegende Vergleich eigentlich zum österreichischen Bundesrat zu ziehen wäre, der nach wie vor durch die Landesparlamente beschickt wird. Das neue Wahlverfahren des US-Senats hat sogar, paradoxerweise, die Rolle der Gouverneure gestärkt, indem diese ersatzweise Senatoren ernennen, wenn Plätze vorzeitig frei werden. Solche temporary appointements gelten zwar nur bis zur Ersatzwahl durchs Volk, doch ist es weithin üblich, solche Ersatzwahlen erst zu einem ordentlichen Wahltermin durchzuführen und nicht eigens Nachwahlen anzusetzen, so dass schon mal zwei Jahre ins Land ziehen können, bis ein vom Gouverneur ernannter Senator sich der Volkswahl stellen muss - und dann tritt er mit Amtsbonus an. Gleichwohl ist der US-Senat etwas anderes als der deutsche Bundesrat: Der Senat ist eine zweite Parlamentskammer und dem Repräsentantenhaus in der Gesetzgebung völlig gleichgestellt. Die einzige Einschränkung betrifft Finanzgesetze, die nur im Repräsentantenhaus eingebracht werden können, was aber im übrigen die Stellung des Senats nicht beschneidet, da er auch dabei Änderungen vorschlagen und nicht überstimmt werden kann.
Der Senat entscheidet sodann allein, ohne Mitwirkung des Repräsentantenhauses, über die Ratifikation internationaler Verträge, ferner beurteilt er als Gericht Impeachement-Anklagen. An der Regierung ist er nicht direkt beteiligt, nur seine Aufgabe, über Ernennungen durch den Präsidenten zu entscheiden, kann er indirekt Einfluss aufs Regierungshandeln nehmen.
Der deutsche Bundesrat ist hingegen ein rein föderatives Organ, eine echte Ländervertretung, nur funktional kommt er in manchem einer zweiten Parlamentskammer gleich. Dem Bundestag gleichgestellt ist er nur bei Grundgesetzänderungen, in der Gesetzgebung sind seine Rechte deutlich geringer, soweit es sich nicht um Zustimmungsgesetze handelt, die an sich Materien betreffen, die in die Kompetenzen der Länder einschneiden; auch ein Einspruch des Bundesrates mit Zweidrittelmehrheit kann vom Bundestag noch überstimmt werden, wie übrigens auch das Veto des US-Präsidenten; daneben erfüllt der Bundesrat Aufgaben im Bereich des echten Regierungshandelns, etwa bei der Genehmigung allgemeiner Verwaltungsanweisungen, beim Bundeszwang usw., wobei aber auch wieder die Rechte der Länder betroffen sind. Seine Zuständigkeit im Rahmen des Gesetzgebungsnotstandes verweist ihn wiederum an die Regierung, stellt aber eigentlich eine Anomalie im übrigen System dar.
Somit kommt er, summarisch betrachtet, immer dort zum Einsatz, wo die Rechte der Länder mindestens prinzipiell betroffen sein können. Er ist aber weder echte Parlamentskammer noch Gerichtshof noch auch Bestätigungsorgan für Regierungsangestellte wie der US-Senat. Die Unterschiede zwischen beiden Organen überwiegen also deutlich.
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Korinthenk. (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Oktober 2006 - 13:28 Uhr:   

@ clovis:
"Korinthenk, die Bundesregierung, die sehr grob gesprochen das Äquivalent zum Präsidenten und seinem Kabinett ist, hat im Bundesrat nichts zu sagen."

Es ist ein weitverbreiteter Irrtum anzunehmen, die Bundesregierung sei die Exekutive für die Bundesgesetze. Dies ist in einigen Bereichen zwar tatsächlich der Fall, nämlich dort, wo die Bundesregierung die Bundesgesetze ausführt. Der Regelfall ist jedoch Art. 83 GG, nach dem die Länder die Bundesgesetze ausführen. Insoweit entspricht dem US-Präsidenten mit seinem Veto der deutsche Bundesrat mit seinen Einspruchs- und Zustimmungsbefugnissen im Gesetzgebungsverfahren. Dem US-Präsidenten entspricht insoweit nicht die Bundesregierung. Deshalb sind eigentlich die Landesregierungen/der Bundesrat die dem Bundestag als Legislative gegenüberstehende Exekutive. Das führt dazu, dass wir insofern auch in Deutschland - wie in den USA - eine von der Legislative unabhängige, da getrennte, Exekutive haben. Da es nach dem Grundgesetz aber eine Bundesregierung gibt, wird dieser offenbar die Rolle einer staatsleitenden Gubernative zugewiesen. Vielleicht wollte darauf auch Philipp Wälchli hinaus.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Oktober 2006 - 15:48 Uhr:   

Es ist aber auch nicht richtig zu behaupten, der Bundesrat sei die Exekutive der Bundesgesetze. Erstens gibt es Bundesgesetze, die voll und ganz durch den Bund und seine Organe vollzogen werden, zweitens hat der Bundesrat keinerlei echte exekutive Funktionen, denn diese liegen - drittens - bei den Länderregierungen, die viele (aber nicht alle) Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten oder im Auftrag des Bundes ausführen, viertens ist die Bundesregierung nicht völlig machtlos, sondern führt auch in den Bereichen, in denen die Länder Bundesgesetze selbständig vollziehen, die Oberaufsicht, kann Weisungen erlassen, ggf. gegen ein Land einschreiten usw. Fünftens wäre noch anzufügen, dass es auch Bundesgesetze gibt, die keiner staatlichen Vollziehung im engeren Sinne unterliegen, bspw. gilt dies fürs BGB, das im grossen und ganzen das Verhalten von Privaten untereinander regelt und das, wenn man von "Vollzug" sprechen will, eben nicht durch den Staat, sondern durch die privaten Akteure vollzogen wird; der Staat mischt sich nur in einigen heiklen Punkten ein, etwa bei solchen Angelegenheiten wie Handelsregistern, Grundbuchführung u. dgl., oder aber wenn ein privater Akteur eine Verletzung der Spielregeln des BGB beklagt und ein Gericht anruft - dann aber tritt nicht die Exekutive des Staates in Aktion, sondern die Judikative.
(Überhaupt hat die Judikative im deutschen Recht einen vergleichsweise weiten Zuständigkeitsbereich. Bspw. kann die Bundesregierung gegen ein Land enschreiten, das seine Pflichten gegen den Bund verletzt, bedarf dazu aber der Zustimmung des Bundesrates; gegen den Bundesratsentscheid kann aber ein Gericht angerufen werden.)
Mir will scheinen, dass der Bundesrat nicht eindeutig einem Bereich zugewiesen werden kann. Viel eher wäre er als eine Art Schaltstelle zwischen den Gewalten und zwischen den Ebenen anzusprechen. Als solches ist er ein typisch deutsches Organ, für das sich so schnell kein Vergleichsobjekt in andern Staaten finden lässt. Der US-Senat ist jedenfalls etwas ganz anderes.
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(Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Freitag, 19. Januar 2007 - 19:15 Uhr:   

Guten Tag!

Die Diskussion in diesem Strang drehte sich in den letzten Beiträgen um Fragen der Gewaltenteilung wobei überwiegend ein beschreibender Zugang gewählt wurde. Vielleicht besteht ja Interesse an einer systematischen Herangehensweise, die ich mal versuchen will.

Dabei möchte ich zunächst das Problem erörtern, wie man eine angemessene Kategorisierung staatlichen Handelns in Exekutive und Legislative vornehmen kann. Das scheint auf den ersten Blick völlig unproblematisch. Als klassisches Beispiel mag das Strafgesetzbuch dienen, dass den Bürgern des Staates bestimmte Handlungen verbietet und Zuwiderhandlungen mit Strafe bedroht. Die Formulierung dieser Liste erscheint dabei als natürliche legislative Aufgabe, während die Ermittlung von Straftaten und Tätern, sowie deren Ergreifung und Anklage eine exekutive Aufgabe darstellt.

Auf den zweiten Blick stellt es sich aber heraus das es eine breite Klasse von Gesetzen gibt, die nicht allen Bürgern Vorschriften machen, sondern solche, die nur den Agenten des Staates oder allgemein der Exekutive Richtlinien für ihre Vorgehensweise geben, was ja auch unter dem Aspekt der Rechtstaatlichkeit und Vermeidung behördlicher Willkür sinnvoll ist.

Es stellt sich aber aus meiner Sicht die Frage, ob die Formulierung und der Beschluß dieser zweiten Klasse von Gesetzen überhaupt eine genuin legislative Aufgabe ist, oder ob sie nicht sinnvoller Weise der Exekutive zuzurechnen wäre.

Im Rahmen monetärer Angelegenheiten, gibt es ebenfalls ein - wie ich meine - sehr plausibles Kriterium, mit dem legislatives und exekutives staatliches Handeln begrifflich schön zu scheiden ist. Wieviel Steuern die Bürger zu zahlen haben, wäre demnach eine legislative Aufgabe, während die Frage, wofür die Steuereinnahmen ausgegeben werden, von der Exekutive zu beantworten wäre.

Diese ganzen Vorüberlegungen wären relativ müßig, würde nicht dadurch die Idee nahegelegt, im Sinne der Gewaltenteilung bereits auf parlamentarischer Ebene eine Scheidung in Exekutive und Legislative vorzunehmen. Was mir vorschwebt, wäre ein bikammerales Parlament, in dem eine Kammer der Legislative im obigen Sinne zugeordnet wäre, die andere der Exekutive.

Zu den Aufgaben der Exekutiven Kammer würde die Wahl der Regierung gehören, die eine Art Ausschuss oder Exekutivkomitee dieser Kammer wäre, sowie die Beschlußfassung über die Verwaltungsgesetzgebung.

Allgemeine Gesetze, verstanden als Vorschriften, die alle Bürger betreffen, fielen dann in die Zuständigkeit der zweiten Kammer, die über den Hebel der Steuererhebung auch eine gewisse zusätzliche Kontrollfunktion über die Exekutive ausüben würde, ohne die Parlamentarische Kontrolle der Regierung innerhalb des Exekutiven Zweiges zu berühren.

Die Ausgangsmotivation für diese Idee, stellt die Beobachtung dar, dass moderne, demokratische Staaten die offenbar intrinsische Neigung haben, den Umfang staatlichen Handelns im Laufe der Zeit immer mehr zu erhöhen, was im Sinne eines wohlverstandenen Liberalismus durchaus den Wunsch nach Gegenvorkehrungen rechtfertigt. Die vorgeschlagene Konstruktion sollte die Eigenschaft haben, den politischen Prozess transparenter zu machen und so dem Bürger die Möglichkeit zu geben, seine Wahlentscheidung hinsichtlich dieser beiden durchaus unterschiedlichen Aspekte des Staates zu differenzieren. Verstärken könnte man Letzteres zum Beispiel durch feste, gleichlange Legislaturperioden, die eine Phasenverschiebung von einer halben Periode aufweisen, sowie durch unterschiedliche Wahlverfahren. Naheliegend wäre z.B. ein stark Mehrheitsbildendes Verfahren für die Exekutivkammer, z.B. Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, um der Forderung nach Handlungsfähigkeit des Staates Rechnung zu tragen, sowie ein Verhältniswahlrecht, ruhig auch ohne 5% Klauseln etc. für die Legislative Kammer.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit,
Clovis

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