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06.07.2008

Bremerhaven: Bürger in Wut in den Landtag gewählt

Als vierte Wählervereinigung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gelang heute den rechtskonservativen „Bürgern in Wut“ (BIW) der Einzug in einen Landtag. Zuvor schafften dies nur die „STATT Partei“ bei der Bürgerschaftswahl 1993 in Hamburg sowie zwei Wählervereinigungen bei der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft: Im Jahr 1951 die „Wählergemeinschaft der Fliegergeschädigten“ (WdF), im Jahr 1995 die SPD-Abspaltung „Arbeit für Bremen und Bremerhaven“ (AfB). Teilweise änderten die Gruppierungen ihre Rechtsform später aber und wurden zu Parteien. Den Wiedereinzug ins Parlament schafften sie bei der nächsten Wahl allesamt trotzdem nicht.

In Bremerhaven konnte nun die BIW das Kunststück von WdF und AfB wiederholen und einen Sitz in der Bremischen Bürgerschaft erobern. Gelegenheit dazu bot die vom Staatsgerichtshof angeordnete Wiederholungswahl im Wahlbezirk „Freizeittreff Eckernfeld“ (Siehe die Meldung vom 6. Mai 2008.)

Ausgangssituation – BIW brauchte nur 4,3 %, holte aber 27,6 %

Bei der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft am 13. Mai 2007 hatte die Wählervereinigung „Bürger in Wut“ die Fünfprozenthürde im Wahlbereich Bremerhaven um eine einzige Stimme verfehlt. Nachdem die Ergebnisse der Hauptwahl im Wahlbezirk 132/02 (Freizeittreff Eckernfeld), bei der die BIW lediglich 4,35 % der Stimmen enthielt, für ungültig erklärt waren, lag die BIW vor der Wiederholungswahl bei 5,01 % der Stimmen in Bremerhaven. Sie musste in Eckernfeld also kein Ergebnis über fünf Prozent holen, um in den Landtag einzuziehen. Es reichte ihr ein Ergebnis auch unter fünf Prozent, solange es gut genug gewesen wäre, um bremerhavenweit nicht von 5,01 % unter die Fünfprozenthürde zu fallen.

  Bremerhaven ohne
Wahlbezirk 132/02
Wahl am 13.05.2007
Wahlbezirk 132/02
Freizeittreff Eckernfeld
Wahl am 06.07.2008
Bremerhaven
insgesamt
Bremer-
haven
Stadt
Bremen
Land
Bremen
absolut Anteil in % absolut Anteil in % absolut Anteil in % Sitze Sitze Sitze
Wahlberechtigte 84.007   1.311   85.318        
Wähler 44.266 52,69 % 569 43,40 % 44.835 52,55 %      
Davon             15 68 83
Ungültige Stimmen 689 1,56 % 14 2,46 % 703 1,57 %      
Gültige Stimmen 43.577 98,44 % 555 97,54 % 44.132 98,43 %      
Davon                  
SPD 15.195 34,87 % 168 30,27 % 15.363 34,81 % 5 27 32
CDU 10.993 25,23 % 63 11,35 % 11.056 25,05 % 4 19 23
GRÜNE 5.191 11,91 % 84 15,14 % 5.275 11,95 % 2 12 14
FDP 3.845 8,82 % 43 7,75 % 3.888 8,81 % 1 4 5
DVU 2.339 5,37 % 6 1,08 % 2.345 5,31 % 1 1
Deutschland 333 0,76 % 1 0,18 % 334 0,76 %
Die Konservativen 308 0,71 % 1 0,18 % 309 0,70 %
BIW 2.183 5,01 % 153 27,57 % 2.336 5,29 % 1 1
Die Weissen 169 0,39 % 1 0,18 % 170 0,39 %
Die Linke. 3.021 6,93 % 35 6,31 % 3.056 6,92 % 1 6 7

Im folgenden das Ergebnis der heutigen Wiederholungswahl getrennt nach Briefwahl und Urnenwahl. Dem Ergebnis der Urnenwahl wird zudem das Wahlergebnis der Hauptwahl am 13. Mai 2007 gegenüber gestellt. Da die Briefwähler aus dem Wahlbezirk „Freizeittreff Eckernfeld“ bei der Hauptwahl mit den Briefwählern aus zwei anderen Wahlbezirken zusammengefasst wurden, ist ein solcher Vergleich hier nicht möglich.

  Briefwahl
am 06.07.2008
Urnenwahl
am 06.07.2008
Urnenwahl
am 13.05.2007
absolut Anteil in % absolut Anteil in % absolut Anteil in % +/–
Wahlberechtigte 52   1.259   1.217    
Wähler 48 92,31 % 521 41,38 % 774 63,60 % – 22,25 %
Davon              
Ungültige Stimmen 2 4,17 % 12 2,30 % 15 2,46 % – 0,16 %
Gültige Stimmen 46 95,83 % 509 97,70 % 759 97,54 % + 0,16 %
Davon              
SPD 11 23,91 % 157 30,84 % 295 38,87 % – 8,03 %
CDU 6 13,04 % 57 11,20 % 166 21,87 % – 10,67 %
GRÜNE 14 30,43 % 70 13,75 % 115 15,15 % – 1,40 %
FDP 6 13,04 % 37 7,27 % 54 7,11 % + 0,16 %
DVU 0,00 % 6 1,18 % 36 4,74 % – 3,56 %
Deutschland 0,00 % 1 0,20 % 5 0,66 % – 0,46 %
Die Konservativen 0,00 % 1 0,20 % 4 0,53 % – 0,33 %
BIW 7 15,22 % 146 28,68 % 33 4,35 % + 24,33 %
Die Weissen 0,00 % 1 0,20 % 2 0,26 % – 0,06 %
Die Linke. 2 4,35 % 33 6,48 % 49 6,46 % + 0,02 %

Wahlberechtigt bei der Wiederholungswahl im Stadtteil Eckernfeld waren 1.311 Bürger. Abhängig von der Wahlbeteiligung ergaben sich daher die folgenden Mindeststimmenzahlen für die Bürger in Wut, um die Fünfprozenthürde zu überwinden:

Wahlbeteiligung
(gültige Stimmen)
5 %-Hürde in
Bremerhaven
Benötigte Stimmen
für BIW in Eckernfeld
Anteil in % absolut absolut absolut Anteil in %
100 % 1.311 2.245 62 4,73 %
90 % 1.180 2.238 55 4,66 %
80 % 1.049 2.232 49 4,67 %
70 % 918 2.225 42 4,58 %
60 % 787 2.219 36 4,57 %
50 % 656 2.212 29 4,42 %
40 % 524 2.206 23 4,39 %
30 % 393 2.199 16 4,07 %
20 % 262 2.192 9 3,44 %
10 % 131 2.186 3 2,29 %
6,3 % 83 2.183 0 0,00 %

Im unwahrscheinlichen Fall, dass alle 1.311 Wahlberechtigte eine gültige Stimme abgegeben hätten, wären aus Sicht der BIW also 62 Stimmen nötig gewesen, was einem Stimmenanteil von 4,73 % entspricht. Hätten nur 83 (6,3 %) oder weniger Eckernfelder gewählt, dann wäre BIW selbst dann oberhalb der Fünfprozenthürde geblieben, wenn sie keine einzige Stimme erhielte. Zwischen diesen beiden Extremen bewegte sich die Zahl der von der BIW benötigten Stimmen. Sie ergibt sich, indem man die Zahl der bei der Wiederholungswahl abgegebenen gültigen Stimmen durch 20 teilt, vom Ergebnis den Vorsprung der BIW vor der Fünfprozenthürde (4,15 Stimmen) abzieht und diesen Wert dann auf die nächste ganze Zahl aufrundet.

Da letztlich 555 gültige Stimmen abgegeben wurden, hätten der BIW 24 Stimmen (4,3 %) gereicht. Sie hat also 129 Stimmen mehr bekommen, als sie benötigt hätte.

Die nun insgesamt 2.336 Wählerstimmen sind – nach den Wahlrecht.de vorliegenden Zahlen – die geringste Wählerzahl, die jemals für den Einzug in ein bundesdeutsches Landesparlament ausreichte. Bisher hielt die DVU mit 2.376 – bzw. nach dem Ergebnis der heutigen Wiederholungswahl – 2.345 Stimmen bei der Bürgerschaftswahl 2007 diesen „Rekord“.

BIW-Sitz geht auf Kosten der SPD

Bereits vor der Wiederholungswahl stand fest, dass Leidtragender eines BIW-Erfolgs auf jeden Fall der SPD-Abgeordnete Wolfgang Jäger wäre. Selbst wenn die SPD alle übrigen Stimmen bei der Wiederholungswahl erhalten hätte, hätte sie nicht vermeiden können, dass der zusätzliche Sitz der BIW auf ihre Kosten gegangen wäre. Die SPD hätte 2.080 Stimmen benötigt, um den Schwarzen Peter an die CDU – die gleichzeitig keine einzige Stimme bekommen durfte – abzugeben. Dies war bei 1.311 Wahlberechtigten auch rein rechnerisch unmöglich.

Wahlgleichheit stark eingeschränkt

Die näheren Umstände der Wiederholungswahl sind im Lichte des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Wahlgleichheit höchst bedenklich.

Eine Wiederholungswahl in nur einem Teil des Wahlgebietes, bei der die Wähler das übrige Wahlergebnis kennen und ihre Stimmabgabe danach ausrichten können, gibt diesen Wählern generell einen taktischen Vorteil und damit ein höheres Stimmgewicht. Dies ist aber unvermeidbare Folge der Entscheidung des Staatsgerichtshofs, die Wiederholungswahl auf den Wahlbezirk Eckernfeld zu begrenzen. Eine hierauf beruhende Wahlprüfungsbeschwerde wäre folglich aussichtslos.

Durchaus Erfolgschancen dürfte aber eine Anfechtung der Wiederholungswahl haben, die sich dagegen richtet, dass in Eckernfeld nun mehrere Bürger erneut ihre Stimme abgeben konnten. Für die Wiederholungswahl galt nämlich nicht das Wählerverzeichnis vom Tag der Hauptwahl im Mai 2007, sondern es wurde – wie im Wahlgesetz vorgesehen – ein neues Verzeichnis angelegt, das neben mittlerweile volljährig gewordene Personen auch neu Hinzugezogene enthält, die bei der Bürgerschaftswahl im vorigen möglicherweise noch in einem anderen Wahlbezirk ihre Stimme abgegeben hatten. Dieser Personenkreis durfte nun zum zweiten Mal eine wirksame Stimme abgeben, wohingegen die im Mai 2007 abgegebenen Stimmen der übrigen Eckernfelder durch die Entscheidung des Staatsgerichtshofs für ungültig erklärt wurden. Dennoch hatte das Bremerhavener Wahlamt darauf verzichtet, durch einen Abgleich der – nach wie vor vorhandenen – Wählerverzeichnisse vom Tag der Hauptwahl diejenigen Neu-Eckernfelder herauszufiltern, die laut Stimmabgabevermerk bereits ihr Wahlrecht ausgeschöpft haben. Hierzu wäre das Wahlamt aber wohl – auch ohne ausdrückliche Regelung im Wahlgesetz – von Verfassungs wegen verpflichtet gewesen.

Gleiches gilt für die Briefwähler aus Eckernfeld, denn annulliert wurden nur die per Urnenwahl im Freizeittreff Eckernfeld abgegebenen Stimmen. 64 Bürger dieses Wahlbezirks hatten ihre Stimme aber nicht im Wahllokal abgegeben, sondern einen Wahlschein beantragt und konnten per Brief wählen. Da auch die eingenommenen Wahlscheine nach der Wahl aufbewahrt werden müssen, wäre es ohne weiteres möglich gewesen, die aktuell in Eckernfeld wohnenden Personen herauszufiltern, die hier oder in einem anderen Wahlbezirk bei der Hauptwahl ihre Stimme per Briefwahl abgegeben hatten.

Sollte die Zahl der Doppeltwähler deutlich größer als 129 gewesen sein, so dass der Einzug der BIW in die Bürgerschaft hiervon beeinflusst sein könnte, bliebe die Sitzverteilung in der Bremischen Bürgerschaft auch nach der Wiederholungswahl wohl weiterhin in der Schwebe.

BIW-Spitzenkandidat wegen Wahlfälschung angeklagt

Zusätzliche Brisanz erhält die Angelegenheit durch den Umstand, dass die passive Wahlberechtigung des Spitzenkandidatens und Bundesvorsitzenden der BIW, Jan Timke, umstritten ist und die Bremer Staatsanwaltschaft gegen Timke sogar Anklage wegen Wahlfälschung erhoben hat. Hintergrund: Der Bundespolizist und ehemaliges Mitglied von STATT- und Schill-Partei hat zwar eine Wohnung in Bremerhaven, arbeitet aber in Berlin. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hielt sich Timke in dem wahlrechtlich relevanten Zeitraum – ab drei Monate vor dem Wahltag – überwiegend in Berlin auf, so dass seine Hauptwohnung außerhalb des Bundeslands Bremen gelegen habe. In Kenntnis der melderechtlichen Gegebenheiten habe er dennoch seine Bremerhavener Wohnung als Hauptwohnung angegeben, um an der Bremischen Bürgerschaftswahl teilnehmen zu können. Dadurch habe er das Wahlergebnis verfälscht. Timke hält dem entgegen, dass er zwar in der Tat zwischen Bremerhaven und Berlin pendle, sich aufgrund seiner Arbeitszeiten aber überwiegend in Bremerhaven aufhalten könne und dies im fraglichen Zeitraum auch getan habe.

Parallel zum Strafverfahren sind in dieser Frage auch zwei von Timke veranlasste verwaltungsgerichtliche Verfahren anhängig. Zum einen klagt er gegen die Umwidmung seiner Wohnung zum Nebenwohnsitz im Bremerhavener Melderegister. Seine zweite Klage richtet sich gegen die Entscheidung des Stadtwahlleiters, ihn nicht in die Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung zu berufen. Bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung kandidierte Timke auf Platz 4 des Wahlvorschlags der BIW, die drei Sitze erringen konnte. Die Spitzenkandidatin der BIW, Annefriede Laue, verzichtete im September auf ihren Sitz in der Stadtverordnetenversammlung „aus persönlichen Gründen“ sowie „um die politische Arbeit der BIW nicht zu belasten“. Zuvor wurden auch gegen sie Vorwürfe laut, bei ihrer angegebenen Adresse in Bremerhaven – identisch mit der Timkes – handle es sich gar nicht um ihren Hauptwohnsitz. Inzwischen ist gegen Laue ein Strafbefehl wegen Wahlfälschung ergangen, gegen den sie Einspruch erhoben hat. Nachdem Laues Sitz frei wurde, weigerte sich der Stadtwahlleiter unter Hinweis auf die Streichung von Timkes Wohnung als Hauptwohnsitz aus dem Melderegister, den BIW-Vorsitzenden als Listennachfolger in die Stadtverordnetenversammlung zu berufen. Der dritte Sitz der BIW ist seitdem unbesetzt.

Keines der drei laufenden Gerichtsverfahren hat jedoch vor seinem Abschluss direkten Einfluss auf die Wählbarkeit Timkes in die Bremische Bürgerschaft. Da der Bremerhavener Wahlbereichsausschuss den Wahlvorschlag der BIW mit Timke auf Platz 1 im Vorfeld der Hauptwahl nicht beanstandet hatte und dieser Wahlvorschlag bei der Wiederholungswahl unverändert zu Grunde gelegt wird, muss der Landeswahlleiter Timke in die Bürgerschaft berufen. Ein weitergehendes Überprüfungsrecht, ob die Voraussetzungen der Wählbarkeit weiterhin gegeben sind, räumt das Wahlgesetz dem Landeswahlleiter nur im Falle eines Nachrückens ein. Bei den sich aus der Wahlergebnisfeststellung – ob Haupt- oder Wiederholungswahl – direkt ergebenden Sitzzuteilungen kann der Wahlleiter hingegen nur beim Tod eines Bewerbers von der im Wahlvorschlag vorgesehen Reihenfolge abweichen.

Ein Mandatsentzug aufgrund Timkes zweifelhafter Wählbarkeit könnte daher nur nachträglich festgestellt werden. Dabei sind zwei Möglichkeiten denkbar: Sobald eine gerichtliche Feststellung vorliegt, wonach Timkes Hauptwohnung tatsächlich nicht ununterbrochen in Bremerhaven lag, kann der Präsident der Bremischen Bürgerschaft den Verlust des Mandats erklären. Hiergegen könnte Timke dann Einspruch vor dem Wahlprüfungsgericht einlegen, den Sitz müsste er aber bis zu dessen Entscheidung räumen. Unabhängig davon kann jeder Wahlberechtigte eine Überprüfung der Wählbarkeit Timkes durch einen Einspruch beim Wahlprüfungsgericht veranlassen. In diesem Fall könnte Timke seinen Sitz in der Bürgerschaft bis zur Rechtskraft der Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts aber behalten. Gegen die Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts wäre in jedem Fall Beschwerde beim Staatsgerichtshof zulässig.

Sollte Timke seinen Sitz im Landesparlament wieder verlieren, würde kurioserweise ausgerechnet Annefriede Laue für ihn nachrücken können. Laue steht auf Platz 2 des BIW-Wahlvorschlags für die Bürgerschaftswahl. Ihre Wählbarkeit für die Bürgerschaft ist nicht umstritten, da ihr – nach Ansicht der Behörden – tatsächlicher Wohnsitz in der Stadt Bremen liegt, was im Gegensatz zur Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung für die Wählbarkeit zur Bürgerschaft ausreichend ist.


von Wílko Zicht (06.07.2008, letzte Aktualisierung am 07.07.2008)