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05.06.2015 (Update 10.11.2018)

Gefälschte Briefwahlstimmen bei der Hamburger Bürgerschaftswahl?

Bei der Bürgerschaftswahl am 15. Februar ist es im Hamburger Stadtteil Billstedt sehr wahrscheinlich zu erheblichen Wahlfälschungen gekommen. In den Billstedter Briefwahlbezirken erscheinen die Personenstimmergebnisse für Murat Gözay (Wahlkreisliste, Grüne) und Vahan Balayan (Landesliste, CDU) um jeweils mehr als 1.000 Stimmen gegenüber dem erhöht, was angesichts der Urnenwahlergebnisse noch als plausibel anzusehen wäre. Da jeder Wähler je fünf Stimmen für die Wahlkreis- und Landeslisten hat, dürfte es um Stimmzettel gehen, die im Namen von mutmaßlich rund zweihundert Wählern abgegeben wurden. Der Verdacht liegt nahe, dass diese Stimmzettel durch eine einzelne Person bzw. eine kleine Personengruppe ausgefüllt worden sein könnten. Bisher liegen uns aber keinerlei Hinweise dafür vor, dass die beiden Kandidaten von den zu ihren Gunsten begangenen Wahlfälschungen gewusst oder sie gar selbst herbeigeführt haben. Letztlich profitiert haben beide Kandidaten ohnehin nicht davon. Balayan hat trotzdem den Einzug in die Bürgerschaft verfehlt. Gözay hat zwar einen Wahlkreissitz gewonnen, dabei aber einen so großen Vorsprung erzielt, dass er wohl auch ohne die mutmaßlich gefälschten Stimmen gewählt worden wäre.

Bei Durchsicht der Ergebnisse der Bürgerschaftswahl vom 15. Februar waren wir über einige Auffälligkeiten bei der Briefwahl gestolpert:

1. Bei 281 von 282 Landeslistenbewerbern der in der nächsten Bürgerschaft vertretenen Parteien bewegt sich der Anteil der per Briefwahl für sie abgegebenen Personenstimmen an der Gesamtzahl ihrer Personenstimmen zwischen 18,3 % und 57,7 %, wobei alle Werte über 53 % von Bewerbern erreicht wurden, die insgesamt nur sehr wenige (maximal 698) Personenstimmen erhalten haben. Einzig und allein der Bewerber Vahan Balayan (CDU, Platz 41) sticht mit einem Briefwahlanteil von 72 % deutlich aus der Masse hervor. Auf Balayan entfielen nach dem endgültigen Ergebnis 3.754 Personenstimmen, davon 1.054 per Urnenwahl und 2.700 per Briefwahl.

2. Besonders auffällig ist Balayans Ergebnis im Stadtteil Billstedt. Bei der Urnenwahl erhielt Balayan 166 (4,5 %) der auf die CDU-Landeslistenbewerber entfallenen 3.730 Personenstimmen, bei der Briefwahl hingegen 1.362 (40,0 % von 3.404). Ebenfalls in dieser Hinsicht auffällig, wenn auch in deutlich geringerem Maße, ist der Stadtteil Wilhelmsburg.

3. Bei den Wahlkreisstimmen in Billstedt fällt auf, dass Murat Gözay (Grüne, Platz 1) nach dem Ergebnis der Urnenwahl mit 2.232 Personenstimmen etwas schwächer als bei der Bürgerschaftswahl 2011 (2.357) abschneidet, während er sich in den Briefwahlbezirken von 576 auf 2.243 Personenstimmen steigern kann.

Fünf Tage nach der Wahl, am 20. Februar, informierten wir den Landeswahlleiter per E-Mail über unseren Verdacht. Wir regten an, die in den Billstedter Briefwahlbezirken eingenommenen Wahlscheine erneut durchsehen und auf ähnlich aussehende Unterschriften untersuchen zu lassen. (Auf dem Wahlschein – nicht zu verwechseln mit dem Stimmzettel – muss man als Briefwähler eidesstattlich versichern, den Stimmzettel persönlich ausgefüllt zu haben.) Die daraufhin vom Bezirksamt Hamburg-Mitte durchgeführten Nachforschungen haben den Verdacht erhärtet, dass es tatsächlich zu Manipulationen gekommen sein könnte. Am 25. Februar teilte uns der Landeswahlleiter mit, dass die Angelegenheit der Polizei übergeben wurde.

Um etwaigen Verdunkelungshandlungen der Täter keinen Vorschub zu leisten, haben wir diesen Sachverhalt seitdem nicht öffentlich gemacht. Allerdings endete am 15. April die Einspruchsfrist gegen die Gültigkeit der Bürgerschaftswahl. Da eine Mandatsrelevanz vor der Beendigung polizeilicher Ermittlungen nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, haben wir, um vonseiten der Wahlberechtigten eine Korrektur des Wahlergebnisses der Bürgerschaftswahl im Rahmen der Wahlprüfung zu ermöglichen, am letztmöglichen Tag Einspruch gegen das Wahlergebnis eingelegt.

Wie uns die Bürgerschaft nun mit Schreiben vom 29. Mai mitteilt, hat der Landeswahlleiter zu unserem Wahleinspruch die folgende Stellungnahme abgegeben:

„Eine Überprüfung der Unterschriften auf den Wahlscheinen in den betreffenden Briefwahlbezirken hat einen Anhaltspunkt für eine mögliche Manipulation in mehreren Fällen gegeben. Die Fälle wurden wegen des Verdachts einer Wahlstraftat an die Polizei gegeben. Es ist abzuwarten, ob nach dem Ergebnis der Ermittlungen der objektive Tatbestand einer in § 5 Abs. 1 Nr. 3 Wahlprüfungsgesetz genannten Wahlstraftat erfüllt ist."

Anscheinend erst aufgrund dieser Stellungnahme des Landeswahlleiters wurde in der Bürgerschaft die Brisanz des Vorgangs erkannt. Jedenfalls hat man die Angelegenheit der BILD-Zeitung zugespielt, die uns gestern per E-Mail anschrieb und um Rückruf bat. Ein Öffentlichwerden des Vorgangs dürfte daher unmittelbar bevorstehen, so dass wir keinen Grund mehr sehen, unsere Erkenntnisse für uns zu behalten.

Übrigens passieren Briefwahl-Manipulationen in Deutschland häufiger als viele Menschen denken. Allein bei den Kommunalwahlen im letzten Jahr wurden mehrere schwerwiegende Fälle aufgedeckt, unter anderem in Stendal und Geiselhöring. Auch Deutschlands größter bekannt gewordener Wahlfälschungsskandal in Dachau beruhte auf manipulierten Briefwahlstimmen. Besonders gefährdet sind Wahlen, bei denen die Aussicht besteht, bereits mit relativ wenigen manipulierten Stimmen Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen zu können.

Nachtrag (07.06.2015): Tatsächlich erschien in der Hamburg-Ausgabe der Bild-Zeitung vom 5. Juni der erwartete Artikel (gefolgt von einem weiteren tags darauf). In einem Bericht der Zeitung Die Welt ist die Rede von „50 gefälschten Briefwahlstimmen“. Der Leiter des Landeswahlamtes wird mit folgender Aussage zitiert: „Bei der Prüfung von allen Wahlscheinen aus den betreffenden Briefwahlbezirken wurde festgestellt, dass rund 50 Wahlscheine nicht von der jeweils wahlberechtigten Person unterschrieben worden sein könnten.“ Bei rund 50 Wahlscheinen wurde also anscheinend so plump vorgegangen, dass die Unterschriften auch ohne Unterschriftenabgleich als gefälscht zu erkennen sind. Das bedeutet natürlich noch lange nicht, dass die übrigen Wahlscheine tatsächlich von den betroffenen Wahlberechtigten ausgefüllt wurden. Aufgrund der oben genannten Personenstimmergebnisse gehen wir weiterhin davon aus, dass jeweils über tausend Wahlkreis- und Landesstimmen von der Wahlfälschung betroffen sind, also mindestens 200 Wahlscheine –  und das ist noch sehr zurückhaltend geschätzt.

2. Nachtrag (17.12.2017): Laut Bild-Zeitung steht im Mittelpunkt der Ermittlungen ein 23-Jähriger, der als Wahlkampfkoordinator für die Grünen im Einsatz gewesen sei. Aus Kreisen der Hamburger Grünen haben wir erfahren, dass er nicht für den grünen Kreis- oder Landesverband gearbeitet habe, sondern nur für einen einzelnen (nicht namentlich genannten) grünen Kandidaten. Er soll laut Bild-Zeitung diverse Personen dazu veranlasst haben, Briefwahlunterlagen zu beantragen, dann in 50 Fällen die Unterlagen einkassiert und allein oder mit anderen ausgefüllt haben. Die Staatsanwaltschaft hat den Angaben zufolge bisher rund 80 Zeugen gehört, viele von ihnen seien zuvor der polizeilichen Ladung nicht gefolgt.

3. Nachtrag (21.10.2018): Die Welt hat in dieser Woche berichtet, dass die Staatsanwaltschaft gegen den Tatverdächtigen einen Strafbefehl über ein Jahr Freiheitstrafe auf Bewährung beantragt habe: „Der damals 20-Jährige soll zahlreiche Bekannte angestiftet haben, ihm ihre Briefwahlunterlagen unausgefüllt zu überlassen. Er selbst soll dann das Kreuz mutmaßlich bei einem grünen Kandidaten gemacht und auch die Unterschrift des Wahlberechtigten gefälscht haben. In anderen Fällen soll er Wähler angeleitet haben, wie sie die Unterlagen ausfüllen sollten. Laut des Gerichtssprechers soll es die Staatsanwaltschaft als erwiesen ansehen, dass 30 Briefwahldokumente auf diese Weise gefälscht wurden.“ Die Strafverfolgungsbehörden brauchten somit dreieinhalb Jahre, um ihre Ermittlungen nach unserem Hinweis im Februar 2015 abzuschließen. Wir halten derweil an unserer Einschätzung fest, dass es mindestens 200 Briefwahlunterlagen gewesen sein müssen, bei denen die ungewöhnliche Kombination aus Wahlkreisstimme für Gözay (GRÜNE) und Landesstimme für Balayan (CDU) angekreuzt wurde. Die Frage ist, ob hierbei legale Einwirkungsmöglichkeiten auf die Wähler genutzt wurden oder ob der Verdacht weiterer Wahlfälschungs-Fälle im Raume stehen bleibt.

4. Nachtrag (10.11.2018): In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage teilt der hamburgische Senat mit: „Ob die Bezeichnung „Wahlkampfkoordinator“, die der Beschuldigte nach derzeitigem Stand der Ermittlungen auf seiner Visitenkarte verwendete, auf einer entsprechenden Funktion in der Partei Bündnis 90/Die Grünen beruhte, ist der Staatsanwaltschaft nicht bekannt.“

Stand des Verfahrens (9. Mai 2016)


von Wilko Zicht (05.06.2015, letzte Aktualisierung: 21.10.2018, letzte Aktualisierung des Verfahrensstandes: 09.05.2016)