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22.11.2005

Deklaration zu fairem Wahlrecht

Die Teilnehmer des Workshops Mathematics and Democracy – Voting Systems and Collective Choice (Meldung vom 6. August 2005) haben eine Deklaration erarbeitet, die Forderungen für ein faires Wahlrecht enthält.

Deutsche Übertragung des englischen Originals:

Deklaration der Teilnehmer des zweiten Workshops on Mathematics and Democracy
Erice, 18. bis 23. September 2005

Das Ziel der Forschung, die auf diesem Workshop präsentiert und diskutiert wurde, ist die Entwicklung und das Verständnis fairer und gerechter Wahlsysteme. Getragen von Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen – Mathematik, Politikwissenschaft, Ökonomie, Rechtswissenschaft, Statistik, Informatik, ... – gibt es einen Grundkonsens über Prinzipien, den die Teilnehmer teilen.

Wir sind der Überzeugung, dass ein gerechtes Wahlsystem für Parlamentswahlen folgende Eigenschaften haben soll:

  1. Transparenz und Einfachheit sollen gewährleistet sein. Wahlsysteme, deren Bestimmungen vom Wähler einfach zu verstehen sind, sollten gegenüber komplexeren bevorzugt werden. Außerdem sollten die historischen und rechtlichen Gegebenheiten eines Staates berücksichtigt werden.
  2. Gewährleistet Genauigkeit. Der Akt des Wählens – mit Stimmzetteln aus Papier, optischen Scannern, elektronischen oder anderen Hilfsmitteln – soll zuverlässig sein: der einzelne Wähler soll die Möglichkeit haben, zu verifizieren, dass seine Stimme richtig gezählt wurde. Dies ist heutzutage mit Hilfe kryptographischer Methoden über das Internet möglich.
  3. Fördert Wettbewerb und verhindert parteiische Verzerrungen. Das Wahlsystem sollte keine politische Gruppe gegenüber einer anderen bevorzugen. Insbesondere soll es die Wahl einer Mehrheit im Parlament aus einer Minderheit an Stimmen (so gut wie) unmöglich machen.
  4. Jede Stimme soll zählen. Kein Wahlsystem soll die Bürger entmutigen zur Wahl zu gehen; vielmehr soll es Beteiligung fördern.
  5. Macht das Parlament zu einem „Spiegel“ der Wählerschaft, der die unterschiedlichen „Wählerwillen“ zum Ausdruck bringt, jedoch aber regierungsfähig bleibt (zum Beispiel durch die Entstehung einer Mehrheit).
  6. Die Anreize strategisch zu wählen sollen möglichst gering sein. Das Wahlsystem soll die Wähler ermutigen, ihre wahren Präferenzen zum Ausdruck zu bringen.
  7. Schließt parteiische politische Kontrolle aus, indem die rechtliche und administrative Zuständigkeit für Wahlen an eine unabhängige Kommission abgegeben wird.

Wahlsysteme, in denen es Wahlkreise gibt, sollen folgenden weiteren Anforderungen genügen:

  1. Wahlkreise sollen sich an geographischen Gegebenheiten orientieren und kompakt sein.
  2. Politische Untergliederungen und Gemeinschaften sollen respektiert werden. Verwirrung durch unterschiedliche Distrikte, die für unterschiedliche Wahlen (lokal, regional, national) definiert werden, soll mit aller Anstrengung vermieden werden.
  3. Eine Neueinteilung der Distrikte soll regelmäßig vorgenommen werden, um demographischen Veränderungen Rechnung zu tragen (aber niemals als Reaktion auf parteiisches Verlangen). Gleichzeitig soll die Ungenauigkeit und die Kurzlebigkeit von Zensusdaten nicht vergessen werden.

Wissenschaft ist nötig, um Eigenschaften und Konsequenzen der Auswahl des einen oder anderen Wahlsystems zu verstehen. Eine „Wissenschaft“ von Wahlsystemen ist im entstehen und sollte dazu verwendet werden, neue Wahlsysteme zu entwickeln und bestehende zu reformieren. Unglücklicherweise lehrt die Geschichte, dass gewählte Vertreter wiederholt Wahlsysteme für ihre parteilichen Vorteile manipuliert und dem „Eindringen“ von wissenschaftlichen Ansätzen zur Entwicklung/zum Design von Wahlsystem widerstanden haben. Wenige Wähler begreifen das Ausmaß, in dem Manipulationen schwer wiegenden Einfluss auf die Wahlergebnisse bewirken, manchmal sogar, indem die Stimmen einer Minderheit auf eine Mehrheit im Parlament abgebildet wird.

Nur zu oft sind die Spieler des politischen Spieles eines Staates – die gewählten Vertreter – zur gleichen Zeit auch die Schiedsrichter des Spiels und sie ändern die Regeln, um sie neuen Gegebenheiten anzupassen. Man stelle sich nur den Aufschrei der Öffentlichkeit vor, wenn das Spiel Fußball wäre! Das ist der Grund, warum unabhängige Kommissionen nötig sind, die zusammen mit Fachleuten, die in der neu entstehenden multi-disziplinären Wissenschaft der Wahlsysteme geschult sind, dafür verantwortlich sind, dass allen neuen theoretischen und technologischen Entwicklungen Rechnung getragen wird.

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von Sebastian Maier (letzte Aktualisierung: 22.11.2005)