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16.11.2007, Nachtrag: 19.11.2007
Nachtrag: Bei der heutigen Verhandlung hat das Bremer Wahlprüfungsgericht angedeutet, wegen der Wahlfehler im Fall der B.I.W. eine komplette Neuauszählung der bei der Bremer Bürgerschaftswahl vom 13. Mai 2007 im Wahlgebiet Bremerhaven abgegebenen Stimmzettel anordnen zu wollen. Das Gericht kündigte an, den Tenor der Entscheidung innerhalb der nächsten 14 Tage zu verkünden, die schriftliche Begründung aber erst später nachzureichen (dazu: Pressemitteilung des Wahlprüfungsgerichts Bremen vom 20. November 2007 und weitere Medienberichte).
Mit gleich zwei beachtlichen Einsprüchen gegen die Bürgerschaftswahl vom 13. Mai 2007 sieht sich das Bremer Wahlprüfungsgericht konfrontiert. Beide Wahleinsprüche stammen von Wählervereinigungen aus Bremerhaven. Die „Unabhängige Wählervereinigung B.remerH.aV.en“ (B.H.V.) klagt gegen ihre Nichtzulassung zur Bürgerschaftswahl, die „Bürger in Wut“ (BiW) machen Wahlfehler bei Stimmabgabe und Auszählung geltend. Die BiW waren im Wahlbereich Bremerhaven mit nur einer einzigen fehlenden Stimme an der Fünfprozenthürde gescheitert. Am 19. November verhandelt das Wahlprüfungsgericht öffentlich über die beiden Einsprüche.
Für die B.H.V. kam das Aus bei der Bürgerschaftswahl bereits im März. Der Landeswahlausschuss verweigerte die Anerkennung als Wählervereinigung für die Wahl zum bremischen Landtag und ließ lediglich die Kandidatur zur Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven zu. Begründet wurde dies mit der Satzung der B.H.V., die nur Mitgliedern mit Wohnsitz in Bremerhaven die vollen Rechte einräumt, während Mitglieder aus der Stadt Bremen lediglich Gaststatus ohne Stimmrecht genießen. Da eine Anerkennung als Wählervereinigung zur Bürgerschaftswahl automatisch die Kandidatur nicht nur in Bremerhaven, sondern auch in Bremen – inklusive zu den dortigen Stadtteil-Beiräten – ermögliche, habe man die Beteiligungsanzeige der B.H.V. zurückweisen müssen. Eine Kandidatur der B.H.V. in Bremen sei mit dem Demokratieprinzip unvereinbar, weil die bremischen Wähler keinen Einfluss auf die Willensbildung innerhalb der Wählervereinigung nehmen könnten.
Die B.H.V. betont hingegen, gar nicht in Bremen kandidieren zu wollen, weil man sich ganz auf Bremerhaven konzentriere. Um das politische Profil der Wählervereinigung als Interessenvertretung Bremerhavens aufrecht erhalten zu können, sei es notwendig, die Vollmitgliedschaft auf Bremerhavener Mitglieder begrenzen. Anderenfalls könne man aufgrund der deutlichen Größenunterschiede zwischen Bremerhaven und Bremen auf Dauer nicht verhindern, dass sich die stadtbremischen Mitglieder – wie in allen etablierten Parteien im Lande Bremen – irgendwann in der Mehrheit befänden. Für den Ausschluss der Wählervereinigung von der Bürgerschaftswahl im Wahlbereich Bremerhaven fehle jegliche Rechtsgrundlage.
Tatsächlich schreibt die Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen in Artikel 75 die getrennte Durchführung der Bürgerschaftswahl in den Wahlbereichen Bremerhaven und Bremen vor. Artikel 125 bestimmt sogar, dass diese Regelung nur durch Volksentscheid oder einstimmigen Beschluss der Bürgerschaft geändert werden darf, während für normale Verfassungsänderungen eine Zwei-Drittel-Mehrheit in der Bürgerschaft ausreicht. Das Anliegen der B.H.V., eine eigenständige Bremerhavener Vertretung in der Bürgerschaft ohne Einflussnahme Bremens bilden zu wollen, findet also in der Landesverfassung einen gewissen Rückhalt.
Darüber hinaus gestaltet sich das Wahlzulassungsverfahren zur bremischen Bürgerschaftswahl wie in fast allen Landeswahlgesetzen zweistufig. Zunächst haben die Parteien und Wählervereinigungen in Form der sogenannten Beteiligungsanzeige ihre Absicht anzumelden, an der Wahl teilnehmen zu wollen. Dabei müssen Wählervereinigungen eine schriftliche Satzung vorlegen und nachweisen, dass sie über einen nach demokratischen Grundsätzen bestellten Vorstand verfügen. Der Landeswahlausschuss entscheidet daraufhin, ob die Organisation überhaupt als Wählervereinigung anzuerkennen ist. Eine positive Entscheidung gilt automatisch nicht nur für die Wahl zur Bürgerschaft in den Wahlbereichen Bremerhaven und Bremen, sondern auch für die Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung von Bremerhaven und zu den Stadtteil-Beiräten in Bremen. Eine ausdrückliche Bestimmung im Wahlgesetz, wonach die Wählervereinigung aufgrund ihrer Satzung oder Organisationsstruktur in der Lage sein muss, zu all diesen Wahlen demokratisch legitimierte Bewerberlisten aufzustellen, gibt es aber nicht.
In der zweiten Stufe des Wahlzulassungsverfahren entscheiden die Wahlbereichsausschüsse in Bremerhaven und Bremen über die Zulassung konkreter Wahlvorschläge zu den einzelnen Wahlen. Würde die B.H.V. versuchen, im Wahlbereich Bremen einen quasi aus Bremerhaven ferngesteuerten Wahlvorschlag einzureichen, hätte der Bremer Wahlbereichsausschuss die Möglichkeit, diesem ohne demokratische Mitwirkung der stadtbremischen Mitglieder zustande gekommenen Wahlvorschlag die Zulassung zu verweigern.
Die B.H.V. wurde jedoch bereits auf der erste Stufe gestoppt und konnte somit auch im Wahlbereich Bremerhaven nicht an der Bürgerschaftswahl teilnehmen. Bei der vorherigen Wahl im Jahr 2003 hatte der Landeswahlausschuss trotz gleicher Sachlage noch anders entschieden und die B.H.V. zugelassen. Die Wählervereinigung erhielt damals 1,7 % der Stimmen im Wahlbereich Bremerhaven. Ausweislich ihres Grundsatzprogramms ist die B.H.V. wohl der politischen Mitte zuzuordnen.
Deutlich weiter rechts im politischen Spektrum steht die Wählervereinigung „Bürger in Wut“, die aus dem Bremer Landesverband der Schill-Partei hervorgegangen war, sich nun aber auch bundespolitisch betätigen will. Dies macht sie unter anderem mit dem Versuch einer Kampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei deutlich. In ihrem Bürgerschaftswahlprogramm forderten die BiW unter anderem eine Zero-Tolerance-Strategie in der Strafverfolgung und ein erleichtertes Abschiebeverfahren für kriminelle Ausländer. Bei der Wahl im Mai waren die BiW nur im Wahlbereich Bremerhaven angetreten und warben mit dem Slogan „Bremerhaven zuerst“ sowie der Forderung, Bremerhaven in Niedersachsen einzugliedern, um Stimmen. Dies gelang der Gruppierung, die sich selbst als „bürgerlich-konservativ“ sieht, mit beträchtlichem Erfolg: Laut dem amtlichen Endergebnis bescherten 2.216 Stimmen der Wählervereinigung einen Stimmenanteil von 4,998 % und damit die zweifelhafte Ehre, als erste Gruppierung in der Geschichte der Bundesrepublik um eine einzige Stimme an der Fünfprozenthürde eines Landtags gescheitert zu sein. Die Sperrklausel wird bei der Bürgerschaftswahl getrennt in den Wahlbereichen Bremerhaven und Bremen angewandt.
Die Ausgangslage im Wahlprüfungsverfahren ist für die BiW vergleichsweise günstig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann ein Wahleinspruch „nur dann Erfolg haben, wenn er auf Wahlfehler gestützt wird, die auf die Sitzverteilung von Einfluss sind oder sein können. Dabei darf es sich nicht nur um eine theoretische Möglichkeit handeln, sie muss eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende sein.“ Die meisten Wahleinsprüche scheitern traditionell an dieser sogenannten Mandatsrelevanz. Den BiW würde es aber bereits reichen, einen winzigen Wahlfehler nachzuweisen, der ihnen möglicherweise die eine fehlende Stimme gekostet hat: Zum Beispiel ein einziger Wahlberechtigter, der rechtswidrig an der Ausübung seines Wahlrechts gehindert wurde, oder eine einzige Stimme, die bei der Auszählung in irgendeinem Bremerhavener Wahllokal „verschwunden“ ist.
Im mehreren umfangreichen Schriftsätzen an das Wahlprüfungsgericht machen die BiW eine Vielzahl von angeblichen Wahlfehlern geltend. Die vier wichtigsten:
Die BiW bestreiten die Rechtmäßigkeit dieses Vorgangs. Die Wahlvorsteherin hätte weder den Wahlvorstand einfach auflösen noch die Stimmzettel eigenmächtig aus dem Wahllokal entfernen und damit der öffentlichen Kontrolle entziehen dürfen. Brisanterweise war der Wahlbezirk „Freizeittreff Eckernfeld“ aufgrund der Verzögerungen der letzte Bremerhavener Wahlbezirk, das am Wahlabend die Ergebnisse vermelden konnte. Nach Auszählung der übrigen 94 Wahllokale lagen die BiW noch vier Stimmen über der magischen 5 %-Grenze.
Das Wahlprüfungsgericht will die genaueren Umstände in der mündlichen Verhandlung aufklären und hat dazu die ursprüngliche Wahlvorsteherin sowie den Wahlvorsteher des im Wahlamt gebildeten Ersatz-Wahlvorstands als Zeugen geladen.
Dieser Verdacht liegt in der Tat nahe, weil ja parallel zur Bürgerschaft auch die Stadtverordnetenversammlung von Bremerhaven gewählt wurde. Die Wähler haben also in der Regel zwei Wahlumschläge in die Urne geworfen. Womöglich hat ein einzelner Wähler nur den Wahlumschlag für die Stadtverordnetenversammlung abgegeben, der Schriftführer aber versehentlich für beide Wahlen die Stimmabgabe vermerkt. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass ein Wahlumschlag bei der Auszählung – wie auch immer – abhanden gekommen ist. Objektiv fehlt jedenfalls ein Wahlumschlag, der laut dem amtlichen Wählerverzeichnis definitiv in die Urne eingeworfen wurde. Es besteht zudem die konkrete Möglichkeit, dass sich in diesem Wahlumschlag eine für die BiW abgegebene Stimme befand. Somit wäre dieser kleine Wahlfehler bereits für sich genommen geeignet, die Gültigkeit der Wahl in Frage zu stellen.
Die allermeisten Wahlvorstände stapeln und zählen nach Öffnung der Wahlurne ohne Aufgabenverteilung und alle gleichzeitig munter drauf los. Hierbei verstoßen sie meist gegen drei wichtige Verfahrensvorschriften der Bremischen Landeswahlordnung (LWO):§ 53 Abs. 1 LWO: „Nachdem die Wahlumschläge sowie die Stimmabgabevermerke und die Wahlscheine gezählt worden sind, öffnen mehrere Beisitzer unter Aufsicht des Wahlvorstehers die Wahlumschläge, nehmen die Stimmzettel heraus und bilden folgende Stimmzettelstapel, die sie unter Aufsicht behalten.“Die Beisitzer sind also beim Öffnen der Wahlumschläge und Stapeln der Stimmzettel vom Wahlvorsteher zu beaufsichtigen. In der Praxis unterbleibt diese Aufsicht jedoch, da auch der Wahlvorsteher sich zwecks Beschleunigung des Auszählvorgangs an der Arbeit beteiligt, die eigentlich nur den Beisitzern aufgetragen ist. Dadurch ist es den Beisitzern leichter möglich, in unbeobachteten Momenten Stimmzettel verschwinden zu lassen, auszutauschen oder auf den falschen Stapel zu legen.Auch im nächsten Schritt ist häufig ein Verfahrensfehler festzustellen:
§ 53 Abs. 2 LWO: „Die Beisitzer, die die nach Wahlvorschlägen geordneten Stimmzettel (Absatz 1 Satz 1 Nr. 1) unter ihrer Aufsicht haben, übergeben die einzelnen Stapel nacheinander zu einem Teil dem Wahlvorsteher, zum anderen Teil seinem Stellvertreter. Diese prüfen, ob die Kennzeichnung der Stimmzettel eines jeden Stapels gleichlautet und sagen zu jedem Stapel laut an, für welchen Wahlvorschlag die Stimmen abgegeben worden sind.“
Die meisten Fehler bei der Stimmenauszählung sind nicht etwa Zählfehler (die fallen nämlich auf, wenn am Ende die Summe nicht stimmt), sondern Stapelfehler, d. h., Stimmzettel von Partei A sind versehentlich auf dem Stimmzettelstapel von Partei B abgelegt worden und werden somit der Partei B zugeschrieben. Um dies zu verhindern, schreibt § 53 Abs. 2 LWO vor, dass die gebildeten Stimmzettelstapel vor der Zählung noch einmal durchgeschaut werden. Viele Wahlvorstände tun dies gar nicht, sondern fangen gleich mit der Auszählung der Stapel an. Und wenn eine Stapelkontrolle doch einmal stattfindet, dann geschieht dies meist parallel durch alle Wahlhelfer gleichzeitig. Vorgeschrieben ist jedoch, dass diese wichtige Aufgabe allein dem Wahlvorsteher und seinem Stellvertreter obliegt, währenddessen die Beisitzer unbeschäftigt bleiben (und somit die Arbeit der Wahlvorsteher kontrollieren können).
Der dritte übliche Verstoß betrifft den Zählvorgang selbst:
§ 53 Abs. 4 LWO: „Danach zählen je zwei vom Wahlvorsteher bestimmte Beisitzer nacheinander die nach den Absätzen 2 und 3 geprüften Stimmzettelstapel unter gegenseitiger Kontrolle durch und ermitteln die Zahl der für die einzelnen Wahlvorschläge abgegebenen gültigen Stimmen sowie die Zahl der ungültigen Stimmen.“
Während die Stapelkontrolle den Wahlvorstehern obliegt, sind für die Zählung der Stimmzettel also allein die Beisitzer zuständig. Dass ein Stimmzettelstapel niemals von ein- und derselben Person sowohl auf einheitliche Kennzeichnung kontrolliert als auch ausgezählt werden darf, soll Manipulationen verhindern. Indem die Wahlvorsteher an der eigentlichen Zählung nicht beteiligt sind, haben sie zudem die Möglichkeit, den Beisitzern bei der Zählung auf die Finger zu schauen. Auch hieran halten sich aber die wenigsten Wahlvorstände, weil die Auszählung natürlich schneller geht, wenn alle gleichzeitig zählen.
Es wird für Sie aber nicht reichen, einfach pauschal zu behaupten, die Wahlvorstände hätten sich nicht an die Vorschriften gehalten. Vielmehr werden Sie anhand von Zeugenaussagen von Beobachtern des Auszählvorgangs im Wahllokal oder von Wahlhelfern selbst belegen müssen, dass zumindest in einigen Wahlbezirken derartige Verfahrensverstöße stattgefunden haben. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts im Urteil BVerfGE 85, 148 würde sich aufgrund des knappen Wahlergebnisses dann die Möglichkeit eröffnen, eine vollständige Neuauszählung zu erreichen.
Das Bundesverfassungsgericht gab in jener Entscheidung einem SPD-Direktkandidaten recht, der bei der Landtagswahl 1990 in Nordrhein-Westfalen nach dem amtlichen Endergebnis seiner CDU-Konkurrentin um 23 Stimmen unterlegen war, aufgrund einer kompletten Nachzählung der Stimmen den Wahlkreis dann aber doch noch gewinnen konnte. Die Nachzählung war veranlasst worden, nachdem in vier Stimmbezirken die vorgeschriebene gegenseitige Kontrolle durch die mit der Auszählung beauftragten Beisitzer des Wahlvorstandes nicht vollständig durchgeführt oder nicht durch einen Beisitzer, sondern durch den Wahlvorsteher vorgenommen worden war. Aufgrund dieser Unregelmäßigkeiten hielt das Bundesverfassungsgericht eine Nachzählung für erforderlich, die sich wegen des knappen Wahlausgangs nicht auf die vier Stimmbezirke beschränken durfte, sondern in allen Stimmbezirken des Wahlkreises durchzuführen gewesen sei.
Um entsprechende Zeugenaussagen zu erlangen, schalteten die BiW mehrere Zeitungsannoncen, in denen Wahlhelfer dazu aufgerufen wurden, sich bei der Wählervereinigung zu melden. Dies taten schließlich zwei Mitarbeiterinnen des Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap, die am Wahlabend in den beiden genannten Wahllokalen tätig waren, um Nachwahlbefragungen durchzuführen und die Auszählergebnisse an ihren Auftraggeber zu übermitteln. Sie waren daher während des Auszählvorgangs im Wahllokal anwesend und bestätigten, dass es dort zu den beschriebenen Abweichungen vom vorgegebenen Prozedere gekommen sei.
Zur Aufklärung des Sachverhalts hat das Wahlprüfungsgericht auch die Wahlvorsteher der beiden Wahlbezirke sowie die beiden Mitarbeiterinnen von Infratest dimap als Zeugen geladen.
Die Bemühungen der BiW, Zeugen für Unregelmäßigungen in den Wahllokalen zu finden, werden vom Bremerhavener Wahlbereichsleiters in seiner schriftlichen Erwiderung auf den Einspruch höhnisch kommentiert: „Die Diskrepanz zwischen 'kräftigem' Behaupten und substantiierten Beanstandungen zeigt der hilflose Versuch, mittels Anzeigen in der Nordsee-Zeitung nach Helfenden zu suchen, die Verfahrensfehler bekunden zu können.“
Die BiW kritisieren darüber hinaus, dass sie alle geltend gemachten Wahlfehler selbst anhand der Wahlniederschriften aus den Wahlbezirken ermitteln musste, während in der Sitzung des Wahlbereichsausschusses die Vorfälle mit keinem Wort erwähnt worden seien. Der Wahlbereichsausschuss ist für die amtliche Feststellung des Wahlergebnisses im Wahlbereich verantwortlich.
Dass die BiW überhaupt Einblick in die Protokolle der Wahlvorstände nehmen konnten, mussten sie sich erst vor dem Bremer Verwaltungsgericht erstreiten. Dieses verurteilte den Wahlbereichsleiter Anfang Juli in einer einstweiligen Anordnung dazu, den BiW Einsicht in die Wahlniederschriften zu gewähren. Nach Darstellung der BiW seien sie dabei jedoch bereits nach dreieinhalb Stunden vom Wahlbereichsleiter aufgefordert worden, das Wahlamt wieder zu verlassen, weil der Raum für eine Sitzung benötigt werde und keine andere Räumlichkeit zur Verfügung stehe. Da zudem am nächsten Werktag bereits die Frist zur Einreichung des Wahleinspruch ablief, habe die Wählervereinigung lediglich 70 Prozent der Wahlniederschriften überprüfen können.
Kurioserweise ist der Vorsitzende Richter Kramer der Kammer des Verwaltungsgerichts, die über den Antrag der BiW zu entscheiden hatte, gleichzeitig auch Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Bremen und als solcher automatisch Mitglied des Wahlprüfungsgerichts. Vorsitzender des Wahlprüfungsgerichts ist der Präsident des Verwaltungsgerichts, Eiberle-Herm. Die übrigen fünf Mitglieder des Wahlprüfungsgerichts sind allesamt Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft: Wolfgang Grotheer und Marlies Marken für die SPD, Hartmut Perschau und Sibylle Winther für die CDU sowie Horst Frehe für die GRÜNEN.
Der Ausgang des Verfahrens gilt trotz der überwiegend politischen Besetzung des Wahlprüfungsgerichts als offen. Das Gericht wird nicht nur zu entscheiden haben, ob die beiden Wählervereinigungen wirklich echte Wahlfehler aufgedeckt haben, sondern auch, ob diese Wahlfehler gegebenenfalls als mandatsrelevant einzustufen sind, ob sie durch eine Nachzählung oder gar durch eine Wiederholungswahl zu korrigieren wären und ob sich diese Maßnahmen auf den gesamten Wahlbereich oder nur auf einzelne Wahlbezirke zu erstrecken hätten. Hierbei können sich komplizierte Konstellationen ergeben. So könnte für die Mandatsrelevanz der fragwürdigen Nichtzulassung der B.H.V. entscheidend sein, ob die BiW auch nach einer etwaigen Nachzählung noch unter fünf Prozent der Stimmen liegt. In diesem Fall würde das Wahlprüfungsgericht möglicherweise die Mandatsrelevanz verneinen, weil es dann keinen Einfluss auf die Sitzverteilung gehabt hätte, wenn die B.H.V. bei der Bürgerschaftswahl ein bis zwei Prozent der Stimmen erhalten und diese Stimmen den anderen Parteien gefehlt hätten. Ergäbe aber eine etwaige Nachzählung der Stimmen, dass die BiW mehr als fünf Prozent der Stimmen erhalten haben, dann wäre auch die Nichtzulassung der B.H.V. plötzlich als mandatsrelevant einzustufen, da den BiW sonst die nötigen Stimmen zum Erreichen der Hürde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gefehlt hätten. Eine rechtswidrige Nichtzulassung der B.H.V. wäre aber in keinem Fall durch eine Nachzählung korrigierbar, sondern nur mit einer Wiederholungswahl.
Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse in der Bremischen Bürgerschaft hätte wohl selbst dies nicht. Auf SPD und GRÜNE entfielen bei der Wahl im Mai acht der fünfzehn Sitze im Wahlbereich Bremerhaven, die rot-grüne Mehrheit in der Bürgerschaft insgesamt beträgt sechs Sitze. Um diese bei einer Wiederholungswahl in Bremerhaven zu verlieren, müssten SPD und GRÜNE auf zusammen unter 20 Prozent der Stimmen abstürzen.
Mögliches Opfer einer Wiederholungswahl in Bremerhaven wäre hingegen der für die DVU in die Bürgerschaft gewählte Abgeordnete Tittmann. Dieser überwarf sich kurz nach der Wahl mit seiner Partei und hat die DVU mittlerweile verlassen. Bei einer Wiederholungswahl gelten gemäß § 41 Absatz 2 des Bremischen Wahlgesetzes (LWG) grundsätzlich die gleichen Kandidatenlisten wie bei der ursprünglichen Wahl. Das würde bedeuten, dass die DVU erneut mit Tittmann als Spitzenkandidat antreten müsste. Auf die bisher übliche großzügige Wahlkampfkostenerstattung aus der Münchner Parteizentrale müsste Tittmann dann aber sicherlich verzichten. Die Klausel in § 36 Absatz LWG, wonach aus der Partei ausgeschiedene Kandidaten bei der Listennachfolge nicht zu berücksichtigen sind, gilt ihrem Wortlaut nach nicht für die Neufeststellung des Wahlergebnisses nach einer Wiederholungswahl.
Sollte sich das Wahlprüfungsgericht gegen eine Wiederholungswahl, aber für eine vollständige Nachzählung entscheiden, läge es für die BiW angesichts der praxisüblichen Zählfehler eindeutig im Bereich des Möglichen, die 5 %-Hürde noch zu überwinden. In diesem Fall würde der BiW-Vorsitzende Jan Timke in der Bürgerschaft einziehen. Für ihn müsste der SPD-Abgeordnete Wolfgang Jägers seinen Platz räumen.
Eine endgültige Entscheidung wird am Montag voraussichtlich noch nicht fallen, selbst wenn das Wahlprüfungsgericht bereits direkt nach der mündlichen Verhandlung ein Urteil verkünden sollte: Gegen die Entscheidung kann innerhalb von zwei Wochen Beschwerde beim Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen eingelegt werden.
Kommentar:
Man muss die anti-bremische Attitüde der B.H.V. und die Polizeistaats-Phantasien der BiW. nicht sympathisch finden, um den Argumenten in den Wahleinsprüchen der beiden Wählervereinigungen im Ergebnis zuzustimmen.
Die Entscheidung des Landeswahlausschusses, der B.H.V. die Teilnahme an der Bürgerschaftswahl zu verweigern, findet keinen Rückhalt im Wahlgesetz. Der bewährte Grundsatz der Wahlpraxis, sich im Zweifel für die Zulassung einer Wahlbewerbung zu entscheiden, wurde hier in sein Gegenteil verkehrt, die Gültigkeit der Wahl dadurch fahrlässig aufs Spiel gesetzt.
Was die BiW an Wahlfehlern aufdecken konnten, ist leider gar nicht sensationell, sondern gibt lediglich den Blick frei auf die hierzulande üblichen Nachlässigkeiten bei staatlichen Wahlen. Diese mögen bei normalen Wahlergebnissen noch hinnehmbar sein, weil sie dann keine Auswirkung auf die Sitzverteilung haben. Sind sie aber bei einem derart extrem knappen Wahlergebnis festzustellen, dann darf auch der gravierende Schritt einer Wiederholungswahl kein Tabu sein. Um eine von taktischen Stimmabgaben geprägte Farce wie in Alsbach-Hähnlein zu vermeiden, sollte sich das Wahlprüfungsgericht aber tunlichst davor hüten, die Wahl nur in einzelnen Wahlbezirken wiederholen zu lassen.
Schlicht skandalös ist hingegen das Verhalten des Wahlbereichsleiters und Magistratsdirektors von Bremerhaven, Ulrich Freitag, der sich erst dreist der einstweiligen Anordnung des Verwaltungsgerichts widersetzt und die Einspruchsführer dann in seiner schriftlichen Stellungnahme verhöhnt. Auch das Vorgehen des Landeswahlleiters, den Bestand der Wahl anscheinend um jeden Preis und ohne Rücksicht auf die Qualität der eigenen Argumente zu verteidigen, wirkt befremdend und entspricht nicht der unparteiischen Amtsführung, die man von Wahlleitern in einer Demokratie erwarten darf.