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01.01.2013

Rückblick 2012 …

Das Jahr 2012 hätte ursprünglich ein Jahr ohne Wahlen auf Bundes- und Landesebene sein sollen. Denn unter Berücksichtigung ordentlicher Wahltermine stand eigentlich keine Wahl an. Vor allem das erste Halbjahr 2012 hatten dann aber doch so einiges zu bieten, insbesondere drei vorgezogene Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Dazu wurde der Gesetzgeber auf Trab gehalten durch mehrere Wahlrechtsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, vor allem durch die von Wahlrecht.de mitinitiierte Bürgerklage gegen Überhangmandate und negatives Stimmgewicht (NSG). Das hielt den Gesetzgeber aber nicht davon ab, den Rechtsschutz in Wahlangelegenheiten zu verbessern. Wie unser Ausblick zeigt, verspricht auch das Jahr 2013 interessante Wahlen und Wahlrechtsthemen.

Bundeswahlgesetz: We fought the law and we won

Nachdem der Bundestag im Jahr 2011 das Bundeswahlgesetz in fast jeder Hinsicht noch einmal verschlechtert hatte und sich das Inkrafttreten bis Dezember 2011 verzögerte, lagen nur wenige Tage danach drei Klagen auf dem Tisch der Verfassungsrichter in Karlsruhe. Eine Normenkontrollklage der Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen, ein Organstreitverfahren der Partei Bündnis 90/Die Grünen und eine Verfassungsbeschwerde von mehreren Tausend Bürgern, gemeinsam initiiert von Mehr Demokratie e. V. und Wahlrecht.de. Nachdem die Vertreter von Bundestag und Bundesregierung noch einmal Stellungnahmen abgeben durften und die Kläger darauf regieren konnten, wurde für den 5. Juni 2012 eine mündliche Verhandlung angesetzt. Mit dem Urteil vom 25. Juli 2012 wurden die bemängelten Regelungen gekippt und das Bundeswahlgesetz ist seitdem unanwendbar. An dieser Stelle einen großen Dank allen Unterstützern – Ihr alle habt gewonnen!

Nun liegt der Ball wieder bei der Politik. Schnell wurde bei den interfraktionellen Beratungen klar, dass Modelle mit einer spürbaren partei-internen Verrechnung von Überhangmandaten angesichts der Ablehnung durch die mutmaßlich betroffenen Landesgruppen von CDU/CSU und SPD keine Chance haben, im Bundestag eine Mehrheit zu finden. An eine Wahlkreisreform war angesichts des Umstands, dass die Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen längst begonnen hatte, ebenfalls nicht mehr zu denken. Nach zaghaften Versuchen seitens des Verhandlungsführers der Union, ein Wahlsystem zu kreieren, das möglichst dicht an die vom Bundesverfassungsgericht für tolerabel erklärte Grenze von 15 unausgeglichenen Überhangmandaten geht, verständigten sich die Parteien dann doch auf eine vollständige Ausgleichslösung. Letztlich bedeutet der Kompromiss im Wesentlichen eine Einigung auf den ursprünglichen Vorschlag der SPD-Fraktion, in dem NSG-ähnliche Effekte ohnehin nur noch im Rahmen der unvermeidlichen Rundungsabweichungen aufträten – allerdings ergänzt um eine kuriose Pseudo-Sitzverteilung, die lediglich der Bestimmung der Hausgröße des Bundestags dient und das Vorkommen von negativem Stimmgewicht verhindern soll. Unausgeglichenen Überhang wird es 2013 jedenfalls nicht mehr geben, so dass systematisches Stimmensplitting oder gar wahlstrategische Spaltungsüberlegungen von Parteien, über die wir am 1. April „berichten“ konnten, nicht mehr erforderlich sind.

Am 14. Dezember 2012 wurden zwei Gesetzentwürfe vom Bundestag in erster Lesung behandelt: der erwähnte gemeinsame Entwurf der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/DIE GRÜNEN sowie ein Gegenentwurf der Fraktion DIE LINKE, der eine vollständige partei-interne Verrechnung von Überhangmandaten mit Listensitzen der nicht-überhängenden Landesverbände vorsieht und erst bei externen Überhangmandaten auf Ausgleichsmandate ausweicht.

Wahlen 2012 – mehr als erwartet

Immerhin drei Landtagswahlen gab es in der ersten Jahreshälfte: Am 25. März 2012 fand die vorgezogene Landtagswahl im Saarland statt, am 6. Mai 2012 die Landtagswahl in Schleswig-Holstein und am 13. Mai 2012 die vorgezogene Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. In allen drei Ländern gelang der Piratenpartei souverän der Einzug ins Landesparlament.

Im Saarland lagen die Grünen nur 197 Stimmen über der Fünfprozenthürde, so dass – aufgrund der kleinen Landtagsgröße und dem verwendeten Zuteilungsverfahren d’Hondt – ganze zwei Abgeordnete nun die kleinste Landtagsfraktion in Deutschland bilden. Und sich prompt darüber stritten, wer von beiden den Fraktionsvorsitz übernimmt.

Bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein, die stattfinden musste, weil bei der Wahl 2009 durch Überhang- und Ausgleichsmandate über ein Drittel mehr Sitze verteilt wurden als es die Landesverfassung vorsah, gab es diesmal keine Überhangmandate mehr, obwohl die Verfassung zuvor extra geändert wurde, um auch höhere Sitzzahlen zuzulassen. Allerdings sind alle Mandate der CDU Direktmandate, so dass weder der CDU-Spitzenkandidat Jost de Jager noch der bisherige Landtagspräsident Torsten Geerdts in den neuen Landtag gewählt wurden.

Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen führte zu so vielen Überhang- und Ausgleichsmandaten wie niemals zuvor (56) und demonstrierte die Grenzen der personalisierten Verhältniswahl mit Einpersonenwahlkreisen. Bei der SPD als stärksten Partei waren alle Abgeordneten im Wahlkreis gewählt. Der bisherige Fraktionsschef Norbert Römer kam somit erst als Nachrücker für Karl-Heinz Krems in den Landtag, der „überraschend“ Staatssekretär im Justizministerium wurde. Und noch eine Paradoxie: Wenn alle SPD-Zweitstimmen ungültig gewesen wären, dann hätte die SPD mit 99 von 181 Sitzen die absolute Mehrheit der Sitze erzielt.

Am 17. Februar trat Bundespräsident Christian Wulff, der gerade eineinhalb Jahre im Amt war, zurück. Die Neuwahl des Bundespräsidenten fand am 18. März 2012 statt. Bereits im ersten Wahlgang wurde Joachim Gauck zum Bundespräsident gewählt. Der traditionelle Wahltermin am sogenannten Verfassungstag, dem 23. Mai, mit anschließendem Amtsantritt am 1. Juli ist nun bis auf weiteres nicht mehr möglich.

In Duisburg gab es das erste, erfolgreich von Bürgern initiierte Abwahlverfahren gegen einen Oberbürgermeister in Nordrhein-Westfalen. Mit Abwahl und zwei Wahlgängen für die Neuwahl des Bürgermeisters durften die Duisburger zusätzlich zur Landtagswahl dreimal zur Wahlurne schreiten, bei der Stichwahl am 1. Juli haben dann auch nur noch 25,7 % der Wahlberechtigen von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht.

Nachdem in Dortmund der Widerstand gegen eine Wiederholung der Kommunalwahl vom Bundesverwaltungsgericht abgewiesen wurde, fanden am 26. August 2012 Wiederholungswahlen für den Rat und die restlichen Bezirksvertretungen statt. Einen Teil der Wahlkosten mussten mit jeweils rund 30.000 EUR der ehemalige Oberbürgermeister und die ehemalige Stadtkämmerin übernehmen, weil sie nach Ansicht des Oberwaltungsgerichts eine amtliche Fehlinformation mit Auswirkung auf den Wahlausgang gegeben hatten. Zugelassen waren nur die Parteien, die schon bei der Wahl 2009 mit Wahlvorschlägen angetreten waren. Die Piratenpartei durfte daher nur zuschauen.

Bei einer Nachwahl in einem Wahlbezirk im nordrhein-westfälischen Marl konnten die Auswirkungen von dem negativen Stimmgewicht ähnlichen Effekten auf Wahlverhalten und Wahlergebnis beobachtet werden: Eine Partei verlor praktisch alle Stimmen, erhielt einen Sitz mehr, und zur Landtagswahl eine Woche später waren die Wähler alle wieder da.

Die Präsidentschaftswahl in den USA ergab eine klare Mehrheit für eine Wiederwahl Barack Obamas.

Rechtsprechung/Wahlprüfung

Auch neben der wichtigen Bürgerklage gab es einige interessante Wahlprüfungsentscheidungen:

Wahlprüfung der Bundestagswahl 2009

Nur wenige Worte verlor das Bundesverfassungsgericht zur Wahlprüfungsbeschwerde der Freien Union. Deren Nichtzulassung zur Bundestagswahl war hoch umstritten und führte bei der Abstimmung im Bundeswahlausschuss am 6. August 2009 zu einem 4:4-Patt, das der Bundeswahlleiter mit seiner entscheidenden Stimme zu Ungunsten der Freien Union auflöste. Dessen ungeachtet stellte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 31. Januar 2012 einstimmig lapidar fest, dass die bayerische Landesliste der Freien Union „nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprach und der Landeswahlausschuss für den Freistaat Bayern die Landesliste deshalb zu Recht zurückgewiesen“ habe.

Mit Beschluss vom gleichen Tage gab das Gericht dem Gesetzgeber neue Hausaufgaben in Sachen Wahlkreiseinteilung auf: In Zukunft muss der Bundestag bei der Einteilung der Wahlkreise den Anteil der Minderjährigen an der Bevölkerung in den Blick nehmen. Bisher wird die Wahlkreiseinteilung auf Grundlage der Gesamtbevölkerung mit deutscher Staatsangehörigkeit vorgenommen. Weil minderjährige Deutsche aber gar nicht wahlberechtigt sind, muss der Gesetzgeber künftig sowohl bei der Verteilung der Wahlkreise auf die Ländern als auch bei der Wahlkreiseinteilung innerhalb der Ländern aufpassen, dass die Aufteilung nicht durch eine ungleiche Verteilung der minderjährigen Bevölkerung verzerrt wird.

Auch das Wahlrecht der Auslandsdeutschen muss reformiert werden. Nur den Auslandsdeutschen, die nie in der Bundesrepublik Deutschland gewohnt haben, das aktive Wahlrecht zu verweigern, ist nicht mehr statthaft. So hat es der Zweite Senat am 4. Juli entschieden und sich darin auch nicht von einem beeindruckenden Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff umstimmen lassen. Unmittelbare Folge der Entscheidung ist allerdings, dass derzeit gar kein Auslandsdeutscher mehr das aktive Wahlrecht hat. Das mag angesichts eines ohnehin nicht anwendbaren Bundeswahlgesetzes verschmerzbar sein, allerdings dürfen Auslandsdeutsche somit auch bei den zurzeit zahlreich stattfindenden Aufstellungsversammlungen nicht aktiv teilnehmen.

Die Bundesregierung hat inzwischen zu den Prüfbitten Bericht erstattet, die der Bundestag auf Vorschlag des Wahlprüfungsausschusses beschlossen hatte. Zum Problem der Wahllokale in kameraüberwachten Räumen hält die Bundesregierung ein Verbot, solche Räume als Wahlraum zu verwenden, für nicht erforderlich. Die gegenwärtige Rechtslage garantiere schon in vollem Umfang die Einhaltung des Wahlgeheimnisses, allerdings „sollen die Gemeindebehörden vor der nächsten Wahl auf die gebotenen Maßnahmen in Wahlräumen mit Überwachungstechnik erneut hingewiesen werden“.

Dortmund ohne Piraten

Die Piratenpartei hatte eine Verfassungsbeschwerde vor der Kommunalwahl in Dortmund erhoben, da sie bei der Wiederholungswahl im August nicht teilnehmen durfte. Zur Wahl 2009 hatten die Piraten noch keine eigenen Wahlvorschläge. Das Bundesverfassungsgericht hat die Beschwerde nicht angenommen und im Beschluss vom 8. August 2012 auf die „Möglichkeit, den Beschluss des Landeswahlausschusses nach der Wahl in einem Wahlprüfungsverfahren gerichtlich überprüfen zu lassen“, verwiesen. Auf diese Möglichkeit haben die Piraten allerdings verzichtet. Zur Wiederholungswahl in Dortmund gab es erstaunlicherweise überhaupt keine Einsprüche.

Landtagswahlkreise

Zwei Landesverfassungsgerichte hatten sich mit Klagen gegen die Wahlkreiseinteilung bei Landtagswahlen zu befassen. In beiden Fällen blieben die Kläger erfolglos: Der baden-württembergische Staatsgerichtshof erklärte am 22. Mai den Neuzuschnitt der Wahlkreise Schwäbisch-Gmünd und Aalen für rechtmäßig, der Bayerische Verfassungsgerichtshof gab am 4. Oktober der neuen Stimmkreiseinteilung in Oberfranken und Oberpfalz, insbesondere dem Stimmkreis Wunsiedel-Kulmbach, seinen Segen.

Gesetzgebung

Nachdem im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 offenkundig wurde, dass der Rechtsschutz in Wahlsachen große Defizite aufweist, hat sich der Bundestag auf Initiative von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen zu vier konkreten Verbesserungen aufgerafft:

  1. Verweigert der Bundeswahlausschuss einer Vereinigung die Anerkennung als Partei, so dass sie an der Wahl nicht teilnehmen kann, hat die betroffenen Vereinigung nun die Möglichkeit, innerhalb von vier Tagen nach der Entscheidung des Bundeswahlausschusses das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Bislang konnte sie in diesem Fall erst nach der Wahl im Wahlprüfungsverfahren Rechtschutz ersuchen. Für diesen neuen Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht wurde sogar das Grundgesetz geändert.
  2. Einzelne Wahlberechtigte, die zu Unrecht um ihr Wahlrecht gebracht wurden und dagegen Einspruch erhoben, erhielten vom Bundestag bisher selbst dann, wenn sie im Recht waren, immer die gleiche Antwort: Der Einspruch wird als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Denn bisher konnten Wahleinsprüche nur dann erfolgreich sein, wenn sich der behauptete Wahlfehler auf die Sitzverteilung im Bundestag ausgewirkt haben könnte. Künftig hat der Bundestag die Möglichkeit, solchen Einsprüchen ohne Mandatsrelevanz stattzugeben, indem er die Rechtsverletzung in der Entscheidungsformel feststellt.
  3. Im Bundeswahlausschuss sitzen künftig zusätzlich zu den acht Parteienvertretern auch zwei Richter des Bundesverwaltungsgerichts, in den Landeswahlausschüssen zwei Richter des Oberverwaltungsgerichts des jeweiligen Landes.
  4. Das Erfordernis, bei der Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht mindestens 100  Unterstützungsunterschriften vorzulegen (Beitrittserfordernis), entfällt künftig – auch einzelne Wahlberechtigte sollen ihr Recht durchsetzen können. Diese Änderung wird voraussichtlich zu einem deutlichen Anstieg der Zahl der Wahlprüfungsbeschwerden führen. Anders als bei Verfassungsbeschwerden können Wahlprüfungsbeschwerden auch weiterhin nicht von einer aus drei Richtern bestehenden Kammer abgelehnt werden, sondern stets nur durch alle acht Richter des Zweiten Senats. Wie das erwähnte Beispiel der Freien Union zeigt, macht der Senat dabei aber großzügig von der Möglichkeit Gebrauch, unzulässige oder offensichtlich unbegründete Beschwerden einstimmig ohne nähere Begründung verwerfen zu können.

Um das Wahlrecht von im Ausland lebenden Deutschen wieder auf eine verfassungsmäßige Grundlage zu stellen, haben alle Bundestagsfraktionen – diesmal einschließlich der Linken – einen gemeinsamen Entwurf vorgelegt, der das Wahlrecht für Auslandsdeutsche gegenüber der bisher geltenden Regelung teilweise einschränkt, teilweise aber auch erweitert. Kein Wahlrecht mehr haben künftig Auslandsdeutsche, wenn sie zwar drei Monate ununterbrochen in Deutschland gelebt haben, dies aber schon über 25 Jahre her ist oder sie zu jener Zeit noch nicht mindestens 14 Jahre alt waren. Hingegen sollen künftig auch Auslandsdeutsche unabhängig davon, ob sie früher einmal in Deutschland gelebt haben, wahlberechtigt sein, „sofern sie aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind.“

… und Ausblick auf das Jahr 2013

Das Wahljahr 2013

Im nächsten Jahr werden die Bundestagswahl und drei reguläre Landtagswahlen stattfinden. Den Anfang macht Niedersachsen am 20. Januar 2013. Die weiteren Wahltermine stehen noch nicht fest bzw. werden sogar noch heiß diskutiert. Im Januar wird der Bundespräsident den Termin der Bundestagswahl bestimmen. Wahrscheinlichster Termin aufgrund der Ferienzeiten in den Ländern ist der 22. September. Die Staatsregierung in Bayern wird sich bei der Festsetzung des Termins der dortigen Landtagswahl danach richten. Zurzeit wird zwar noch der 15. September 2013 angestrebt, doch eigentlich wünscht sich die Staatsregierung einen Abstand von mindestens zwei Wochen vor der Bundestagswahl. Mit einiger Sicherheit auszuschließen ist ein gemeinsamer Wahltermin mit der Bundestagswahl, wie es die Opposition fordert. Zeitgleich mit der Land- und Bezirkstagswahl wird es voraussichtlich fünf Volksentscheide geben, bei erfolgreichem Volksbegehren sogar sechs.

Auch in Hessen streitet man noch um den Wahltermin. Die rot-grüne Opposition befürchtet, dass die Landesregierung erst Anfang Januar 2014 wählen lassen möchte, und fordert unter Berufung auf ein Rechtsgutachten einen Wahltermin im November. In Hessen fehlt übrigens nicht nur ein Wahltermin, sondern auch ein Landeswahlleiter. Die Stelle ist seit dem Ausscheiden des langjährigen Amtsinhabers Wolfgang Hannappel am 1. Juli 2011 verwaist. Die geplante Berufung von Wilhelm Kanther, Sohn des früheren Bundesinnenministers Manfred Kanther, ist vom Verwaltungsgericht Wiesbaden vorläufig gestoppt worden.

Sollte der vorliegende Wahlrechtskompromiss von Schwarz-Gelb und Rot-Grün Gesetz werden, bleiben Überhangmandate bei der Bundestagswahl in ähnlicher Höhe wie bisher bestehen, werden aber durch Ausgleichsmandate für die anderen Parteien kompensiert. Der nächste Bundestag wird damit die Sollgröße von 598 Sitzen mehr oder weniger deutlich überschreiten. Selbst wenn es keine Überhangmandate geben sollte, wird es aufgrund der erwähnten Pseudo-Sitzverteilung sehr wahrscheinlich zu einer Vergrößerung der Sitzzahl kommen. Wir wollen unseren Beitrag gegen eine allzu starke Aufblähung des Bundestags leisten, indem wir in unseren traditionellen Tipps und Tricks zur Bundestagswahl aufzeigen, in welchen Wahlkreisen man mit welchem Wahlverhalten dem Anfallen von Überhang- und Ausgleichsmandaten entgegenwirken kann.

Rechtsprechung/Wahlprüfung

Neues Bundestagswahlrecht

Auch wenn wir die interfraktionelle Einigung nicht für die ideale Lösung halten, haben wir keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die vorliegende Ausgleichsmandatsregelung, gegen die wir daher kein erneutes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen werden. Allerdings haben auch diesmal wieder alle Wahlberechtigten, die einen Wahlrechtsgrundsatz verletzt sehen, die Möglichkeit, direkt Verfassungsbeschwerde gegen die Gesetzesänderung erheben. Möglicherweise wird sich das Bundesverfassungsgericht daher noch vor der Bundestagswahl zum neuen Wahlrecht äußern. Im späteren Verlauf der Wahlperiode könnten sich zudem noch Wahlprüfungsbeschwerden von Kandidaten ergeben, die aufgrund der problematischen Nachrücker-Regelung nicht zum Zuge gekommen sind.

Wahlprüfung der Europawahl 2009

Von den beim Bundesverfassungsgericht erhobenen Wahlprüfungsbeschwerden sind die Verfahren zur Prüfung der Bundestagswahl 2009 alle abgeschlossen. Offen ist dagegen noch ein Einspruch gegen die Briefwahl bei der Europawahl 2009 (2 BvC 7/10). Hier ist möglicherweise eine interessante Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit den verschiedenen Sicherheitsproblemen bei der Briefwahl zu erwarten. Der Beschwerdeführer kritisiert in seiner Beschwerdeschrift die in den letzten Jahrzehnten erfolgte schrittweise Abschaffung von Absicherungen und Beschränkungen der Briefwahl. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Staatsorganen und Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 19. März 2012 gegeben, wovon die Angeschriebenen aber keinen Gebrauch gemacht haben. Statt dessen hat der Beschwerdeführer dem Gericht zur Demonstration der Fälschungsanfälligkeit der Briefwahl im April einhundert selbst gefertigte Briefwahlunterlagen für einen Bürgerentscheid in seiner Heimatgemeinde geschickt.

3 %-Hürden in Berlin und Hamburg bei BVV- und BV-Wahlen

Nachdem – mit Ausnahme der Stadtbürgerschaft Bremen – alle kommunalen Fünfprozenthürden gefallen sind, gibt es noch in Berlin und Hamburg Dreiprozenthürden bei den Wahlen zu den Bezirks(verordneten)versammlungen. Im Rahmen von Prüfungsverfahren der letzten Wahlen im Jahr 2011 (VerfGH 155/11 bzw. HVerfG 2/11) sind inzwischen die Verfassungsgerichte der beiden Stadtstaaten damit befasst. In Hamburg steht bereits der 15. Januar 2013 als Verkündungstermin fest – dem Verlauf der mündlichen Verhandlung am 9. November 2012 nach hat die Wahlprüfungsbeschwerde durchaus Aussicht auf Erfolg. In Berlin findet die mündlichen Verhandlung voraussichtlich im Februar statt.

Befreiung des SSW von der Fünfprozentklausel

In Schleswig-Holstein wird sich das Landesverfassungsgericht im Verfahren einer Wahlprüfungsbeschwerde mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Befreiung des SSW, der Partei der dänischen Minderheit, von der Fünfprozentklausel befassen.

Wahlkreisreform Sachsen

In Sachsen bahnt sich ein Streit über den Neuzuschnitt der Wahlkreise zur Landtagswahl 2014 an. Die Landesregierung hat einen Entwurf vorgelegt, der in einigen Punkten von den Empfehlungen der Wahlkreiskommission abweicht. Möglicherweise wird die Angelegenheit von der Opposition vor das Landesverfassungsgericht gebracht.

Gesetzgebung

Bundeswahlgesetz

Nach der ersten Lesung im Dezember 2012 findet am 14. Januar im Innenausschuss eine Anhörung von Sachverständigen statt, u. a. mit Martin Fehndrich von Wahlrecht.de. Mit einem anwendbaren Bundeswahlgesetz kann im Frühjahr gerechnet werden.

Die Mehrheit der Fraktionen unterstützt dabei den Ansatz Überhangmandate in ähnlicher Größe bestehen zu lassen und dann den anderen Parteien Ausgleichsmandate zuzuteilen. Der nächste Bundestag wird damit die Sollgröße von 598 Sitzen mehr oder weniger überschreiten.

Beim Wahlrecht für Auslandsdeutsche hat das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag eine überaus knifflige Aufgabe aufgetragen, bei der er eventuell noch nachbessern muss. Die vorgesehene Formulierung zur Vertraut- und Betroffenheit mit den politischen Verhältnissen in Deutschland (siehe oben) würde den Wahlbehörden einen weiten Ermessensspielraum eröffnen, der weder praktikabel noch verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheint. Zudem lässt sich die bisherige Regelung, wonach man als Auslandsdeutscher in seiner (letzten) früheren deutschen Heimatgemeinde wahlberechtigt ist, schwerlich auf die nun wahlberechtigten Auslandsdeutschen übertragen, die nie in Deutschland gelebt haben. Laut Gesetzesbegründung „kommt als Anknüpfungspunkt die letzte Heimatgemeinde seiner Vorfahren in gerader Linie im heutigen Bundesgebiet in Betracht, bei mehreren der des jüngeren Fortzuges.“ Vor einer konsequenteren Umsetzung eines speziellen Wahlrechts für Auslandsdeutsche – etwa in Form eines reinen Zweitstimmenwahlrechts ohne Zuordnung zu einem bestimmtem Wahlkreis/Bundesland oder die Einrichtung eines Extra-Wahlkreises für Auslandsdeutsche – schrecken die Fraktionen noch zurück, weil diese Alternativen schwerwiegende Folgeprobleme aufwerfen.

Sperrklausel zur Europawahl

Noch nicht so recht abfinden mögen sich die „Volksparteien“ mit der Abschaffung der Fünfprozenthürde bei Europawahlen. Der CDU-Parteitag beschloss am Anfang Dezember, für die Europawahlen 2014 eine Dreiprozentsperrklausel zu fordern. Auch mehrere Landesparteitage der SPD haben sich für eine Dreiprozenthürde ausgesprochen. Die CSU hingegen präferiert laut einem Parteitagsbeschluss im Oktober die Einführung von Wahlkreisen und die Umstellung des Situzuteilungsverfahrens auf d’Hondt. Lediglich hilfsweise möchte die CSU eine Dreiprozentsperrklausel erwägen. Da die FDP an alledem aber kein Interesse haben kann, erscheint es fraglich, ob Union und SPD vor der Bundestagswahl ihre Vorstellungen durchsetzen werden können. Verfassungsrechtliche Munition für ein erneutes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht soll jedoch anscheinend die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22. November 2012 liefern, in der die Ansicht vertreten wird, „angesichts des sich ändernden Verhältnisses zwischen Parlament und Kommission“ würden „ab den Wahlen 2014 verlässliche Mehrheiten im Parlament für die Stabilität der Legislativverfahren der Union und das reibungslose Funktionieren ihrer Exekutive von entscheidender Bedeutung sein“.

Landtagswahlrecht Hamburg

In Hamburg haben zwei Anträge von Oppositionsfraktionen gute Chancen, die nötige Zweidrittelmehrheit in der Bürgerschaft zu erreichen. Der Vorschlag der CDU, die Wahlperiode von vier auf fünf Jahre zu verlängern, stößt auch bei SPD und Grünen auf Zustimmung. Der grüne Gesetzentwurf, der die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre vorsieht, dürfte hingegen mit der Unterstützung von SPD und Linke und eventuell auch mit den Stimmen einzelner FDP-Abgeordneter verabschiedet werden.

Kommunale Wahltermine in NRW

Die Bürgermeister, die im kommenden Jahr in Nordrhein-Westfalen gewählt werden, kommen womöglich auf eine besonders lange Amtszeit, nämlich bis Mitte 2020 (so in Kall und Wetter). Das wäre eine Folge des Vorhabens, Rats- und Bürgermeisterwahlen wieder an einem Termin stattfinden zu lassen. Zu diesem Zwecke soll auch die Amtszeit der im Jahr 2014 zu wählenden Räte einmalig auf sechs Jahre verlängert werden. Die gerade erreichte Zusammenlegung von Kommunalwahlen und Europawahl wäre in Nordrhein-Westfalen dann wieder passé.

Kommunalwahlrecht Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg plant die grün-rote Landesregierung eine umfassende Reform des Kommunalwahlrechts. Ein entsprechender Gesetzentwurf der Landesregierung befindet sich derzeit im Anhörungsverfahren und soll im neuen Jahr in den Landtag eingebracht werden. Er sieht unter anderem vor, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken, und das Sitzzuteilungsverfahren von d’Hondt auf Sainte-Laguë umzustellen. Eine verbindliche Frauenquote bei der Aufstellung, wie sie die Grünen ursprünglich gefordert haben, wird es nicht geben. Statt dessen einigten sich Grüne und SPD auf eine unverbindliche Soll-Regelung, die keinen Einfluss auf die Zulassung eines Wahlvorschlags hat. Noch weiter gehende Reformschritte fordert Mehr Demokratie e. V., insbesondere die Einführung der integrierten Stichwahl bei Bürgermeister- und Landratswahlen.

Kommunalwahlrecht Rheinland-Pfalz

Die rot-grüne Landesregierung würde in Rheinland-Pfalz gerne das Wahlalter für Kommunal- und Landtagswahlen auf 16 Jahre reduzieren. Für die dazu erforderliche Verfassungsänderung – in Rheinland-Pfalz ist sogar für Kommunalwahlen das Wahlter in der Verfassung auf 18 Jahre festgelegt – benötigt sie jedoch eine Zweidrittelmehrheit im Landtag, die dank der ablehnenden Haltung der CDU nicht in Sicht ist. Außerdem in der Diskussion: die Einführung einer Frauenquote bei der Kandidatenaufstellung, das aktive und passive Ausländerwahlrecht sowie die Umstellung von Hare/Niemeyer auf Sainte-Laguë.

Dank an unsere Leser und alle Helfer

Wir bedanken uns herzlich für das anhaltend hohe Interesse an Wahlrecht.de! Wie immer gilt ein besonders Dankeschön allen Lesern, die uns auf interessante Meldungen, Fakten oder auch Fehler und neue Wahlumfragen hinwiesen oder uns fehlende Umfragewerte aus lokalen Zeitungen zusandten, sowie den Mitarbeitern von Umfrageinstituten, Medien, Behörden und Parteien, die uns wieder bei fehlenden Zahlen und Informationen halfen.

Wie Sie vielleicht bei Lektüre unseres Jahresrückblicks bemerkt haben, gab es im abgelaufenen einige wichtige Themen, die von uns lediglich mit einer kurzen Notiz bei facebook, Twitter und G o o g l e + gewürdigt wurden. Leider konnten wir uns im Rahmen dieses Freizeitprojekts vielen Sachen nicht so intensiv widmen, wie wir es uns gewünscht hätten. Wir hoffen, dass uns dies im kommenden Jahr wieder etwas besser gelingen wird.


von Martin Fehndrich, Matthias Cantow und Wilko Zicht (01.01.2013, letzte Aktualisierung am 01.01.2013, letzte Aktualisierung der Links am 08.01.2013)