Protokolle

[Dokumente]

Innenausschuss

16. Wahlperiode

92. Sitzung

Protokoll Nr. 16/92

Berlin, Montag, 4. Mai 2009


Wortprotokoll

Öffentliche Anhörung

am Montag, 4. Mai 2009, von 13.00 Uhr bis 16.00 Uhr
Paul-Löbe-Haus, Raum E 200
10557 Berlin, Konrad-Adenauer-Str. 1

Vorsitz: Sebastian Edathy, MdB
Öffentliche Anhörung von Sachverständigen zum Gesetzentwurf der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes BT-Drucksache 16/11885
[...]
[Protokoll Nr. 16/92, S. 7] Vors. Sebastian Edathy: Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die heutige Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, die in Form einer Sachverständigenanhörung zu einem Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachen Bundeswahlgesetz stattfinden wird. 1
Ich darf Sie alle sehr herzlich begrüßen, insbesondere die Herren Sachverständigen. Mein Name ist Sebastian Edathy, ich bin Vorsitzender des Innenausschusses und werde die heutige Sitzung leiten. 2
Ich darf mich einleitend bedanken, dass die Sachverständigen der Einladung nachgekommen sind, um hier zum einen noch einmal ein mündliches Statement erfolgen zu lassen, zum anderen aber insbesondere den Fragen der Kolleginnen und Kollegen zwecks Beantwortung zur Verfügung zu stehen. 3
Ein Sachverständiger musste leider kurzfristig absagen, Herr Haefner, der gestern gestürzt ist, sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hat und auf ärztliches Anraten unserer heutigen Sitzung nicht beiwohnen wird. 4
Das Ergebnis dieser Anhörung dient dazu, die weiteren Beratungen des Gesetzentwurfes im Innenausschuss des Deutschen Bundestages zu befördern. Die Sachverständigen sind vorab gebeten worden, schriftliche Stellungnahmen zur Verfügung zu stellen. Für die eingegangenen Stellungnahmen darf ich mich bedanken. Sie sind an die Mitglieder des federführenden Innenausschusses und der mitberatenden Ausschüsse verteilt worden und werden darüber hinaus dem Protokoll der heutigen Sitzung beigefügt. Ich gehe davon aus, dass das Einverständnis zur Durchführung der Anhörung in öffentlicher Form seitens der Sacherständigen auch die Zustimmung zur Aufnahme ihrer schriftlichen Stellungnahmen in eine später noch zu erstellende Gesamtdrucksache beinhaltet. 5
Von der heutigen Sitzung wird anhand der Bandabschrift ein Wortprotokoll erstellt. Das Protokoll wird den Sachverständigen mit der Möglichkeit, im Einzelfall Korrekturen vorzunehmen, übermittelt werden, bevor es gemeinsam mit den schriftlichen Stellungnahmen als Gesamtdrucksache des Bundestages erscheint und dann auch ins Internet eingestellt werden kann. 6
Wie Sie bereits der Einladung entnehmen konnten, ist ein Zeitrahmen von maximal drei Stunden für die Anhörung vorgesehen. Diese wird übrigens auch live im Hauskanal des Deutschen Bundestages übertragen. Deswegen ist es hier im Saal relativ dunkel, weil es für solche Übertragungen keine fest installierten Systeme im Raum gibt und die beiden dafür geeigneten Sitzungssäle für zwei andere Anhörungen zeitgleich Verwendung finden. 7
[Protokoll Nr. 16/92, S. 8] Wir beginnen zunächst mit den mündlichen Stellungnahmen der Sachverständigen, die bitte eine Länge von 5 Minuten nicht überschreiten sollten. Anschließend beginnen wir mit der Befragung, wobei ich vorab schon die Mitglieder des Deutschen Bundestages bitten darf, diejenigen Sachverständigen konkret zu benennen, an die die jeweilige Frage gerichtet wird. Wenn Sie insgesamt mit diesem Verfahrensweg einverstanden sind, sollten wir so verfahren. 8
Ich erteile dann zunächst, weil Herr Haefner nicht da ist, Herrn Hahlen das Wort, bitte . 9
SV Johann Hahlen (Staatssekretär a. D.): Vielen Dank, Herr Vorsitzender. Ich möchte meine Stellungnahme wie folgt in einigen Punkten zusammenfassen. Erstens: Der Regelungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Juli 2008 ist eindeutig. Das negative Stimmgewicht ist zu beseitigen und dafür ist dem Gesetzgeber damals eine 3-Jahresfrist, und zwar in Kenntnis der im Herbst anstehenden Wahl des 17. Deutschen Bundestages, bis zum 30. Juni 2011 eingeräumt worden. 10
Zweitens: Weil der Gesetzgeber Gestaltungsspielräume im Wahlrecht hat, und darauf weist das BVerfG ausdrücklich hin, muss er ausreichend Zeit zur Prüfung der Regelungsalternativen haben. Vor- und Nachteile mit Blick auf das Wahlrecht insgesamt sind von ihm in den Blick zu nehmen. Anhörungen der Parteien und deren Landesverbände müssen stattfinden. Das Gericht geht davon aus, dass der kurze Zeitraum bis April 2009 – es ist der Auffassung, dass bis dahin spätestens eine Novelle vor der nächsten Wahl vorliegen müsse – die Gefahr birgt, dass Alternativen nicht in notwendiger Weise bedacht oder erörtert werden könnten. Es gibt keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit zur Reparatur vor dem 27. September 2009. Wenn Herr Prof. Mahrenholz in Auslegung der Art. 38 und 39 jetzt zu einem anderen Ergebnis kommt, so hätte das BVerfG diese Übergangsfrist von drei Jahren überhaupt nicht einräumen dürfen – dieses hat es aber gerade getan. Von daher gibt es keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit. 11
Wenn man – drittens – den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in den Blick nimmt, so ist es in der Tat so, dass man bei der Beseitigung dieses inversen Erfolgswerts oder des negativen Stimmgewichts an drei Stellschrauben ansetzen kann. Einmal die Abschaffung der Überhangmandate, zweitens die Listenverbindung und drittens die Unterverteilung zwischen den Landeslisten der Parteien. Das BVerfG hat einige Abhilfemodelle genannt. Zum einen, dass die Überhangmandate schon bei der Oberverteilung zu berücksichtigen seien, dass man auf Listenverbindungen verzichten, oder ein Grabensystem einrichten könne. Dieses ist zu ergänzen. Diese Abhilfemodelle sind bei weitem nicht die einzigen, es sind eine ganze Reihe anderer Modelle denkbar, z. B. Einführung von Bundeslisten, Mehrheitswahl in einem oder mehr Mandatswahlkreisen, Verhältniswahl – ganz rein durchgeführt oder mit Bonussystemen. Die drei vom BVerfG in den Blick genommenen Modelle lassen auch wieder ganz unterschiedliche Ausformungen zu. Nach meiner Einschätzung sind vor der [Protokoll Nr. 16/92, S. 9] Bundestagswahl am 27. September 2009 allerdings nur noch so genannte Kompensationsmodelle möglich, weil andernfalls die Wahlbewerberaufstellung tangiert wäre und diese Wahlbewerberaufstellung ist flächendeckend nahezu abgeschlossen. Aus meiner praktischen Erfahrung bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass der Gesetzgeber bis Ende Juni den Wahlorganen Klarheit schaffen müsste. Ich bin kurzfristig darauf hingewiesen worden, dass dieser Zeitraum möglicherweise, weil die Software-Erstellung ausgeschrieben werden muss, etwas zu lang bemessen ist. Das vom BVerfG genannte Datum April ist aus meiner Sicht kein Stoppsignal, sondern der Gesetzgeber könnte schon bis Ende Mai oder Mitte Juni noch eine neue Lösung finden. 12
Einen vierten, ganz wichtigen, Punkt möchte ich betonen: Wenn man sich für eines dieser Kompensationsmodelle – es gibt etwa vier oder fünf in der Diskussion – entscheidet, so sind diese Kompensationsmodelle nicht trivial, ganz im Gegenteil. Man sieht es schon alleine daran, dass die entscheidenden Regelungen, die von den Fachleuten vorgeschlagen worden sind, sehr dunkel geblieben sind. Wenn man den Aufsatz von Herrn Prof. Meyer liest, der sein Modell überschreibt mit „Beseitigung der Überhangmandate durch Abzug der Direktmandate vor Verteilung der übrig bleibenden 299 Listensitze auf die einzelnen Landeslisten“, so könnte man den Eindruck bekommen, dass er sein Modell von 1995 meint. Aber wenn man seinen Text liest, dann hat er einen anderen Rechengang, dann zieht er nämlich bei der Unterverteilung etwa anfallende Überhangmandate ab. Ähnlich ist es bei dem jetzt in Rede stehenden Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der entscheidende § 7a Abs. 7 ist dunkel, um nicht zu sagen: unvollständig formuliert. Er wird nur verständlich aus der Begründung und auch da kommt man zu dem Ergebnis, es sollen die Überhangmandate bei der Unterverteilung abgezogen werden. 13
Was Herr Prof. Pukelsheim vorschlägt, das ist eine Setzung, dass nämlich die Landeslistenzahl nicht kleiner als die Zahl der errungenen Wahlkreise werden kann, – ein anderes Rechenmodell. Schließlich gibt es das Rechenmodell des Repräsentanz fördernden Kompensationsmodells, welches das Innenministerium schon 1996 der Reformkommission zur Verkleinerung des Bundestages zu bedenken gegeben hat. Dort werden bei der Unterverteilung alle Wahlkreismandate in den Ländern, in denen Überhangmandate entstehen, abgezogen. 14
Was Herr Zicht vorschlägt, ist auch unklar. Wenn man seinen § 6 Abs. 4 nimmt, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass er das alte „Meyer-Modell“ von 1995 meint. Wenn man aber seinen § 7 Abs. 1 Satz 2 liest mit der Überspringensregelung, dann verteilt er doch wieder alle Sitze. Der Teufel steckt hier im Detail und der Gesetzgeber wird sehr intensiv den Rechenweg und die Berechnung zu überlegen haben. 15
Fünftens kommt hinzu, dass es bei allen Kompensationsmodellen das CSU-Problem geben wird. Das heißt, wenn für die CSU Überhangmandate anfallen sollten, ist keine Kompensation möglich. Herr Prof. Meyer schlägt hier vor, dann einfach den schwächsten Wahlkreissieger der CSU zu streichen. Ich halte das für grob verfassungswidrig. [Protokoll Nr. 16/92, S. 10] Aber auch die Lösung von Ausgleichsmandaten ist mit großen Problemen behaftet. 16
Zusammenfassend gesagt: Wenn das BVerfG dem Gesetzgeber aufgegeben hat, eine neue normenklare und verständliche Grundlage für die Sitzverteilung zu schaffen, so muss man sich fragen, ob die vorliegenden Vorschläge dieses schon leisten, denn die Regelungen sind sehr schwierig, um nicht zu sagen, dunkel formuliert. Es gibt verschiedene Rechengänge, die durchlaufen werden müssen. Ob damit schon die normenklare und verständliche Grundlage geschaffen wird, muss man sich fragen. 17
Ich füge noch Folgendes hinzu: Wenn der Gesetzgeber tätig wird, wird er das Berliner Zweitstimmenproblem zu lösen haben, das bei der Bundestagswahl 2002 aufgetreten ist, indem er den § 6 Abs. 1 Satz 2 ergänzt und es wird auch eine Regelung für die Nachfolge in diesen Fällen bei Mandatsverlust geben müssen. 18
Damit komme ich zum Schluss: Die Baustelle Bundestagswahlrecht ist mit vielen Problemen versehen. Es gibt allgemeine Probleme, die in der letzten Zeit diskutiert werden, wie das Wahlrecht von Geburt an, Herabsetzung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre, Internetwahl, Wahlgeräte, Abschaffung oder Anhebung der Grundmandatsklausel, Dauer der Wahlperiode, begrenzt offene Listen, Nachwahlproblematik und vieles mehr. Alles das wird der Gesetzgeber vor der Wahl des 17. Deutschen Bundestages nicht mehr lösen können. Andererseits ist nach meinem Eindruck... 19
Vors. Sebastian Edathy: Herr Sachverständiger, darf ich auf die Zeit hinweisen. 20
SV Johann Hahlen: Noch zwei Sätze. Andererseits sind Überhangmandate wahrscheinlich bei der nächsten Wahl zu erwarten, wenn das Wählerverhalten so bleibt, wie wir das in den letzten Jahren erlebt haben. Der Gesetzgeber wird deshalb zu prüfen haben, ob er den Wahlfehler des negativen Stimmgewichts, der in der Lebenswirklichkeit bei weitem nicht so groß ist, wie man bei der Lektüre des Urteils des BVerfG annehmen könnte, noch beseitigt, oder ob er eine sorgfältige und große Wahlrechtsreform in der nächsten Wahlperiode vorlegt. Ich bedanke mich. 21
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank, Herr Hahlen. Das Wort hat jetzt Prof. Dr. Lang. 22
SV Prof. Dr. Heinrich Lang (Universität Rostock): Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren, ich bin weder als Wissenschaftler noch als Vorlesender in der Vorlesung gewohnt, mich so kurz und prägnant auszudrücken, wie Sie das immer können. Ich hoffe aber, die Zeit nur ganz knapp zu überschreiten. Das BVerfG hat im Juli 2008 entschieden, dass bestimmte Vorschriften des Bundeswahlgesetzes (BWG) die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl verletzen, soweit hierdurch das Phänomen des so genannten negativen Stimmgewichtes ermöglicht wird. In Anbetracht der Komplexität der Materie und des Gebots richterlicher Selbstbeschränkung hat das BVerfG dem Gesetzgeber keine verbindliche Lösung [Protokoll Nr. 16/92, S. 11] vorgeschrieben. Das Gericht hat in der Entscheidung vielmehr sowohl systemimmanente Korrekturen als auch Veränderungen des gesamten Wahlsystems – etwa die Einführung des Mehrheitswahlrechts – in Betracht gezogen. Für welche Alternative man sich auch entscheidet, jeder dieser oder auch weiterer Möglichkeiten führt zu erheblichen Auswirkungen auf das Wahlsystem und damit auch auf die Parteienlandschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Der hier zu beurteilende Gesetzentwurf zielt nach seinem § 7 Abs. 7 auf eine bundesweite Verrechnung von so genannten internen Überhangmandaten ab. Würde eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielen als ihr nach Zweitstimmen zustehen würden, so soll den anderen Landesverbänden der Partei durch eine nachträgliche Erhöhung des zunächst nach § 7 Abs. 2 errechneten Parteidivisors eine entsprechende Anzahl Sitze im Bundestag abgezogen werden, bis die Sitzzahl der Unterverteilung der nach der Oberverteilung entspricht. Als Regelungsziele nennt der Gesetzentwurf zunächst die Beseitigung der negativen Stimmgewichte sowie die Beförderung von Normenklarheit und Transparenz des nicht gerade leicht verständlichen Wahlrechts. Soweit mir mathematisch ersichtlich ist, wird ein Auftreten von negativen Stimmgewichten mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verhindert. Ich möchte aber am Rande hinzufügen, negative Stimmgewichte gibt es nicht nur bei Bundestagswahlen, sondern auch bei Volksabstimmungen oder bei Landtags- oder Kommunalwahlen. 23
Im Hinblick auf die erwünschte Normenklarheit und -verständlichkeit ist positiv zu bewerten, dass die unterschiedlichen Rechenschritte in § 7 und § 7a des Gesetzes in einer logischen und gut nachvollziehbaren Reihenfolge abgearbeitet werden. Allerdings erscheint der Entwurf unter Klarheits- und Verständlichkeitsgesichtspunkten aus meiner Sicht nicht nur im Hinblick auf § 7a und insbesondere dessen Absätze 5 und 7 – ich möchte es einmal euphemisch sagen – noch diskussionswürdig. Leider lässt der Entwurf im Interesse einer zeitnahen Reform des Wahlrechts zahlreiche Problemfelder – Herr Hahlen sprach von den Baustellen des Wahlrechts –, die zum Teil im engen Zusammenhang mit den negativen Stimmgewichten stehen, unberücksichtigt. Ich darf ebenfalls wie Herr Hahlen in diesem Zusammenhang auf das ungelöste Problem der so genannten Berliner Zweitstimmen hinweisen. Dazu enthält der Entwurf keine Regelung. Zwischen beiden Phänomenen, den negativen Stimmgewichten und den Berliner Zweitstimmen, mag kein unmittelbarer Zusammenhang bestehen. Das BVerfG indessen sieht negatives und doppeltes Stimmgewicht als ein durch den Gesetzgeber in einem Aufwasch zu lösendes Problem. Anders wäre es nicht zu verstehen, dass das Gericht Anfang des Jahres – im Januar – eine explizit gegen die Berliner Zweitstimme gerichtete Wahlprüfungsbeschwerde mit der Begründung als erledigt angesehen hat, an einer Entscheidung bestünde auf Grund der Entscheidung des Senats zum so genannten negativen Stimmgewicht nun kein öffentliches Interesse mehr. Zudem dürfte, und das müsste auch für die Abgeordneten von Bedeutung sein, den Wählern nur schwer vermittelbar sein, wenn der Bundestag unter Berufung auf den vermeintlich unhaltbaren Zustand auf verfassungswidriger Grundlage gewählt zu werden, jetzt eine Ad-hoc-Korrektur der negativen Stimmgewichte anstrebt, das Auftreten des [Protokoll Nr. 16/92, S. 12] verfassungsrechtlich gleichermaßen bemakelten doppelten Stimmerfolges aber auch bei der anstehenden Wahl ohne weiteres hinnähme. 24
Nicht wenige vom BVerfG in seiner Entscheidung teilweise sogar ausdrücklich erwähnten Lösungsalternativen – Übergang zum Grabensystem oder zum Mehrheitswahlrecht – sind zudem vor der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag nicht mehr zu realisieren. Ihre Diskussion, auch im Sinne einer die Integrationskraft der wahlbefördernden gesellschaftlichen Akzeptanz und sachgerechten Prüfung, wird ohne Not geopfert. Aus meiner Sicht steht das auch in einem Spannungsverhältnis zum Mandat des Abgeordneten aus Art. 38 GG, Alternativen abzuschneiden. Am meisten liegen mir neben den föderalen Friktionen, auf die ich aus Zeitgründen nicht weiter eingehen kann, die verfassungsrechtlichen Risiken am Herzen, die aus meiner Sicht mit dem Gesetzentwurf verbunden sind. Nach § 7 Abs. 5 wird nach dem ersten Berechnungsdurchlauf geprüft, ob eine Landesliste mehr Direktmandate erzielt hat, als ihr nach Zweitstimmen zustehen würde. Bereits nach diesem ersten Durchgang steht die Zusammensetzung des Bundestages gleichsam vorläufig fest – § 7 Abs. 5 definiert die so errechneten Sitze sogar legal als Sitzzahl einer Landesliste. Hat keine Landesliste Überhangmandate erzielt, bleibt es bei dieser Zusammensetzung der Landeslisten und damit des Bundestages. Sind jedoch Überhangmandate zustande gekommen, wird die Berechnung erneut mit einem erhöhten Parteidivisor durchgeführt. Dabei wird dann einer entsprechenden Anzahl von Listenkandidaten quasi das Mandat wieder entzogen, was vorher § 7 Abs. 5 legal definiert hat. Eine derartige Vorgehensweise dürfte die Kritik der wieder gestrichenen Kandidaten nach sich ziehen, dass eine solche Verrechnung nicht verhältnismäßig sei. Zumal das BVerfG Überhangmandate weder im Urteil von 1997 noch in dem zu den negativen Stimmgewichten für verfassungswidrig erklärte. Das verfassungsrechtliche Risiko besteht nun darin, dass sowohl Wähler in den betreffenden Bundesländern als auch weggerechnete Kandidaten sich nicht mit bloßer Kritik begnügen könnten, sondern die Gültigkeit der Wahl im Einspruchs- bzw. Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren in Frage stellen könnten. Gewählt wird mit der Zweitstimme nicht eine Partei, sondern die Landesliste einer Partei. 25
Nicht nur diese Risiken sprechen gegen eine schnelle Lösung, die das BVerfG weder angemahnt noch erzwungen hat. Im Gegenteil, das Gericht hat vor übereilten Korrekturen gewarnt und den Gesetzgeber gerade nicht zu einer schnellstmöglichen Wahlrechtsänderung aufgefordert. Es hat hierzu in seinem Urteil wörtlich ausgeführt: „Die Normen, auf denen der Effekt des negativen Stimmgewichts beruht, sind Bestandteil eines komplexen Regelungssystems“. Die Behebung der Verfassungswidrigkeit dieser Normen betrifft das gesamte Berechnungssystem der Sitzzuteilung. Selbst eine geringfügige Änderung des Bundeswahlgesetzes führt in der vorliegenden Konstellation möglicherweise zu weitreichenden strukturellen Veränderungen. Geradezu beschwörend ergänzt das Gericht: „Der Effekt des negativen Stimmgewichtes lässt sich daher nicht isoliert beheben, sondern erfordert grundlegende Vorarbeiten, die die verschiedenen Vor- und Nachteile in den Blick nehmen.“ Ganz offensichtlich begreift das BVerfG das geltende Wahlrecht als kompliziertes Räderwerk, [Protokoll Nr. 16/92, S. 13] in dem vieles ineinander greift und Änderungen an einer Stelle sich an anderer Stelle auswirken können. Es gibt nicht eine große Stellschraube, an der der Gesetzgeber drehen und sicher sein kann, dass ein verfassungsmäßiges Wahlrecht herauskommt. Ich plädiere vor diesem Hintergrund für eine umfassende Reformdiskussion von ruhiger Hand, die verfassungsrechtliche Risiken minimiert und ohne Wahlkampflärm erfolgen kann. Wichtig und zwingend notwendige Reformoptionen jedenfalls sollten umfassend geprüft und erörtert werden, nicht zuletzt um auf die Integrationswirkung der Wahl auch in einem breiten und länger angelegten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs Konsens zu erzielen. Zu relevanten Reformüberlegungen zähle ich... 26
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Dr. Lang, es wird sehr lang. 27
SV Prof. Dr. Heinrich Lang: Der letzte Satz: Zu diesen relevanten Reformüberlegungen zähle ich die aus meiner Sicht erneut überdenkenswürdige Altersgrenze im Wahlrecht bis hin zur Debatte um das so genannte Kinderwahlrecht – vergleichbar hinsichtlich des Ausländerwahlrechts –, das Problem der so genannten Berliner Zweitstimmen und dem nach wie vor vollständig defizitären subjektiven Rechtsschutz in Wahlangelegenheiten, der nun wirklich ein echtes rechtsstaatliches Skandalon darstellt. Vielen Dank! 28
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank! Das Wort hat Prof. Dr. Mahrenholz, bitte. 29
SV Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz (Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a. D.): Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren, ich danke für die Einladung und beschränke mich auf die Frage, ob es dem Bundestag freisteht oder nicht, jetzt zur nächsten Bundestagswahl das Wahlgesetz zu ändern. Das BVerfG hat sich im einschlägigen Urteil unter Nr. 2 so verhalten: „Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen“. So weit das Zitat. Die erste Frage ist: Reicht diese Legitimation für eine Verschiebung der Novelle in die nächste Legislaturperiode? Das Grundgesetz (GG) besagt, dass seine Normen den Bundestag unmittelbar treffen und unmittelbar binden. Der Gesetzgeber muss sein Handeln auf das GG zurückführen, wenn Normen des GG berührt sind. Das BVerfG nimmt ihm aber die Verantwortung dort ab, wo es das GG auslegt und diese Auslegung den Bundestag bindet, mag er auch anderer Auffassung sein. Diese Bindung gilt z.B. hinsichtlich der den Art. 38 verletzenden Bestimmungen des BWG, die der Tenor des Urteils unter Nr. 1 bezeichnet. Für eine Fristeinräumung bis 2011 gibt es eine solche Bindung nicht. Gibt es aber keine Bindung, dann gibt es auch keine Legitimation für die Handlung des Gesetzgebers. Das Gericht bindet durch einen Richterspruch und sonst nicht. Wenn das Urteil des BVerfG den Bundestag nicht dahin bindet, dass er bis 2011 Zeit hat, ist die Frage: Kann er sich trotzdem die Zeit nehmen, weil das BVerfG dies gesagt hat? Antwort: Nein. Wo das BVerfG nicht bindet, untersteht das Handeln des Gesetzgebers den Normen des GG. 30
[Protokoll Nr. 16/92, S. 14] Es lautet also die zweite Frage: Was besagt das GG? Es enthält zwei Bestimmungen – Art. 38 Abs. 1 Satz 1, der davon spricht, dass es fünf Wahlgrundsätze gibt, die im Wahlrecht verwirklicht werden müssen, und Art. 39 Abs. 1 Satz 1, wo es heißt, dass wir alle vier Jahre zu wählen haben. Der erste Satz aus Art. 38 verpflichtet also den Bundestag zusammen mit dem Art. 39 auf eine vierjährige Wahlperiode, die nach den fünf Wahlgrundsätzen und alle vier Jahre stattzufinden hat. Verfassungssystematisch könnte der Art. 39 ohne weiteres in Art. 38 eingefügt werden, weil er mit Art. 38 eine untrennbare Einheit bildet. Keine der Bestimmungen ist nach der Logik des demokratischen Gedankens, der das GG beherrscht, ohne die andere vorstellbar. Beiden Grundsätzen ist als eine untrennbare normative Einheit im Wahlgesetz Geltung zu verschaffen. Ein Bundestag, der gleiches und unmittelbares Wahlrecht zu verwirklichen hat, muss dies für jede Wahlperiode tun. Distanziert er sich von dieser Verpflichtung, stellt er sich über das GG. Um einen Vergleich heranzuziehen: in der Reform der Erbschaftssteuer hat das Gericht eine angemessene Frist gesetzt und diese angemessene Frist war für den Bundestag bindend, obwohl das eine Bindung ist, die etwas anders aussieht. Die Verfassung sagte nichts dazu. Aber in der Wahlrechtsnovellierung hat das GG in Art. 39 einen unüberhörbaren Zeithorizont vorgegeben. So wenig wie das BVerfG den Zusammenhang zwischen Art. 38 und 39 auflösen kann, kann dies der Bundestag. Diese Bestimmungen besagen, jede Wahl muss den fünf Wahlgrundsätzen entsprechen, einen Spielraum neben der Verfassung gibt es nicht. 31
Natürlich fragt man sich als ehemaliges Mitglied des Senats, wie es zu der weit ausgreifenden Ermächtigung des Gerichts an den Bundestag kommen konnte. Darüber gibt es inzwischen schon die verschiedensten Spekulationen, ich will mich an ihnen nicht beteiligen. Ich bemerke nur, dass lediglich die vom BVerfG vorgenommene Einschätzung des notwendigen legislatorischen Spielraums dazu gedient hat, den unauflöslichen Zusammenhang der Art. 38 und 39 zu überspielen. Die Voraussetzung ist meines Erachtens durch die Entwicklung der letzten Wochen und Monate fragwürdig geworden. Weiter könnte eine Bundestagsmehrheit locker meinen, dass das Gericht dem Bundestag im Vorhinein für eine Wahl unter Verstoß gegen Art. 38 absolviert hat, also der Bundestag das Gericht nicht zu fürchten braucht? Oder würden damit der Minderheit schnelllebige Argumente für den Wahlkampf geliefert? Ich lasse es bei den Fragen bewenden und bin bei meinem Schlussgedanken: Wie will der Bundestag ein Stillhalten gegenüber den Wählern verantworten? Der Leitsatz 1 des Urteils spricht davon, dass es das gegenwärtige Wahlrecht ermöglicht, ich zitiere wörtlich: „dass ein Zuwachs von Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann.“ Im Urteil selbst wird der Senat deutlicher – ich zitiere: „Der Effekt des negativen Stimmgewichts beeinträchtigt die Stimmengleichheit bei der Wahl zum Deutschen Bundestages in eklatanter Weise. Ein Wahlsystem, das in typischen Konstellationen zulässt, dass ein Zuwachs von Stimmen zu Mandatsverlusten führt und dass für den Vorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn weniger Stimmen entfallen, führt zu willkürlichen Ergebnissen…“ – das ist das schärfste Verwerfungsprädikat, [Protokoll Nr. 16/92, S. 15] das das BVerfG überhaupt kennt – „… und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen.“ Ob dies geschehen soll, ist die Frage, vor der der Bundestag steht. Die Frage, ob dem Volk ein Wahlgesetz vorenthalten wird, in dem jede Stimme einen positiven Zählwert und Erfolgswert hat. Unter den vielen Gleichheitsaspekten, die ein Wahlgesetzgeber zu beachten hat, ist dies die schlichteste und grundlegendste Forderung der Wahlrechtsgleichheit überhaupt, Gleichheit der Wähler im Erfolgs- und Zielwert. 32
Zusammengefasst: Die Art. 38 und 39 sind im Sinne zwingenden Rechts dahin auszulegen, dass nach dem gegenwärtigen Wahlrecht nicht gewählt werden darf. Danke! 33
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank! Das Wort hat Prof. Dr. Meyer, bitte. 34
SV Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Meyer: Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren, wenn ein Wahlgesetz so ist, dass das Gericht sagen kann, der Effekt des negativen Stimmgewichts beeinträchtigt die Integrations- und Legitimationsfunktion der Wahl tiefgreifend, weil der Wähler weder Erfolgswert noch Erfolgschance seiner Stimme vorhersehen kann und der Wählerwille in sein Gegenteil verkehrt wird, ohne dass der Wähler sich darauf einstellen kann, kann ich mir nicht vorstellen, welchen Grund es gibt, das Wahlgesetz in diesem Punkt nicht zu korrigieren. Herr Hahlen hat eine Reihe von Möglichkeiten erwähnt, die man auch noch ändern könnte – Berliner Stimmrecht. Herr Hahlen, wenn Sie die Berliner Sache ändern, dann müssen Sie das Zweitstimmensystem abschaffen. Doppelte Stimmmöglichkeit haben alle FDP-Wähler in Baden-Württemberg und nutzen das auch. Das ist eine große Masse, in Berlin waren es nur wenige. Das heißt, wenn Sie das ändern, dann möchte ich einmal sehen, was die FDP dazu sagen würde. Das heißt, es kommt gar nicht darauf an, ob man die Berliner Stimmen nimmt und das Gericht auch nicht sagt, sie müssen genommen werden. Die FDP wäre sicher sehr unglücklich, wenn das Gericht gesagt hätte, es müsste geändert werden. Alle diese Dinge wie Kinderwahlrecht und Sonstiges kann man machen, aber es geht nicht darum, was man machen kann, sondern dass man verhindern muss, dass nach einem Wahlrecht gewählt wird, das so katastrophal ist, dass es kein Wahlrecht mehr ist. Es ist kein Wahlrecht, wenn man eine Stimme für eine Partei gibt und sie wird gegen die Partei gewertet. Das ist kein Wahlrecht, das hat noch nicht einmal etwas mit Gleichheit und Unmittelbarkeit zu tun, sondern der Grund der Wahl ist vielmehr in einem solchen Fall zerstört. Da sitzen Sie ein ganzes Jahr herum und tun nichts, nur weil das Gericht … 35
– Einwürfe: nicht rekonstruierbar – 36
SV Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Meyer: Ich kenne von keiner Partei Überlegungen, wie man aus dem Schlamassel heraus kommt, sondern nur die Überlegung, die nächste Wahl müssen wir möglicherweise noch gewinnen und dann haben wir es sowieso in der Hand, wie wir es machen. Dies ist kein hinreichendes Argument, ein so gravierend verfassungswidriges Wahlgesetz zu nehmen. Herr Hahlen hat gemeint, unsere [Protokoll Nr. 16/92, S. 16] Vorschläge seien zu kompliziert. Die sind gar nicht kompliziert, die sind höchst einfach. Es ist ein sehr minimaler Eingriff in das Wahlsystem und nur die Berechnung am Ende wird eine andere. Es ändert sich überhaupt nichts an der Tatsache, dass Stimmen aus anderen Ländern für Mandate in anderen Ländern genutzt werden. Das ist heute auch der Fall. Der Systembruch besteht nur darin, dass man es bei der heutigen Berechnung akzeptiert, bei der Berechnung, die wir vorschlagen, wird es aber als fürchterlich angesehen. Das ist in sich widersprüchlich, d. h., hier geht es einzig und allein um die Tatsache, was versprechen sich die einzelnen Parteien von einem Wahlrecht, das mit einem solch schweren Makel verbunden ist, bei der nächsten Bundestagswahl. So simpel ist das, ich sehe keinen anderen Grund. Ich überlege mir, ob Sie wirklich dem Gericht unterstellen wollen, dass es für den jeweiligen Nutznießer dieses verfassungswidrigen Wahlgesetzes eine Frist gegeben hat, damit Sie die nächste Wahl gewinnen können. Das müssten Sie machen. 37
– Einwürfe: nicht rekonstruierbar – 38
SV Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Meyer: Ich sage es ja. Weil wir gesagt haben, dass das Ding so kompliziert zu regeln ist. Dies stimmt nicht, das ist ein Irrtum... 39
– Einwürfe: nicht rekonstruierbar – 40
Vors. Sebastian Edathy: Herr Grindel, die Befragung erfolgt nach dem Statement. 41
SV Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Meyer: Es heißt, es geht um die Frage, ob es nicht komplex ist, ein so gravierend verfassungswidriges Wahlrecht ohne einen sinnvollen Grund, und den hat man hier nicht, zu regeln. Ob man später das Grabensystem macht – machen Sie das einmal der FDP klar, dass Sie das Grabenwahlsystem einführen –, das ist eine Frage, die Sie auch in der nächsten Wahlperiode noch regeln können. Hier ist nur vorgeschlagen, dass wir den Verstoß, der festgestellt worden ist, beseitigen. Dieser ist relativ leicht zu beseitigen und stört das Wahlverfahren nicht. Danke schön! 42
Vors. Sebastian Edathy: Das war überraschend im Rahmen der Zeit. Herr Prof. Dr. Pukelsheim, bitte. 43
SV Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim: Sehr geehrter Herr Vorsitzender, meine sehr geehrten Damen und Herren Bundestagsabgeordneten, das negative Stimmengewicht fristete lange Zeit ein Schattendasein. Es war bekannt auch unter den Experten und kam auch in der Literatur vor, wurde aber erst durch die Nachwahl 2005 in das allgemeine Bewusstsein katapultiert. Bei der Nachwahl in Dresden I war es so, dass es tatsächlich eine Rolle spielte und dass ungefähr 10.000 Wähler das auch kapierten und ihr Wahlverhalten danach richteten. Wenn ich vergleiche, was die bisherigen Wahlergebnisse in diesem Wahlkreis waren, und was 2005 im Umfeld passierte, da kann man guten Gewissens sagen, es waren 10.000 Wähler, die darauf reagiert haben. Darauf können wir stolz sein. Das zeigt, dass das Wahlrecht bei den Leuten ankommt, [Protokoll Nr. 16/92, S. 17] es wird verstanden und es ist insgesamt eine Erfolgsgeschichte. Jetzt , wo es im Bewusstsein ist, muss man sich fragen: Wo tritt es auf? Es tritt in allen Bundesländern auf, wo bislang Überhangmandate angefallen sind. Es tritt auch zusätzlich in den Bundesländern auf, wo die Zahl der Direktmandate genau gleich der Zahl der Verhältnismandate war, weil dort durch eine kleine Dosis negatives Stimmgewicht Überhangmandate eingeführt werden können. Es sind die folgenden Bundesländer, die im Jahr 2005 bei der letzten B undestagswahl diesem Effekt ausgesetzt gewesen waren: Erstens – Mecklenburg-Vorpommern, zweitens – Hamburg, drittens – Bremen, viertens – Brandenburg, fünftens – Sachsen-Anhalt, sechstens – Sachsen, siebtens – Thüringen, achtens – Baden-Württemberg, neuntens – das Saarland. 9 von 16 Bundesländern werden in der nächsten Wahl diesem negativen Stimmgewicht mit dem Bewusstsein, was in 2005 gewachsen ist, ausgesetzt sein. Wenn man die Wähler ansieht, die dort zusammenkommen, dann waren es bei der Wahl 2005 15 090 975 gültige Zweitstimmen. 15 Millionen Wähler von insgesamt 45 430 381 gültigen Zweitstimmen 2005. Es wird bei der nächsten Wahl ein Drittel der Wählerschaft diesem negativen Stimmgewicht ausgesetzt sein. 44
Damit komme ich zu dem Entwurf. Der Entwurf beseitigt dieses negative Stimmgewicht. Das ist mein relativ kurzer Beitrag als Mathematiker in dieser Sitzung. Mit dem Entwurf wird das negative Stimmgewicht beseitigt. 45
Es bleibt natürlich die Frage, ob es im Wahlsystem umsetzbar ist für die nächste Wahl, die im September stattfindet und wo schon viele Wahlvorbereitungen getroffen worden sind. Da möchte ich in erster Linie auch wieder die Wählerinnen und Wähler erwähnen, denn müssen die Wähler jetzt umlernen? Nein, das ist nicht der Fall, wir brauchen keine nationale Erziehungsaktion, dass wir ein ganz neues Wahlsystem haben. Mit genau der Vorstellung, wie wir es bisher vermittelt haben, wenn dieser Entwurf zur Entfernung des negativen Stimmgewichts umgesetzt wird, gehen die Wähler wählen. Vor dem Hintergrund, was ich vorher gesagt habe, merken Sie, dass das eine krasse Untertreibung ist, wenn nicht sogar falsch. Richtig ist, nur mit der Umsetzung des Gesetzentwurfs können die Wählerinnen und Wähler so wählen gehen, wie sie es sich bisher vorgestellt haben. Nur, wenn dieses negative Stimmgewicht beseitigt ist, ist es so, dass sie in der Wahl mit ihrer Stimme die Partei ihrer Wahl auch tatsächlich befördern. Wenn nichts getan wird und das alte Bundeswahlgesetz gültig bleibt, dann wird ein Drittel der Wählerschaft nicht so wählen können, mit dem Bewusstsein, dass ihre Zweitstimme auch der Partei ihrer Wahl zum Vorteil gereicht. 46
Wie war das in Dresden, wie haben die 10.000 Wähler das dort vermittelt bekommen? Durch die Presse und durch die Medien. Ich möchte behaupten, dass bei der nächsten Bundestagswahl die Presse und die Medien das auch wieder den Wählern präsentieren, das ist schließlich die Aufgabe einer freien Presse, den Leuten, die Bedingungen der Wahl zu vermitteln. Wenn die Begeisterung für das Wahlsystem so weiter anhält wie in Dresden, werden die Wählerinnen und Wähler zuhören und präsentiert bekommen: Hört, wenn ihr Glück habt, dann ist das mit der Zweitstimme [Protokoll Nr. 16/92, S. 18] tatsächlich gut, wenn ihr Pech habt, ist die Zweitstimme für eure Wahl negativ. Genaues können wir euch nach der Wahl sagen, ob ihr ins Abseits gelaufen seid oder nicht, dann müsst ihr nach der Wahl die Zeitung lesen. Können wir das verhindern? Meiner Ansicht nach mit der Pressefreiheit, die wir haben, nicht. Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist die Lebensweisheit des früheren amerikanischen Präsidenten Richard Nixon: „Wenn die Zahnpasta erst einmal aus der Tube draußen ist, bringt man sie nur sehr schwer wieder zurück“. 47
Der zweite Schritt ist von den Wählerinnen und Wählern zu den Kandidatinnen und Kandidaten. Wenn dieser Entwurf umgesetzt wird, um das negative Stimmgewicht zu entfernen, wird es dann das Werbeverhalten der Parteien und Kandidaten ändern? Die Antwort ist nein. Es gilt dasselbe, was ich eben gesagt habe, das ist eine krasse Untertreibung, wenn nicht sogar falsch. Richtig ist, nur mit der Umsetzung dieses Entwurfs zur Entfernung des negativen Stimmgewichts werden Sie und Ihre Kollegen um die Stimmen so werben, wie Sie es bisher gewohnt sind. Denn sonst bleibt das alte Gesetz in Kraft und Sie werden auf Ihren Wahlveranstaltungen von den Journalisten befragt werden: Wie ist das denn mit dem negativen Stimmgewicht in Ihrem Bundesland, tritt es auf, tritt es nicht auf? Den Journalisten kann man noch sagen, sie sollen sich selber kundig machen, aber die Wählerinnen und Wähler werden auch fragen und sie fragen zu Recht. Es ist doch der grundlegende Legitimationsakt und sie kommen in die Wahlveranstaltungen – diejenigen, die kommen – sie engagieren sich dafür und fragen, sollen wir wählen gehen oder sollen wir nicht wählen gehen, sollen wir die andere Partei wählen, damit wir ein bisschen Sand ins Getriebe streuen und denen die Überhangmandate wegnehmen und negative Effekte erzeugen? 48
Zum letzten Punkt: Kann man es umsetzen? Rein software-technisch geht es von heute auf morgen oder sogar von heute auf gestern. Organisatorisch muss man sagen, eine Volkswahl mit 60 Mio. Wahlberechtigten ist eine große organisatorische und kulturelle Glanzleistung und man sollte das den vielen hauptamtlichen und nebenamtlichen Mitbürgern, die sich engagieren, nicht allzu spät präsentieren, wie das genau zu verlaufen hat. Umzusetzen ist es, es bleiben ein paar Ecken und Kanten. Ich bin aber optimistisch, Herr Hahlen hat in diversen Fußnoten angedeutet, dass die Wahlrechtsexperten im Innenministerium das auch schon durchgerechnet und Modellrechnungen angestellt haben. Sobald also dieses fortgeschrittene Wissen der Wahlrechtsexperten im Bundesinnenministerium vom Herrn Bundesinnenminister dem Bundestagsinnenausschuss zur Verfügung gestellt und in die Beratungen eingebracht wird, werden diese verbleibenden Ecken und Kanten relativ schnell glatt gehobelt und insgesamt kommt ein Paket heraus, das der Bundestag in der großen Einmütigkeit, die bei Wahlrechtsfragen wünschenswert ist, mit gutem Gewissen auf den Weg bringen kann. Danke schön! 49
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank, Herr Sachverständiger. Als Letzter in der Runde hat Herr Zicht das Wort, bitte. 50
[Protokoll Nr. 16/92, S. 19] SV Wilko Zicht: Vielen Dank! Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren, dreimal ist Bremer Recht, darum möchte ich drei Punkte hervorheben. 51
Erstens: Soweit ich das richtig sehe, sind, zumindest in den schriftlichen Stellungnahmen, alle Sachverständigen einig, dass eine Änderung zur Bundestagswahl im September jetzt durchaus noch möglich ist. Die vom BVerfG erwähnte Aprilfrist – im Urteil nebenbei erwähnt – ist da nicht bindend. Ich bin wie Herr Hahlen der Meinung, dass es bis Ende Juni für die wahlvorbereitenden Organe durchaus möglich ist, sich entsprechend umzustellen. Die letzte Sitzung vor der parlamentarischen Sommerpause findet am 3. Juli statt, selbst das wäre notfalls noch ausreichend. Die heiße Phase der Wahlvorbereitung beginnt ohnehin erst anschließend. Wenn es nur darum geht, die Berechnungssoftware für die Wahlnacht entsprechend anzupassen, dann sprechen wir letztlich nur davon, ob man vielleicht noch 15 Minuten für eine manuelle Kontrollrechnung einspart oder nicht. Auch der Vorsitzende des Zweiten Senats des BVerfG, Andreas Voßkuhle, hat vor wenigen Tagen im Hamburger Abendblatt im Namen seiner Kollegen noch einmal klargestellt, dass der Zweite Senat es begrüßen würde, wenn der Bundestag noch vor der Bundestagswahl eine Neuregelung träfe. 52
Zum zweiten Punkt: Der vorliegende Entwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kann meines Erachtens trotz gewisser Schwächen im Detail so übernommen werden und bietet dann zumindest eine tragfähige Grundlage für die nächste Bundestagswahl. Er ist eindeutig formuliert, alle in den Nebenparagraphen zutreffenden Folgeänderungen sind berücksichtigt, und von daher wäre eine „Eins-zu-eins-Übernahme“ durchaus möglich. Wenn man sich die Zeit nehmen will, an der einen oder anderen Formulierung noch zu feilen, dann bietet der Entwurf allerdings durchaus Anlass dazu. Ich habe für den Fall, dass eine kompaktere Formulierung gewünscht ist, einen entsprechenden Formulierungsvorschlag vorgelegt. Soweit Herr Hahlen die vorliegenden Vorschläge als dunkel bezeichnet, könnte man geltend machen, dass das geltende BWG dann aber „zappenduster“ formuliert ist. Wer dort den § 6 durchrechnet und dann bei § 7 ankommt und feststellt, dass alles, was er bisher berechnet hat, für „die Katz“ war, weiß, wovon ich spreche. Ich sehe auch nicht das Dilemma, das Herr Hahlen formuliert, dass, wenn der Bundestag jetzt eine Neuregelung trifft, er sich dann die Möglichkeit verbauen würde, sich nach der Wahl noch einmal grundlegendere Gedanken um eine Reform des BWG zu machen. Diese Möglichkeit besteht so oder so. Vor einem Dilemma steht der Gesetzgeber insofern nicht. Gründe für weitere Reformüberlegungen gibt es in der Tat reichlich. Neben etlichen Gesetzentwürfen, die in den vergangenen Jahren in den Bundestag eingebracht wurden, gab es in diesen Tagen die Forderung des Präsidenten des BVerfG, sich auch darüber Gedanken zu machen, wie man den Wählerinnen und Wählern mehr Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Bundestages geben kann. Eine Forderung, die seit 30 Jahren schon im Raume steht durch eine Empfehlung einer Enquête-Kommission des Bundestages. 53
Zum dritten und letzten Punkt: Meines Erachtens kann eigentlich keine Partei ein Interesse daran haben, am 27. September nach dem bestehenden Wahlrecht zu [Protokoll Nr. 16/92, S. 20] wählen. Herr Prof. Pukelsheim hat schon darauf hingewiesen: Wir haben eine völlig andere Situation als bei vorangegangenen Wahlen, auch wenn das Wahlrecht dann das Gleiche wäre, wenn man jetzt nichts täte. Die andere Situation ist die, dass jetzt dieses negative Stimmengewicht bekannt ist und vor allem im unmittelbaren Vorfeld der Wahl dann bekannter wird, weil die Zeitungen dann wie üblich die Wähler auf die Besonderheiten unseres Wahlsystems hinweisen und noch einmal den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme erklären, dabei auch erklären, dass diese Benennung eigentlich völliger Unfug ist. Bei der Gelegenheit werden sie sicherlich auch ein paar Zeilen darüber einbauen, was das negative Stimmengewicht zu bedeuten hat und dass es die Wählerinnen und Wähler in vielen Bundesländern vor die Entscheidung stellt, doch lieber nicht ihrer präferierten Partei die Stimme zu geben, sondern vielleicht der zweitpräferierten, um zu verhindern, dass sich die eigene Stimme negativ auswirkt. Es ist so, dass man einem CDU-Sympathisanten in Sachsen oder Baden-Württemberg nicht empfehlen kann, die Zweitstimme der CDU zu geben. Es sei denn, er will ihr eins auswischen, aber das ist in der Regel nicht anzunehmen. Es ist... 54
– Einwürfe: nicht rekonstruierbar – 55
SV Wilko Zicht: Es ist bedauerlich, keiner von uns findet das toll, aber das ist Fakt. Der Gesetzgeber sollte sein Möglichstes tun, das bis zum September zu bereinigen. Auch in anderen Bundesländern, wo es nicht ganz so eindeutig ist, ob es Überhangmandate gibt, ist der Effekt durchaus vorhersehbar. Zumindest soweit, dass die Gefahr, dass ich meiner Partei durch meine Zweitstimme schade, so groß ist, dass ich dann auf Nummer sicher gehe und doch lieber den gewünschten Koalitionspartner wähle. Gerade dieser Gedankengang, der den Gedanken eines rational denkenden Wählers entspricht, der auch die entsprechenden Kenntnisse über das Wahlrecht haben muss, führt dann dazu, dass der Effekt der vorhandenen Bekanntheit des negativen Stimmengewichts dafür sorgt, dass die großen Parteien erst einmal Zweitstimmen verlieren werden. Ob sich dieser Verlust an Zweitstimmen dann durch entsprechend entstehende Überhangmandate kompensiert, ist vergleichsweise ungewiss. Wenn die Medien sagen, dass SPD und vor allem die CDU ein Interesse daran hätten, die aktuellen Regelungen bestehen zu lassen, dann greift das zu kurz und es wäre ein großer Jammer, wenn auf Grund dieser falschen Sichtweise eine Änderung vor der kommenden Wahl unterbliebe. Im schlimmsten Fall werden wir am 27. September ein Wahlergebnis haben, das sehr chaotisch ist und überhaupt nicht den tatsächlichen Präferenzen der Wähler entspricht. Niemand weiß dann, wie hätten die Wähler eigentlich abgestimmt, wenn sie hätten ehrlich wählen können. Diese Verzerrung durch das negative Stimmengewicht kann nach meinem Dafürhalten keiner der Anwesenden wirklich wollen. 56
Vors. Sebastian Edathy: Herzlichen Dank! Wir beginnen dann mit der Befragung der Sachverständigen. Ich mache den Vorschlag, dass zunächst die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als Urheber des Gesetzentwurfes das Fragerecht hat. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland. 57
[Protokoll Nr. 16/92, S. 21] Abg. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Herr Vorsitzender. Herr Prof. Meyer hat in seiner gewohnt temperamentvollen Art hier vorzutragen, die Einschränkung nicht gemacht, die er im schriftlichen Teil gemacht hat – 9 Monate geschah nichts, mit Ausnahme der Grünen – so steht es in Ihrem schriftlichen Text. Ich trage es fort und sage aber etwas versöhnlich: Die anderen, Herr Prof. Meyer, sind 9 Monate schwanger geworden, um nun jetzt zu einer schönen Geburt zu gelangen. Wir werden es sehen, es gibt jedenfalls von einem Teil des Hauses entsprechende Signale, von anderen noch nicht so deutlich, aber deswegen machen wir heute die Anhörung. Unser Gesetzentwurf hat nicht den Anspruch, die große Wahlrechtsreform zu liefern. Er ist, das wurde in einem schriftlichen Gutachten gesagt, minimal-invasiv, das ist er tatsächlich. Die Frage kann jetzt nur sein, ist das schädlich? Oder geht es nicht nur um diese Frage der negativen Stimmgewichtung, in der Art wie wir es vorschlagen, durch andere Verteilung interner, durch andere Anrechnung interner Überhangmandate zu lösen. Ich habe zunächst eine Frage an Herrn Hahlen, warum Sie darauf bestehen, diese Koppelung mit der so genannten Berliner Zweitstimme vorzunehmen. Ich kenne keine Meinungsumfrage, die uns sagt, dass wir dieses Problem im Herbst wieder haben werden, dass es Direktmandate der Linksfraktion in Berlin gibt, die nicht unterfüttert wären durch ein entsprechendes Zweitstimmenergebnis dieser Partei. Selbst wenn Herr Grindel noch enorm zulegt, ich sehe eine Menge, das sehe ich aber eigentlich nicht. 58
Unabhängig davon, Sie selber bringen die Zahl, dass 2005 mit knapp 24 % der bisherige Höchststand des Stimmensplittings erreicht wurde bei einer Bundestagswahl. Beinahe jeder Vierte hat gesplittet. Das bedeutet doch jedes Mal einen doppelten Erfolgswert, jedenfalls im Denken des Wählers, der das macht. Warum wollen Sie es dann an zwei Berliner Linken-Mandate festmachen und den Stimmen, die ja in der Regel davon ausgingen, es wird die Linke auch sonst gewählt. Das waren ja gar nicht viele Splitter, die seinerzeit Frau Pau und Frau Lötzsch gewählt hatten. Warum sehen Sie da einen Hinderungsgrund und nicht – das wurde etwas schön polemisch gesagt – bei Parteien, die geradezu das Splitten zu ihrer Programmatik erklärt haben und beleidigt sind, wenn der Koalitionspartner in spe sozusagen nicht mitmacht und nicht aufruft? Das haben wir alles hinreichend erlebt. Warum sprechen Sie nicht von einer FDP-Problematik dabei, sondern haben diesen meines Erachtens recht kleinen Fall der Berliner Stimmen im Auge und koppeln es an die ganze Frage der Beseitigung des negativen Stimmgewichts? 59
Eine weitere Frage an Prof. Pukelsheim und an Herrn Zicht: Gibt es schon Hinweise dafür, dass bspw. in der Publizistik oder auch von Meinungsforschungsinstituten diese Frage aufbereitet wird, wie es bei Ausnutzung des negativen Stimmgewichtes in dieser oder jener Region aussehen könnte, bis hin zu einer Empfehlung oder eines Hinweises an die Wählerinnen und Wähler, wie man sich unter Ausnutzung dieses Effektes bei der Bundestagswahl verhalten kann? 60
Vors. Sebastian Edathy: Zur Beantwortung bitte zunächst Herr Hahlen. 61
[Protokoll Nr. 16/92, S. 22] SV Johann Hahlen: Vielen Dank Herr Vorsitzender. Ich möchte zwei Dinge sagen. Einmal: Damit kein Missverständnis entsteht, auch mit dem Blick auf das, was die Kollegen Prof. Dr. Pukelsheim, Prof. Dr. Meyer und Herr Zicht gesagt haben. Dieses negative Stimmgewicht ist nicht etwas, was einfach alle Stimmen erfasst, sondern das muss man genau in den Blick nehmen. Das hat das Verfassungsgericht auch, wenn auch nur einmal kursorisch gesagt. Ein negatives Stimmgewicht kann nur in einem gewissen Fenster entstehen. Sobald die Wählerinnen und Wähler, so wie es jetzt problematisiert worden ist, dramatisch ihre Präferenzen mit ihren Zweitstimmen ändern, wird sich die Oberverteilung verändern und die betreffende Partei bekommt mehr oder weniger Sitze. Insofern wird, sobald der Wähler ein großes Ausmaß an Veränderung vornimmt, das sofort berücksichtigt. Das negative Stimmgewicht kann nur in einem ganz schmalen Fenster entstehen, wenn die Veränderung so gering ist, dass es bei der Oberverteilung keine Veränderung gibt und auf der anderen Seite muss die Veränderung aber wieder so groß sein, dass sie die Rundungsgrenze der 0,5 überschreitet, sei es nach oben oder nach unten. Und dieses Fenster, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist vor einer Wahl nicht erkennbar. Das kann man nicht berechnen. Man weiß nur, dort, wo es Überhangmandate gibt, ist es möglich. Es ist, wie das Gericht gesagt hat, eine hypothetisch alternative Stimmabgabe. Aber das können Sie vor einer Wahl nicht berechnen. Da können Sie, Herrn Prof. Dr. Pukelsheim wäre ich dankbar, wenn er dazu etwas sagte, den besten Computer anstellen. Sie können dieses Fenster vor der Wahl nicht quantitativ bestimmen. Deshalb kann sich der Wähler auch in seinem Verhalten nicht danach richten. 62
Der zweite Punkt, Herr Abg. Wolfgang Wieland, es ist richtig, dass das Verfassungsgericht gesagt hat, was diese Problematik des § 6 Abs. 1 Satz 2 angeht: Er hat nicht das Wort „eklatant“ und „Verstoß gegen die Stimmengleichheit“ benutzt. Das ist richtig. Auf der anderen Seite ist auch ganz klar, und das ist mehrfach gesagt worden, dass das eine nicht verfassungskonforme Lücke ist. Und wenn der Gesetzgeber schon daran geht, das negative Stimmgewicht als einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit abzuschaffen, dann bin ich der Auffassung, ist er genauso gehalten, auch das Problem der Berliner Zweitstimme zu bereinigen. Denn dieses ist ein gravierenderer Fall des doppelten Stimmgewichts. Und das hat nichts, Herr Prof. Dr. Meyer, mit „Splitting“ zu tun. Der Wahlgesetzgeber hat bewusst den Bürgerinnen und Bürgern zwei Stimmen gegeben. Und die Bürgerinnen und Bürger können über diese beiden Stimmen ad libitum verfügen und sie tun es auch, wie man in der Wahlpraxis sieht. Wenn Sie das abschaffen wollen, kann das der Gesetzgeber natürlich. Das ist aber eine ganz andere Entscheidung und diese Freiheit des Stimmensplittings hat mit dem doppelten Stimmgewicht der Fälle des § 6 Abs. 1 Satz 2 nichts zu tun. 63
Vors. Sebastian Edathy: Zur Beantwortung der weiteren Fragen zunächst Herr Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim. 64
SV Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim: Zunächst zu ihrer Frage, Herr Wieland, ob ich weiß, welche Presseagenturen schon ein Dossier vorbereitet haben. Das weiß ich nicht. [Protokoll Nr. 16/92, S. 23] Es wäre natürlich interessant zu wissen. Ich wüsste natürlich auch gerne, wie weit das Wahlrechtsreferat im Bundesinnenministerium seine Mappe schon vorbereitet hat. Das wäre auch interessant zu wissen. Aber das weiß ich leider auch nicht. Aber die Gefahr ist eben – und das ist das, was ich betonen wollte –, dass Presseorgane darüber schreiben. Nach dem Urteil im Bundesverfassungsgericht wurde dazu in allen nationalen Zeitungen und politischen Magazinen geschrieben. Und der Tenor war immer der, dass es ein gewisser humorvoller Aspekt unseres Wahlsystems ist, was da alles passiert. Aber die Wahl ist keine Zirkusvorstellung. Die Wahl ist der grundlegende legitimierende Akt für Ihre Arbeit in unserer repräsentativen Demokratie. Ich sehe die Gefahr, dass diese Problematik, die in Dresden aufkam, breitgetreten wird. Hoffentlich nicht, dann brauchen wir nichts zu tun, aber wenn sie breitgetreten wird, bin ich der Meinung, haben wir ein Problem. Und damit es nicht breitgetreten wird, sollte dieses negative Stimmgewicht jetzt entfernt werden, was nicht ausschließt, dass im nächsten Semester noch eine große Revolution kommt, dann treffen wir uns wieder und machen all die übrigen Sachen noch, die anstehen. Die Antwort zu Ihnen, Herr Hahlen, wie das ist mit dem negativen Stimmgewicht. Ich stimme Ihnen vollkommen zu und ich hoffe, die Damen und Herren Abgeordneten haben gut zugehört, sie werden das zu wiederholen haben, wenn in ihren Wahlkampfveranstaltungen die Wähler sie fragen. Das ist nur eine Dreiviertelseite gewesen von Herrn Hahlen, da muss man dann erklären, wie das dazu kommt. 65
Vors. Sebastian Edathy: Herr Zicht, bitte. 66
SV Wilko Zicht: Zur Frage von Herrn Abg. Wieland. In der Tat gab es vom Forsa-Institut vor einigen Wochen eine Prognose, in welchen Bundesländern wie viele Überhangmandate für welche Parteien anfallen werden. Die war sehr mutig. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass mit zunehmender Nähe zum Wahltermin sich das regelmäßig wiederholen wird, vielleicht auch von anderen Instituten. Die Entwicklung geht durchaus dahin, dass es schon im Vorfeld der Wahl, ob sie jetzt verlässlich sind oder nicht, Prognosen zu Überhangmandaten gibt. Es gibt auch seit einigen Bundestagswahlen sog. Wahlkreisprognosen, die Umfrageergebnisse umrechnen und auf einzelne Wahlkreise runterbrechen, um dann ein Erststimmenergebnis im Wahlkreis vorherzusagen. Das gibt es alles schon. Und das ist alles für jedermann im Internet nachlesbar und darauf werden dann auch die Medien und Presseorgane zugreifen können und ich gehe davon aus, dass sie das auch tun werden. Ich möchte auch kurz noch etwas zur Äußerung von Herrn Hahlen sagen, dass negative Stimmgewichte nur in einem gewissen Fenster aufträten. Das ist nicht ganz richtig, weil in der Tendenz die Stimme negativ bleibt. Gerade wenn man sich nicht nur ein bestimmtes Fenster anschaut, sondern sämtliche denkbaren Stimmenergebnisse in den Blick nimmt, gilt: Auch wenn zwischendurch mal durch einen Mandatsgewinn bei der Oberverteilung ein Sprung nach oben kommt, wirken sich zusätzliche Stimmen für eine Partei in einem überhängenden Bundesland so lange negativ aus, bis der Überhang abgetragen ist. In jedem Fall ist aus Sicht des Wählers eine negative Wirkung seiner Stimme wesentlich wahrscheinlicher als eine positive. Zwar kann man erst am Ende, nach der Wahl, [Protokoll Nr. 16/92, S. 24] sagen, ab welchen Stimmen sich ein Sprung ergeben hätte. Das weiß man in der Tat vor der Wahl nicht. Das weiß man aber auch nicht bei einer positiven Wirkung. Da weiß man auch nicht, ob es auf die eigene Stimme ankommt oder ob noch 10.000 weitere Stimmen benötigt werden, um für ein zusätzliches Mandat zu sorgen. Das ist bei dem negativen Stimmgewicht natürlich nicht anders. Aber grundsätzlich wirkt in einem Überhangland die Stimme negativ und nicht positiv, unabhängig davon, wie es bei der Oberverteilung ausschaut oder ab welcher Stufe in der Unterverteilung es zum Sprung kommt. 67
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank. Dann hat das Fragerecht jetzt die CDU/CSU-Fraktion. Und das Wort hat Kollege Abg. Mayer. 68
BE Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Ich habe eine Frage an den Prof. Dr. Lang und Herrn Hahlen. Zunächst die Fragen an Herrn Prof. Dr. Lang. Sie haben in ihrer mündlichen Stellungnahme ausgeführt, dass bei der Berechnung der Zusammensetzung des Deutschen Bundestages nach § 7 Abs. 5 des Bundeswahlgesetzes im ersten Durchgang geschaut wird, in welchen Bundesländern die jeweiligen Landeslisten mehr Direktmandate erworben haben als ihr nach den Zweitstimmen an sich an Mandaten zustehen würden. Nach diesem sog. ersten Durchgang steht vorläufig schon einmal die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages fest. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN würde dann, nach dem entsprechenden Kompensationsmodell, aber in einem zweiten Durchgang, teilweise Personen, die in ihren Landeslisten ein Listenmandat erworben haben, dieses wieder entzogen werden, wenn in einem anderem Bundesland entsprechend Überhangmandate der selben Partei generiert wurden. Die Frage ist, ob sich aus diesem Umstand heraus möglicherweise eine Verfassungswidrigkeit ergeben könnte dahingehend, dass Personen, die an sich nach dem ersten Durchgang schon ein Mandat erworben haben, dieses wieder entzogen werden würde, also ein bereits erworbenes Bundestagsmandat wieder entzogen würde. Die Frage ist, ob daraus eine Verfassungswidrigkeit des Gesetzentwurfes herzuleiten werde. Eine zweite Frage, die heute auch schon einmal erwähnt wurde, dass ein Problem die CSU darstellt. Ich muss mich vehement dagegen wehren. Ich würde sagen, auch in diesem Fall im Wahlrecht nimmt die CSU eine Sonderstellung ein. Die Frage ist, wie diese Sonderstellung zu lösen ist. Frage an Sie, Herr Prof. Dr. Lang: Der Sachverständige Prof. Dr. Meyer schlägt als eine mögliche Alternative vor, dass im Rahmen des Kompensationsmodells den dann direkt gewählten Wahlkreisabgeordneten das Mandat wiederum entzogen werden würde, der das schlechteste prozentuale Stimmengewicht hat. Wobei ich schon einmal die Frage stellen möchte, was ist das schlechteste prozentuale Stimmengewicht? Auch hier die Frage an Sie, ob diese Alternative, die von Herrn Prof. Dr. Meyer vorgeschlagen wurde, verfassungskonform ist, dass einem direkt gewählten Abgeordneten, unabhängig wie groß der Vorsprung war in seinem Bundestagswahlkreis, dass Mandat wieder entzogen werden würde auf Grund der Tatsache, dass es Überhangmandate in diesem Fall gab. Und eine dritte Frage an Herrn Prof. Dr. Lang auch hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit [Protokoll Nr. 16/92, S. 25] und zwar in Bezug auf die föderale Struktur der Bundesrepublik, weil es durch das von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgeschlagene Kompensationsmodell zu einer Schlechterstellung von bestimmten Bundesländer kommen kann, so z.B. auch bei den Wahlen 2002 und 2005 als sowohl die SPD als auch die CDU/CSU Überhangmandate gewonnen hat und der Ausgleich, der auch schon exemplarisch berechnet wurde, in beiden Fällen, also sowohl bei der SPD als CDU/CSU sich im schwerwiegenden Bereich, vor allem im Bundesland Nordrhein-Westfalen, niedergeschlagen hätte. Es hätte bei beiden Parteien sehr stark das Bundesland NRW getroffen. Die Frage ist, ob dies vor dem Hintergrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik und der Notwendigkeit, dass die Bundesländer auch gleich repräsentiert sein müssen im Bundestag, auch hier sich nicht die Frage der Verfassungswidrigkeit stellen könnte. Ich habe auch noch Fragen an Herrn Hahlen und zwar, weil diverse Male jetzt schon gesagt wurde, die Umstellung nach dem von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgeschlagenen Kompensationsmodell wäre in organisatorischer und wahltechnischer Hinsicht ohne Probleme möglich. Ich möchte Sie, und insbesondere in ihrer früheren Funktion als Bundeswahlleiter fragen, wie dies denn in der Praxis tatsächlich aussehe, wenn dieses Gesetz jetzt vom Bundestag noch verabschiedet werden würde und Mitte des Jahres im Gesetzblatt stünde, was denn alles noch erforderlich wäre, insbesondere auch im Hinblick auf die Ertüchtigung der dafür notwendigen Software, um die Bundestagswahlen auch am 27. September 2009 durchführen zu können. Und eine zweite Frage noch an Sie, Herr Hahlen. Es ist auch im Vorhinein wieder ausgeführt worden, dass es die Möglichkeit gäbe, Wahlen im Vorhinein zu manipulieren, Wähler zu manipulieren, in Parenthese darf ich nur sagen, ich bin in den vergangen 7 Jahren meiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag in keiner einzigen Veranstaltung nach Wahlrecht gefragt worden. Ich habe also nicht den Eindruck, dass das drängende Problem, dass die Bürgerinnen und Bürger beschwert, dass ist, wie sie denn mit ihrer Erst- und Zweitstimme umgehen sollten und wie denn hier taktisch am günstigsten zu wählen sei, um die entsprechende befürwortete Koalition zu Tage zu fördern. Die Frage ist, Sie haben noch einmal sehr anschaulich dargestellt, wie klein dieses Fenster überhaupt ist, in dem dieses Problem des negativen Stimmgewichts auftreten kann und um es ihrer Expertise noch überhaupt möglich ist, eine Wahlwerbung dezidiert auf diese Problematik zugeschnitten zu vollziehen, um den Wähler wirklich so zu „manipulieren“, um das für manchen als außerordentlich missliebiges Ergebnis, erwünschte oder nicht erwünschte, Problem des negativen Stimmgewichts zu Tage zu fördern. 69
Vors. Sebastian Edathy: Zur Beantwortung zunächst Herr Prof. Dr. Lang bitte. 70
SV Prof. Dr. Heinrich Lang: Herr Vorsitzender, vielen Dank. Erlauben Sie mir noch eine kleine Vorbemerkung zu den Koppelungen von Berliner Zweitstimmen und negativen Stimmgewichten und warum es verfassungsrechtlich notwendig ist, das in einem Aufwasch zu bereinigen, so wie es das Bundesverfassungsgericht Anfang des Jahres gesagt hat. Lassen Sie dies unverändert, stellen Sie es wieder auf eine verfassungsrechtlich bedenkliche Grundlage, um es einmal vorsichtig auszudrücken. [Protokoll Nr. 16/92, S. 26] Noch ein kleines Zahlenbeispiel: Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung auf 12.000 Stimmen in Hamburg abgestellt, die das negative Stimmgewicht ausmachen. Die Berliner Zweitstimmenregelung betreffen Hunderttausende von Stimmen. Um ein Direktmandat zu beziehen braucht man ungefähr 180.000 Stimmen. Ich versuche nun auf die Frage von Ihnen einzugehen. § 7 Abs. 5: Ist es verfassungswidrig, wenn man ein zuvor zugeteiltes Mandat entzieht. Das Verfassungsgericht hat mit relativ starken Worten, und ich habe großen Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht, aber hier kommen sie mir wie Füllwörter vor, die negativen Stimmgewichte als willkürlich, als widersinnig etc. bezeichnet. Aber ist es nicht auch widersinnig und willkürlich, wenn ich auf einer gewählten Landesliste ein Mandat erworben habe, das mir entzogen wird, weil in einem ganz anderen Bundesland ein Überhangmandat angefallen ist? Wie soll man diesem Kandidaten vermitteln, dass das nicht widersinnig und willkürlich ist? Willkür, so hat es Herr Prof. Dr. Mahrenholz ausgedrückt, ist das schlimmste Prädikat und in der Tat, das ist es. In dem Zusammenhang, in dem das Gericht dies gebraucht hat, es ist aber nicht nachvollziehbar, denn es hat die negativen Stimmgewichte in voller Kenntnis der Problematik über knapp 10 Jahre lang nicht beanstandet. Ich glaube, dass wir mit Wahlanfechtungen zu rechnen haben, wenn wir Listenkandidaten, die ein sicheres Mandat haben, es im Nachhinein wieder entziehen. Ich möchte an dieser Stelle eine Parallele ziehen zur Situation, in der in einem Überhangmandatland der Wahl ein Überhangmandatsträger ausscheidet. Zu dieser Frage hat das Bundesverfassungsgericht 1998 entschieden: „Es können keine Listenbewerber nachrücken.“ Begründung dafür war, dass nur insoweit die Liste , wie sie nun einmal besteht, auch demokratisch legitimiert ist. Das Problem stellt sich hier ähnlich. Wenn Sie jemanden, der hinreichend demokratisch legitimiert ist, das Mandat wieder entziehen, dann fehlt mir dafür das Verständnis. Übrigens auch aus Sicht des Wählers. Zum Beispiel in NRW: Es berührt bereits Ihre dritte Frage; in NRW hätte die SPD 3 Mandate durch Überhangmandate verloren. Es ist dem Wähler in NRW schlecht vermittelbar, warum 3 der Mandate, die er eigentlich in den Bundestag schicken will, letztlich verloren gehen zugunsten von Sachsen oder Sachsen-Anhalt. Was die CSU angeht, sind interne Überhangmandate in der Tat externe Überhangmandate, so dass es nicht zu Verrechnungen kommen kann. Herr Prof. Dr. Hans Meyer, ein wirklich guter Kenner des Wahlrechtes, hat einen Vorschlag gemacht, der, so glaube ich, recht schwierig ist, sich jedenfalls kaum mit dem Bundeswahlgesetz vereinbaren lässt. Danach ist gewählt, wer die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Übrigens ist das ein Argument, welches auch das gerade geschilderte Problem der Landeslisten betrifft. Wenn Sie dort wieder einen runter nehmen, dann verstoßen Sie eigentlich auch dagegen, dass derjenige gewählt ist, der eine hinreichende Ansammlung von Stimmen hat. Ich halte diesen Vorschlag, das schlechteste Mandat zu entziehen, für verfassungsrechtlich unhaltbar. Und ich glaube auch, dass es politisch falsch ist. Sie würden gerade die Abgeordneten, die sich in umkämpfte Wahlkreise begeben, dafür bestrafen, dass sie besonders vehement gekämpft haben, vielleicht dem Gegner sogar den Wahlkreis genommen haben, aber nur knapp. Es wären also genau die, die die Zeche dafür zahlen müssten. Das scheint mir kein guter Vorschlag zu sein. Die Antwort auf die letzte Frage habe ich schon versucht anzudeuten: Föderale Struktur, wenn man [Protokoll Nr. 16/92, S. 27] 54 Mandate, wie es etwa bei der SPD war, umwandelt in – unter der Hand – 53. In der Tat, aus meiner Sicht wird da der föderale Proporz gestört. Ob das zur einer Verfassungswidrigkeit führt, bedarf einer vertiefenden Betrachtung, so dass ich mich hierzu vorab noch nicht festlegen möchte. Ich halte es aber aus föderalen Gesichtspunkten, wie es das Gericht auch in der Entscheidung zu den negativen Stimmgewichten mehrfach betont hat, dass sie ein zulässiger und erwünschter verfassungsrechtlicher Belang auch für Differenzierungen sind, für nicht richtig. Diesen Aspekt würde ich ansonsten hier gefährdet sehen. 71
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank Herr Hahlen, bitte. 72
SV Johann Hahlen: Herr Abgeordneter, Sie haben einmal nach den praktischen Möglichkeiten der Umsetzung gefragt. In der Tat wäre es nur eine neue Erstellung der Software. Diese Software müsste erarbeitet werden. Ich teile nicht den Optimismus von Herrn Prof. Dr. Pukelsheim, dass es schon vorgestern geschehen könnte. Aber kluge Programmierer können das. Das ist keine Frage. Von daher bin ich der Auffassung, dass dieser Apriltermin, das habe ich auch schriftlich ausgeführt, durchaus überzogen werden kann. Ob das noch bis Ende Juni 2009 dauern kann? Ich habe da jetzt ein kleines Fragezeichen gemacht, weil solche Softwareerstellung ausgeschrieben werden müsste. Das ist zeitaufwändig. Von daher kann es sein, dass man doch schon etwas früher fertig werden müsste. Das kritische an dieser Software ist, dass die Programmierer, das ist meine Erfahrung, da ganz gelöst daran gehen, aber die vielen Einzelfälle, die das Wahlrecht doch enthält, z. B. mit Einzelbewerbern oder mit einer Partei, die eben an der Grundmandatsklausel oder an der 5 % Klausel scheitert, werden leicht übersehen und man muss dann den Herren Softwareentwicklern sagen: „Aber das habt ihr noch vergessen, da müssen sie ganz neu anfangen“. Deshalb sind viele Proberechnungen nötig. Sechs Wochen Proberechnung halte ich für unverzichtbar. Denn man würde Ihnen als Gesetzgeber einen Bärendienst leisten, wenn das nicht hinreichend sorgfältig erarbeitet würde. 73
Dann haben Sie gefragt: Wie ist das – im Blick auf das negative Stimmgewicht – mit dem Schutz vor Manipulation? Ich möchte das wiederholen, was ich gesagt habe, Herr Abgeordneter. Vor einer Wahl lässt sich dieses Fenster, in dem negative Stimmgewichte in Überhangländern entstehen können, nicht berechnen. Es ist richtig, dass man, wie Herr Zicht sagt, sich überlegen kann, wo Überhangmandate entstehen könnten. Ich bin da mit Herrn Zicht der Auffassung, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder Überhangmandate geben wird, recht groß ist, weil die Wahlbeteiligung in den neuen Ländern bislang unterdurchschnittlich ist, auch wenn ich mir wünschte, dass sie höher würde. Aber wenn sie unterdurchschnittlich ist, haben wir zudem die Situation dass nicht nur zwei politische Parteien in den neuen Ländern um die Zweitstimmen kämpfen, sondern mehrere. Nehmen Sie das Land Thüringen, wo die Zweitstimmenergebnisse 2005 im Bereich von 20 %, 25 % lagen. Das alles erleichtert das Anfallen von Überhangmandaten. Aber es bleibt die Tatsache, dass Sie dem Wähler nicht, weder in einem Wahlkreis, noch in einem Land sagen können: Du musst dich so und so [Protokoll Nr. 16/92, S. 28] verhalten, damit du ein negatives Stimmgewicht produzierst. Das geht nicht. Der einzige Fall, das ist gesagt worden, wäre die Nachwahl. Bei einer Nachwahl ist die Berechnung ex post möglich. Das hat es in Dresden bei der Bundestagswahl 2005 auch gegeben. 74
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank. Dann hat das Fragerecht jetzt die FDP-Fraktion. Das Wort hat die Abg. Gisela Piltz. 75
BE Gisela Piltz (FDP): Vielen Dank, Herr Vorsitzender. Herr Prof. Dr. Pukelsheim, meine Erfahrung, was das Wahlrecht angeht, ist, dass man am Infostand eher gefragt wird, was eigentlich die Erst- und Zweitstimme bewirkt. Nach dem negativen Stimmgewicht hat mich persönlich noch keiner gefragt. Ich habe auch eine Ahnung, dass es in einem normalen Wahlverfahren, wo alle am selben Tag wählen und nicht diese spezielle Phänomen Dresden dazu kam, eigentlich eher etwas ist was wahrscheinlich die mathematisch sicher korrekt berechnete Masse nicht so bewegen wird. Und halten Sie es wirklich für wahrscheinlich – Sie haben das sehr dezidiert dargestellt, 15 Mio. sind betroffen, was theoretisch sicherlich richtig ist – bzw. für möglich, dass die auch irgendwie kommunizieren. Das kann nur funktionieren, wenn sich sie alle dessen bewusst sind und sich dementsprechend verhalten. Mal abgesehen davon, dass man vielleicht gar nicht genau weiß, wie man sich dementsprechend verhalten muss. Wenn man z.B. so dritteln würde, würden sich diese Ergebnisse auch gegenseitig wieder aufheben. Und von daher halte ich das zwar für mathematisch korrekt berechnet. Wenn man das aber auf die Wirklichkeit überträgt, kann ich mir schwerlich vorstellen, dass das die von Ihnen beschriebenen Konsequenzen haben würde. Und meine weitere Frage auch an Herrn Prof. Dr. Pukelsheim, Herrn Prof. Dr. Mahrenholz und Herrn Prof. Dr. Lang ist: Einmal abgesehen davon, dass ich persönlich das nicht verstehe, wenn das Verfassungsgericht sagt: Wir haben Zeit, warum man dann nicht Zeit haben sollte, sehen Sie nicht auch die Gefahr darin, dass es wieder Anfechtungsgefahren gibt, weil wir uns bereits im laufenden Verfahren befinden? Alle Kandidaten sind aufgestellt. Soweit ich weiß, sind fast alle Listen gewählt und wenn das so eintritt, wie Prof. Dr. Pukelsheim gesagt hat, dass sich eben 15 Mio. Leute zusammentun könnten und ein anderes Ergebnis erreichen könnten, ist doch die Frage: Wie wirkt das eigentlich auf das bisherige Verfahren ein? Denn es ist eigentlich ein sehr ungewöhnliches Verfahren, dass man jemanden zum Kandidaten macht oder Listen bestimmt und dann das Wahlverfahren verändert. Das würde ich gerne einmal wissen, inwieweit Sie da die Gefahren sehen, dass sich da auch Anfechtungsmöglichkeiten ergeben. Und zum Schluss, der Kollege Abg. Mayer hat schon in die Richtung gefragt: Tatsächlich ist schon durchaus das föderale Prinzip unseres Wahlrechts gefährdet, denn ein gut arbeitender Landesverband mit einem hervorragenden Zweitstimmenergebnis könnte im Endeffekt benachteiligt werden gegenüber einem Landesverband mit einem schlechten Zweitstimmenergebnis dafür aber mit mehr Direktmandaten. Deshalb meine Frage an Herrn Prof. Dr. Pukelsheim, Herrn Dr. Meyer und Herrn Hahlen, inwieweit Sie das nicht auch für anfechtbar halten. Herzlichen Dank. 76
[Protokoll Nr. 16/92, S. 29] Vors. Sebastian Edathy: Dann hat zunächst zum ersten Teil der Fragen Herr Prof. Dr. Lang und anschließend Herr Prof. Dr. Mahrenholz das Wort. Herr Prof. Dr. Pukelsheim ist zum ersten und zum zweiten Teil gefragt worden und Herr Prof. Dr. Dr. h.c. Meyer und Herr Hahlen zum zweiten Teil. Herr Prof. Dr. Lang, bitte. 77
SV Prof. Dr. Heinrich Lang: Vielen Dank. In der Tat sehe ich erhebliche Anfechtungsmöglichkeiten, wenn dieser Gesetzesentwurf Realität wird. Ich habe versucht, darauf hinzuweisen. Ich sehe sie einmal, soweit es die Berliner Zweitstimmen angeht, vor allem wegen der Entziehung von Mandaten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass entzogene Mandate kritiklos hingenommen werden. Und ich glaube auch, dass es Wähler geben wird, die aus diesen Gründen anfechten werden. Aus meiner Sicht könnten die hier durch den Gesetzentwurf bewirkten Eingriffe in ein laufendes Verfahren nicht zu einer Verfassungswidrigkeit führen. Was aber nicht davon abhalten könnte, dass sie angefochten werden. Aus meiner Sicht ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes in Wahlfragen schlicht nicht mehr vorhersehbar. Denn die letzte Entscheidung war eine Entscheidung, die überraschend mit allem, was davor entschieden wurde, gebrochen hat und diametral ins Gegenteil marschiert ist. Wenn man im Moment verfassungsrechtlich bedenkliche Regelungen auf den Weg bringt, darf man sich nicht wundern – wenn ich das einmal so salopp sagen darf – wenn sie einem vor die Füße fallen. Im Grunde ist es ein Paradoxon, dass wir unter Zugrundelegung des vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erkannten, geltenden Wahlrechts eigentlich die einzig anfechtungsfreie Wahl haben würden. Denn das Bundesverfassungsgericht kann ja schlechterdings eine Wahlanfechtung, die erneut auf die negativen Stimmgewichte gestützt wäre, wieder benutzen, um die Dignität der Wahl in Frage zu stellen. Im Grunde genommen spricht vieles dafür, es jetzt erst einmal so zu belassen, wie es ist. 78
Vors. Sebastian Edathy: Prof. Dr. Mahrenholz, bitte. 79
SV Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz: Also an der Argumentation, man solle sich deswegen der Änderungen enthalten, weil dieses Recht, was jetzt gilt, vom Bundesverfassungsgericht nicht in Zweifel gezogen werden kann im Hinblick auf die nächste Wahl, daran besteht im Grunde kein Zweifel. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem für mich nicht nachvollziehbaren Maße darauf verzichtet, die nächste Bundestagswahl unter den Gesichtspunkten, unter denen es jetzt gesagt hat, das Wahlrecht ist verfassungswidrig, zu kritisieren. Das ist zwar so, das geht nicht anders. Es hat auch nur ein Richter gewechselt, nämlich der Vorsitzende. Das Gericht würde tatsächlich, wenn man jetzt wählen würde nach dem gegenwärtigen Wahlrecht und dann die Wahlrechtsbeschwerden kämen, sie alle abschmettern. Das ist ganz sicher so. Ob das befriedigend ist und ob das ein Grund sein kann, dieses Wahlrecht für gut zu halten, dass ist für mich allerdings sehr zweifelhaft. Die Tatsache allein, dass das Gericht sich in eine Ecke manövriert hat, aus der es nicht herauskommt, kann für uns doch eigentlich, wenn ich das Wort uns, erlauben Sie, einmal verwenden darf, kein Maßstab sein, die Frage zu beurteilen, welches Wahlrecht richtig ist, wenn die Zeit [Protokoll Nr. 16/92, S. 30] reicht. Und dass die Zeit reicht, scheint nach dem, was hier erörtert worden ist, auch nach dem was ich von Herrn Abg. Wieland gehört habe, prinzipiell für möglich gehalten worden zu sein. Dann ist es viel wichtiger, dass man dieses Wahlrecht auf vernünftige Füße stellt, zumal es – Herr Prof. Dr. Meyer hat das ja ausgeführt – im Grunde, Frau Abg. Piltz, nach der Stimmabgabe auftretende Probleme bzw. auftretende neue Regulierungen sind. Mit der Kandidatenaufstellung hat dies alles nichts zu tun. Deswegen, glaube ich, können wir nicht sagen, dass die Kandidatenaufstellung ein Problem ist. Auch darüber habe ich mich gewundert, dass das Gericht so locker sagt: Bis April geht es nur. Ich habe nirgendwo gehört, dass die Kandidatenaufstellung problematisch ist. In Hannover werden überall Kandidaten aufgestellt und das läuft normal. Die Parteien würden von sich aus auch schon sagen: „Hier gibt es Risiken“. Risiken der Anfechtung. Diese Risiken der Anfechtung, was die Aufstellung der Kandidaten betrifft, gibt es nicht, sondern es gibt nur die Frage, wie es hinterher aussieht, wenn das Bundestagswahlrecht nicht geändert wird oder wenn es geändert wird. Und da scheint mir ist die Abwägung der Frage zentral: Was hat mehr Bestand? Insofern sind Herr Prof. Dr. Lang und ich vielleicht ausnahmsweise einmal einer Meinung. Es neigt sich dann doch dazu, dass man sagt: Es wird vielleicht Wahlrechtsbeschwerden geben, – aber es wird jedenfalls keine Änderung des Gerichts geben im Verhältnis zum bisherigen Wahlrecht. Und ein letzter Satz: In der Tat ist die Wahlrechtsprüfung des BVerfG, das ist auch meine Meinung, unberechenbar geworden. Es hat mir sehr leidgetan, dass ich schon Ende der 90ger Jahre, als Mehrheit und Minderheit sich auf vier zu vier teilten, ich nicht mehr in dem Senat gewesen bin. Meine Kritik ist viel radikaler gewesen. Sowohl die einen wie die anderen konnten meines Erachtens verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht standhalten. In der Festschrift für Frau Prof. Dr. Graßhof, die Bundesverfassungsrichterin war und für das Wahlrecht zuständig war, habe ich mich dazu geäußert und gesagt: „So lässt sich diese Frage nicht beiseite schieben“. Und das jetzige Bundesverfassungsgericht hat nun wirklich auch die Konsequenzen gezogen und hat gesagt: „Nein, so geht es nicht“. Und deswegen meine ich, sollten wir das wenigstens ernst nehmen. Das Gericht hat nicht zum ersten Male geschwankt. Im 16. Band bereits sind die Überhangmandate schon ein Problem gewesen und ich habe den Eindruck an dieses Thema hat sich das Gericht selber erst gedanklich heranarbeiten müssen. Da wir das alle von uns selber kennen und vielleicht auch Gremien kennen in denen das der Fall ist, kann man das dem Gericht gewissermaßen nicht vorwerfen, sondern muss das einfach zur Kenntnis nehmen. Danke. 80
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Dr. Pukelsheim, bitte. 81
SV Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim: Sehr geehrte Frau Abg. Piltz, Sie hatten gefragt, ob die Wähler Sie im Wahlkampf mit den Fragen konfrontieren werden. Das bleibt abzuwarten. Es war ja in Dresden auch so, dass nur 10.000 Wähler darauf reagiert haben und nicht alle. Also, wer reagiert – ich meine, ich habe eben die Pointe gemacht, es waren viele, es waren erstaunlich viele – das sind diejenigen, aus meiner Sicht, damit würde ich rechnen, die sich engagieren, die sich mit dem System identifizieren [Protokoll Nr. 16/92, S. 31] und die sich auch für Kleinigkeiten interessieren. Daneben bleibt natürlich noch die große Zahl, die sich mit dem System identifiziert, ohne sich für die Kleinigkeiten zu interessieren. Aber auch auf die hat die Wahrnehmung des Wahlsystems und des Wahlrechts, glaube ich, eine wesentliche Rückwirkung. Deshalb habe ich eben gesagt, 15. Mio. Nicht, dass alle 15. Mio. im Wahlkampf Sie mit diesen Fragen konfrontieren werden. Aber wenige reichen, um ein großes Erfolgsmodell, das international viele Nachahmer gefunden hat, in Frage zu stellen. Die zweite Frage war die, ob der Eingriff in die Wahlen zu spät erfolgt und jetzt ein Anfechtungsgrund ist. Nach den anderen Präzedenzfällen, die es gibt, wie 1990 mit der „geteilten 5%-Klausel“ und anderen, kann ich nicht sehen, dass die Entfernung eines verfassungswidrigen Zustandes hier den Bundestag damit konfrontieren würde, dass das verfassungswidrig sei. Einen Punkt möchte ich noch anfügen, Herr Abg. Mayer. Sie hatten eben gefragt: Wenn die letzten Wahlkreissieger mit dem geringsten Stimmenergebnis nicht zum Zuge kämen, wie sich das darstellt. Zunächst einmal für mich als Mathematiker, der die Verfassungsentscheidung liest, ist es verfassungsgemäß, denn es ist verhandelt worden vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof 1956. Wir hatten das in Bayern. Und der Verfassungsgerichtshof hat mit einer Diktion und Logik, die auch heute noch aktuell ist, gesagt: Das geht. In Bayern haben wir das „verbesserte Verhältniswahlrecht“, wie es heißt. Wenn der Gesetzgeber Personenwahl und Verhältniswahl kombinieren möchte, steht dem von Verfassung wegen nichts entgegen. Wenn er zwei Ziele setzt, muss er Entscheidungsfreiheit haben, um die aufeinander abzugleichen. Und damals hat der bayrische Verfassungsgerichtshof gesagt: Das geht. Das ist dann trotzdem gleich wieder in der nächsten Legislaturperiode zurückgenommen worden, aber ich als Mathematiker kann dann nicht sagen… 82
– Zwischenrufe, nicht rekonstruierbar – 83
SV Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim: Nein, von der Politik. Weil sich das politisch nicht durchsetzen ließ. Von daher finde ich es von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem Gesetzentwurf auch sachgemäß, das jetzt nicht einzuführen. Und der Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sieht auch vor, dass nicht die Personenwahlkomponente diese Verbindung bezahlt, sondern die Verhältniswahlkomponente durch den Abgleich mit den Divisoren. Da bin ich nicht der Meinung, dass man argumentieren kann wie Herr Prof. Dr. Lang, dass ein einmal vergebenes Mandat zurückgezogen wird. Die Formulierung, die jetzt gewählt ist im Gesetzestext, ist die, dass die Mandate vergeben werden und dann ist Schluss. Da wird nichts erst vergeben und dann wieder zurückgezogen. So dass ich auch von daher verfassungsrechtlich keinen Angriffspunkt sehe. Der letzte Punkt, den Sie erwähnten, war die Nachwahl 2005. Das ist sicherlich selten. Nachwahlen sind immer ein Problem. Und wenn man es kann, sollte man die vom Gesetz her vorwegnehmen und irgendwie abfedern, dass es nicht dazu kommt. Aber wir haben nicht die Garantie. Wir wissen nicht, was im September passiert. Danke. 84
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Dr. Meyer, bitte. 85
[Protokoll Nr. 16/92, S. 32] SV Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Meyer: Ich möchte einmal klarstellen: Ein Mandat kann nicht entzogen werden, außer aus den Gründen, die vorgesehen sind. Ein Mandat wird nicht entzogen, wenn die Bedingungen für die Erringung eines Mandats im Gesetz festgelegt werden. Und zu den Bedingungen gehört, dass ein Mandat, das man mit den schlechtesten Prozentzahlen „gewinnt“, nicht zu einem Mandatsgewinn führt, wenn ein Überhang besteht. So einfach ist das. Das heißt, es ist kein Mandat, das entzogen wird, sondern das sind die Bedingungen, wann jemand ein Mandat erhält. Das ist etwas ganz anderes. Zum föderalen Aspekt, Frau Abg. Piltz: Sie wissen ja gar nicht, wie viele Stimmen aus anderen Ländern dazu geführt haben, dass es hier ein Mandat in NRW gibt. Im heutigen System werden auch Stimmen von fremden Ländern übertragen, nämlich dort überflüssige, weil genügend da sind für ein oder zwei Mandate. Die werden dann irgendwo anders hin übertragen. Hier ist nur das Reziproke vorgeschlagen. Also, verfassungsmäßig ist beides, so dass es überhaupt kein Problem ist. Und das Gericht hat, und da möchte ich Herrn Prof. Dr. Lang ein bisschen widersprechen, ganz ausdrücklich die föderalen Aspekte eine Etage tiefer gehängt, als sie früher einmal von ihm hochgestellt worden sind. Und im Übrigen, Herr Prof. Dr. Lang, die Diktion des Gerichts ist so intensiv, dass sie nicht willkürlich ist in der negativen Bewertung des negativen Stimmgewichts. Das können Sie nun wirklich nicht sagen. Ich glaube aber, 120.000 Zweitstimmen braucht man für ein Mandat nicht. Gehen Sie nicht in die Politik, da werden Sie keinen Erfolg haben. 86
Vors. Sebastian Edathy: Herr Hahlen, bitte. 87
SV Johann Hahlen: Ich würde gerne zwei Dinge noch einmal ansprechen. Einmal: Föderale Aspekte. Da ist es richtig, was Herr Prof. Dr. Meyer gesagt hat. Das Verfassungsgericht hat jetzt in dem jüngstem Urteil vom Juli 2008 diese föderalen Aspekte zwar dem Gesetzgeber als möglichen Berücksichtigungsfaktor anheim gegeben, aber es hat diese föderalen Aspekte als nicht so gewichtig angesehen, dass der Verstoß gegen den Erfolgswert hiermit aufgehoben wäre. Das ist aus meiner Sicht ein tragender Grund. Von dieser Entscheidung wird man ausgehen müssen. Das bedeutet, dass dieser föderale Aspekt, dass innerparteilich die Landeslisten nicht mehr entsprechend ihrem Zweitstimmenergebnis ganz verhältnismäßig zum Zuge kommen, zwar bedauerlich ist, aber man wird es hinnehmen müssen, wenn man mit dem Verfassungsgerichtsurteil ernst macht. Aber noch einmal zu diesem Vorschlage von Herrn Prof. Dr. Meyer in dem CSU-Fall, wenn ein Überhangmandat entstünde, dann den schwächsten Wahlkreissieger nicht mehr in den Bundestag gelangen zu lassen. Herr Prof. Dr. Meyer, ich habe damit größte Probleme. Denn Sie machen genau das, was uns das Verfassungsgericht im Juli 2008 ins Stammbuch geschrieben hat. Es hat gesagt: Der Wähler muss wissen und vertrauen können, wenn er seine Stimme abgibt, dass diese auch Erfolg hat. Nun hat jemand in dem Wahlkreis seine Erststimme abgegeben und hat Erfolg gehabt. Und siehe da, er dringt dennoch nicht durch. Also, ich glaube, das ist eine Inkonsequenz, die man dem Gesetzgeber nicht empfehlen sollte. 88
[Protokoll Nr. 16/92, S. 33] Vors. Sebastian Edathy: Dann hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion der Abg. Benneter. 89
BE Klaus Uwe Benneter (SPD): Herr Hahlen, es mag schon richtig sein, dass der Wähler sein Verhalten nicht ausrichten kann vor der Wahl, weil er das nicht vorhersehen kann. Es ist doch klar, dass wir jetzt auf Grund dieser Diskussion, auf Grund des Urteils, auf Grund der Entwicklung natürlich im kommenden Wahlkampf alle an den Ständen die Fragen gestellt bekommen werden. Die Menschen werden uns doch fragen: Beeinträchtigt dieses Wahlrecht meine Stimme. Verletzt diese Regelung nicht in eklatanter Weise das Wahlrecht? Was ist eigentlich mit meiner Stimme? Ist es möglich, dass die hier für den Gegner gewertet wird? Ist das überhaupt grundsätzlich möglich? Ich werde ihm sagen können: Ich weiß nicht, ob es ihre Stimme sein wird, aber vom Grundsatz kann ich das nicht ausschließen. Das ist doch das, was wir den Menschen sagen müssten. Wir werden sicher keine Wahlwerbung haben, die sich auf diese Wählermanipulation ausrichtet oder ausrichten kann, aber damit werden wir konfrontiert werden in der ganzen Wahlauseinandersetzung. Deshalb noch einmal die Frage an Sie, Herr Prof. Dr. Mahrenholz: Habe ich Sie eben richtig verstanden: Sie hatten in ihrer Stellungnahme darauf hingewiesen, dass sie nicht spekulieren wollten. Ich möchte Sie auch nicht zum spekulieren anregen. Aber ist es denn vorstellbar, dass das Bundesverfassungsgericht nach einer nach altem Recht erfolgten Wahl sagen könnte: „April, April“? Wir haben es euch doch gesagt, das ist willkürlich, das verletzt in eklatanter Weise…, das ist widersinnig.... Wir haben euch zwar eine Frist eingeräumt, aber wir hatten damals nicht den Unterschied zwischen dem gesetzlichen Wahlrecht und dem verfassungsrechtlichen Wahlrecht gesehen. Wäre das möglich? Das wäre die Frage an Sie, die ich auch gleichlautend an Sie, Herr Prof. Dr. Meyer, richten wollte. Darüber hinaus eine weitere Frage, Herr Prof. Dr. Meyer hatte das schon deutlich gemacht, die Frage auch an Sie Herr Prof. Dr. Mahrenholz, weil Sie sich zu dem Materiellen bisher noch nicht weiter geäußert haben: Ich sehe das auch nicht, dass man da jemanden von der Landesliste wieder herunternehmen würde, also ein bereits errungenes Mandat entziehen würde. Wir haben das doch auch heute, dass einer in der Wahlnacht nicht weiß, ob er nun gewählt ist oder nicht, weil das immer noch zwischen Schleswig-Holstein und Südbayern hin- und herrutscht. Dann hätte ich auch noch die Frage an Sie, Herr Prof. Dr. Mahrenholz, zu dieser CSU-Problematik. Die würde bei dem Vorschlag, den die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemacht hat, bleiben. Das heißt, die CSU müsste irgendwo eine Sonderstellung bekommen. Wäre die Sonderstellung der CSU, die nicht jeder im Lande will, eine Gleicheitsverfälschung? Oder wie meinen Sie, dass man eine solche Sonderstellung ausschalten könnte. 90
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank. 91
SV Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz: Ich möchte mit dem letzten Punkt beginnen. Ich meine, dass wir hier den § 1 ernst nehmen müssen. Das ist eine personalisierte Verhältniswahl. Das heißt, es muss im Ergebnis der Proporz den Ausschlag geben, das [Protokoll Nr. 16/92, S. 34] ist nun einmal deutsche Wahlrechtstradition, mit gewissen Grenzen und Varianten seit 1919, damals sogar Verfassungssatz in der Weimarer Reichsverfassung. Und insofern habe ich durchaus Verständnis für den Vorschlag von Herrn Prof. Dr. Meyer, den ich hier nicht noch einmal zu wiederholen brauche. Ich habe mich an den Vorschlag gedanklich auch erst heran gerobbt. Aber ich glaube, es bleibt keine Wahl, wenn man die Grundprinzipien unseres Wahlgesetzes ernst nimmt. Dann hatten Sie noch nach dem Bundesverfassungsgericht gefragt, wie es entscheiden würde. Soweit ich gesagt habe, ich stimme Herrn Prof. Dr. Lang zu, dass das Bundesverfassungsgericht eine nicht mehr kalkulierbare Wahlrechtssystematik an den Tag legt, muss ich mich korrigieren. Das ist in der Tat so, aber wenn Sie das alte Urteil vom Ende der 90er Jahre mit dem jetzigen vergleichen von 2008, sehen Sie einen ganz bedeutenden Fortschritt in der gedanklichen Durchdringung des Problems. Es gibt eben dieses Überhangproblem. Es wurde Ende der 90er Jahre in dem letzten Urteil hinweg eskamotiert. Als wäre das vom System gewollt und man könnte da nicht heran. „Weiter Entscheidungsspielraum“. Das sagt das Gericht gerne, wenn es da nicht richtig heran will. Ich plaudere aus dem Nähkästchen, aber so ist es. Mit anderen Worten: Ein Fortschritt ist schon da. Nur so weit geht er sicher nicht, Herr Abg. Benneter, wenn wir nach dem alten, jetzigen Wahlrecht wählen, und dann kommt die Sache zum Gericht, vielleicht auch durch Fraktionen, dass dann das Gericht sagt: „April, April – wir ändern unsere Meinung. Ihr müsst noch einmal wählen“. Das Gericht hätte einen solchen Ansehensverlust, dass es nicht anders kann, als zu sagen: „Wir haben euch im Vorhinein gesagt, es geht mit der Frist und jetzt bleiben wir dabei. Das ist eben der Preis dafür, dass die Probleme viel zu kompliziert sind“. Und in dem Sinne kann man sich darauf verlassen, dass, wenn jetzt nach dem alten Recht gewählt wird, das passiert, was ich überraschend empfinde, dass ein Gericht im Vorhinein diese verfassungswidrige Wahl „absolviert“ – im Sinne der katholischen Theologie. Ich meine aber, dafür gibt es keinen verfassungsrechtlichen Grund. Der Gesetzgeber hat sich dem Grundgesetz zu unterwerfen, es sei denn, das Gericht schreibt ihm vor, du musst jetzt das und das machen. Das hat es hier nicht getan, bzw. nur im Bezug auf den Artikel 38 GG. Im Bezug auf Artikel 39 GG hat es gesagt: „Ihr könnt nach dem alten Recht wählen“. Dies geht eben nicht. Der Artikel 39 GG ist eine sengende Sonne, die auf den Bundestag herunter scheint. Dagegen muss er sich schützen. Da lässt sich nicht ein sehr fragwürdiger Sonnenschirm mit Hilfe dieser Sätze aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts herstellen. Wenn Sie es genau lesen, werden Sie merken, die Güterabwägung sah so aus: Hier gibt es zwar natürlich den Artikel 39 GG, (der gar nicht genannt wird – warum auch immer, er taucht nicht auf) und dagegen steht der Abwägungszeitraum des Bundestages, auf den der Gesetzgeber einen Anspruch hat. Dann wird gesagt: Wir sind der Meinung, das gewichtigere Pfund ist die sorgfältige Überlegung des Gerichts. Dann nehmen wir die Verfassungswidrigkeit der Wahl in Kauf. Ich halte diese Abwägung für indiskutabel angesichts dessen, was auf dem Spiel steht. Herr Prof. Dr. Meyer hat das sehr drastisch gesagt: Das ist überhaupt keine Wahl mehr. Und was „willkürlich“ ist und ein „eklatantes“ Missverhältnis ist, das kann man nicht noch einmal auf die Bevölkerung loslassen. 92
[Protokoll Nr. 16/92, S. 35] Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Dr. Mahrenholz, wenn Sie noch einen Satz sagen könnten zum Thema CSU. Das ist auch von Herrn Benneter gefragt worden. 93
SV Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz: Wenn wir das ernst nehmen, dass es eine Verhältniswahl ist, die mit Personalität verbunden wird, dann ist das, was Herr Prof. Dr. Meyer ausgeführt hat, richtig. Es wird nicht das Wahlergebnis erst einmal festgestellt, z.B. Herrn Benneter ist gewählt, und jetzt kommt einen Tag später: „Wir haben Probleme, jetzt wird das Wahlmandat entzogen“, sondern es ist so, dass das eingeht in das Zuteilungsverfahren. Es ist Bestandteil des Zuteilungsverfahrens, dass dieses Problem der CSU auf diese Weise – wie ich meine adäquat und dem Verhältniswahlrecht entsprechend – gelöst wird. Es tut mir leid. Ich kann Sie nur damit trösten, dass ich selbst einige Schwierigkeiten hatte, das nachzuvollziehen. Aber ich glaube, das, was Prof. Dr. Meyer sagt, ist richtig. 94
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Dr. Meyer ist auch noch gefragt worden. Herr Abg. Benneter, bitte. 95
BE Klaus Uwe Benneter: Es war die Frage, ob man sie von der Landesliste wieder herunter nimmt. Es ist der Hinweis gekommen, man könne ein schon erteiltes Mandat… Wenn jemand auf der Landesliste sei, dann würde er nachher wieder herunter genommen werden, wenn er das in NRW erworben hätte, aber durch die Verrechnung dann nachher… 96
SV Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz: Das ist das Problem, das wir jetzt auch schon in gewisser Weise haben. Da sehe ich keinen neuen Aspekt. Und eins möchte ich auch noch sagen: Wenn wir in der Verhältniswahl sind, gibt es keine Würdigungen, keine Abgeordneten erster Klasse, die ihr Mandat, ihren Wahlkreis erobert haben, und zweiter Klasse, die nur über die Landeslisten kommen, weil es der Parteitag so gewollt hat. Es sind beides Abgeordnete aufgrund des Verhältniswahlrechts und nur die einen haben aufgrund der Personalisierung ein Direktmandat. Aber ob sie es erworben haben, Herr Prof. Dr. Lang, weil sie sich so enorm eingesetzt haben, dem anderen es abgejagt haben, oder ob Frau Merkel mit ihrer Politik vielleicht dazu beigetragen hat, dass der Wahlkreis erobert wird, und nicht die eigenen großen Anstrengungen, das ist auch noch einmal die Frage. Und bei solchen Geschichten kann man wirklich nicht Psychologie treiben und sagen: „Das ist mein Konto und das ist Frau Merkels Konto und das ist das Konto der großen Koalition“. Aus diesem Grunde darf es überhaupt kein Thema sein, wenn wir das Wort „Verhältniswahlrecht“ ernst nehmen und ernst nehmen, was das Gericht gesagt hat – was ich für ganz wichtig halte: Föderalismus hat hier einen zweiten Rang. Das ist wirklich ein qualitativer Fortschritt gegenüber der Rechtsprechung, die es vor zehn Jahren eingeschlagen hat. 97
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Dr. Meyer, bitte. 98
[Protokoll Nr. 16/92, S. 36] SV Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Meyer: Erster Punkt: Man muss klar sagen, dass es keine CSU-Klausel in dem Entwurf gibt. Zweiter Punkt: Eine CSU-Klausel wäre natürlich verfassungsgemäß. Es gibt gar keinen Zweifel, dass sie möglich wäre. Dritter Punkt: Das Gericht hat gesagt: Der Gesetzgeber muss nicht alle unwahrscheinlichen Situationen berücksichtigen. D. h., er könnte also heute sagen: Es ist unwahrscheinlich, dass die CSU ein Überhangmandat bekommt, denn sie hat bei der letzten Wahl, wo sie einen relativ hohen Zweitstimmenanteil hatte, immer noch zwei Leute aus der Liste bekommen. D. h., die Zweitstimmen der CSU müssten rapide heruntergehen. Ich glaube, so groß ist der Verfall der CSU noch nicht einzuschätzen, dass das im diesem Jahre zu erwarten ist. 99
– Zwischenrufe, nicht rekonstruierbar – 100
SV Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Meyer: Wenn man dem Gesetzentwurf folgt, wäre vielleicht der Hinweis, dass, wenn das größere Ausmaße annimmt, man das nicht mehr tolerieren wird, vielleicht ganz vernünftig. Wenn tatsächlich drei oder vier Überhangmandate anfielen, dann würde der Gleichheitsgrundsatz erheblich ins Wanken kommen. Zumal das Gericht die föderale Gliederung zurückgestuft hat. Ich denke, das lässt sich heute noch verteidigen, ohne dass man daran jetzt den Verfassungswidrigkeitsvorwurf anknüpfen müsste. 101
Vors. Sebastian Edathy: Herr Abg. Benneter, jetzt hat sich noch Herr Hahlen gemeldet, was eigentlich bei Sachverständigenanhörung ungewöhnlich ist. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich ihm trotzdem das Wort erteilen. Herr Ha hlen, bitte. 102
SV Johann Hahlen: Vielen Dank, Herr Vorsitzender. Ich hatte noch in der Erinnerung, dass Herr Abg. Benneter mich angesprochen hatte. Herr Abg. Benneter, Sie hatten gefragt, wie das mit der Verunsicherung war, wenn ich das noch richtig im Kopf habe. In der Tat, eine solche Verunsicherung ist nicht von der Hand zu weisen. Es kommt darauf an, wie man das den Wählerinnen und Wählern erläutert. Was Herr Prof. Dr. Pukelsheim gesagt hat: Theoretisch wird man eine solche Verunsicherung nicht bestreiten können, obwohl es eben eine Frage dieses relativ kleinen und eben nicht im Vorhinein quantifizierbaren Fensters ist. Ich möchte noch eine Bemerkung anschließen, Herr Prof. Dr. Mahrenholz. Ich kann allen Ihren Ausführungen rechtspolitischer Art folgen. Aber das sind alles Fragen an den Gesetzgeber, wie er die Gewichte in dem Wahlrecht zwischen dem Persönlichkeits- und dem Verhältniselement setzt. Und die Klausel von Herr Prof. Dr. Hans Meyer würde das Persönlichkeitselement sehr zurückdrängen. Und das muss sich der Gesetzgeber gut überlegen. Vielleicht noch einmal der Hinweis: Das Gericht hat ja diese Frist deshalb gesetzt, weil es gesagt hat: Seht euch alle Alternativen an. Ihr könnt Überhangmandate abschaffen, Ihr könnt die Listenverbindung abschaffen oder Ihr könnt den Verhältnisausgleich zwischen den Landeslisten abschaffen. Also der Spielraum ist recht groß. Aber jetzt, vor dieser Wahl, verengt er sich in der Tat nur noch auf die Kompensationsmodelle. 103
[Protokoll Nr. 16/92, S. 37] Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank. Die Befragung durch die Fraktion DIE LINKE. entfällt, da sich die Berichterstatterin wegen eines familiären Krankheitsfalls schon verabschieden musste und ein weiteres Mitglied der Fraktion nicht anwesend ist. Meine Frage ist: Machen wir eine zweite Berichterstatterrunde oder machen wir eine offene Fragerunde? Ich würde zu letzterem raten. Dann bitte ich um Wortmeldungen, wer noch Fragen stellen möchte. Zunächst Herr Abg. Wieland. 104
BE Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe noch einmal eine Frage an die Herrn Professoren Mahrenholz und Meyer, weil man hier nun öfter, wenn man mit Kollegen redet, bedeutet bekommt: Wir könnten auch ganz anders, ein ganz anderes Wahlsystem wählen. Nur Mehrheitswahlrecht, nur Verhältniswahlrecht oder Grabenwahlsystem etc. Wie schätzen sie es denn ein, auch im Hinblick auf internationale Beziehungen, auf das Ausland: Hat sich unser personifiziertes Verhältniswahlrecht bewährt? Wir haben nur über die Probleme geredet, das ist naheliegend, aber zum Ende hätte ich auch gerne noch einmal eine grundsätzliche Einschätzung, ob es sich lohnt, diese Arbeit in dieses System weiter zu investieren? Zweite Frage an Herrn Prof. Dr. Lang, der nun gerade nicht da ist. Weil ich von ihm noch einmal, das wurde kritisiert, diese „weggenommenen Mandate“ erläutert haben wollte. Herr Kollege Benneter hat es gesagt: Ein Mandat, das noch gar nicht errungen ist, wie kann man es wegnehmen? Wird nicht sogar am Wahlabend die Frage, wer gewählt ist, einfacher zu beantworten, weil wir diese große Ungewissheit nach Überhangmandaten deutlich weniger haben werden? Und dann die Ausrechnung herunter auf die sog. „unsicheren Listenplätze“, Kollege Benneter hat es gesagt, das haben wir jetzt auch schon. Weil es auch immer davon abhängt, wie die Landesverbände zu einander in Proportion sind. Also nicht nur, wie die Partei insgesamt abgeschnitten hat, sondern auch, wo sie besonders gut und besonders schlecht abgeschnitten hat. D. h. der, der nur auf einem „unsicheren Listenmandat“ ist, muss auch heute schon bis zum Ende warten, bis er weiß, er ist drin oder er ist nicht drin. Was soll sich da verschlechtern? Aber nun ist Herr Prof. Dr. Lang wohl im Moment nicht da. 105
Vors. Sebastian Edathy: Das wollte ich gerade einwenden. Es macht natürlich schon Sinn, Herr Kollege Wieland, Fragen an anwesende Sachverständige zu stellen. Es sei denn, dass die Frage von einem anderen der Sachverständigen beantwortet werden sollte. 106
BE Wolfgang Wieland: Ich denke vielleicht Herr Hahlen. Ich weiß nicht, ob Sie zu der Frage etwas sagen könnten, Sie hatten damals ein bisschen genickt, als es herankam, dass es hier ein föderales Problem sei, dass dem einen Landesverband oder dem einen auf der Liste eines Landesverbandes das Mandat doch letztlich weggenommen würde. Es kann doch höchstens ein auf eigenen Hochrechungen bestehendes Mandat sein, Gewissheit gibt es heute nicht und wird es auch in Zukunft nicht geben. Und zu der CSU-Frage, Herr Prof. Dr. Meyer hat es gesagt: Wir waren nicht so kühn wie er. Wir haben diese Frage hier ausgeklammert. Weil wir nur eine Sofortmaßnahme haben [Protokoll Nr. 16/92, S. 38] wollen und außerdem auch wissen: Die Bayern kauft man entweder ein, wie Bismarck, oder man kann ihnen drohen. Wenn man beides nicht kann, muss man ihre Sonderwege respektieren. 107
Vors. Sebastian Edathy: Herr Hahlen möchten Sie zu der Frage etwas sagen? 108
SV Johann Hahlen: Herr Vorsitzender, Herr Abg. Wieland. Ich hatte schon darauf hingewiesen. Ich glaube, dass das Gericht nach seiner Rechtsprechung diese föderalen Gesichtspunkte nicht als Rechtfertigung für die Verschiebung der Stimmgewichte durch dieses negative Stimmgewicht anerkennt. Insofern ist das zwar bedauerlich, dass der innerparteiliche Proporz nicht mehr gewährleistet ist, das muss aber nach der Rechtsprechung, glaube ich, hingenommen werden. Was die Landeslistenmandate angeht, wäre ich dankbar, wenn Sie die Frage doch an Herrn Prof. Dr. Lang stellen würden. 109
Vors. Sebastian Edathy: Vielleicht ganz kurz, Herr Abg. Wieland. 110
BE Wolfgang Wieland: Ich bemühe mich um Verknappung. Noch einmal präzise nachgefragt, was Kollege Benneter schon ihre Kollegen gefragt hat. Sie sprachen von „Wegnahmen“ von Mandaten. Kann ich denn ein Mandat, das ich noch gar nicht errungen habe, wegnehmen? Und wird die Ungewissheit für Kandidaten auf sog. „unsicheren Listenplätzen“ denn wirklich größer als heute, wo sie auch davon abhängig sind, zunächst, wie viele Direktmandate Vorrang haben, dann davon abhängig sind, wie stark ihr Landesverband im Verhältnis zu den anderen Landesverbänden abgeschnitten hat? 111
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Dr. Lang, bitte. 112
SV Prof. Dr. Heinrich Lang: Vielen Dank. Aus meiner Sicht ist es die Frage: Was nehmen wir ernst? Was wird mit der Zweitstimme eigentlich gewählt? Eine Partei oder die Landesliste einer Partei? Der Gesetzestext spricht von der Landesliste einer Partei. Insofern ist bei Auszählung der Zweitstimmen diese Liste abgearbeitet. Nehmen Sie dann Korrekturen vor, weil es Ihnen in anderen Bundesländern mit den Zweitstimmen schlecht ergangen ist, dann sehe ich das als Wegnahme. Natürlich müsste man das Wort „Wegnahme“ – das ist ein juristischer Fachterminus – in Anführungszeichen setzen. Man nimmt jemandem das zuvor Erkämpfte – und dafür hat die Stimmenanzahl im relevanten Wahlgebiet eben gereicht – weg. Ich möchte noch etwas zu den negativen Stimmgewichten und zu der Aussage „Das ist willkürlich, das ist widersinnig“ sagen. Herr Hahlen hat es bereits angesprochen. Es ist wirklich marginal; man muss die Kirche im Dorf lassen. Es wird nicht die Legitimität des gesamten Deutschen Bundestages in Frage gestellt, wenn es ganz vereinzelt zu diesen Effekten kommt. Die vom Gericht verwendeten Prädikate wie „willkürlich“ sollen vielleicht auch ein bisschen kaschieren. Denn wenn das so „widersinnig“ ist, dann müsste man sich doch fragen, warum der Rechtsfolgenausspruch im Nichts verpufft. Wieso ist dann diese Wahl nicht aufgehoben worden, wenn das „willkürlich“, „widersinnig“ und „rechtsstaatswidrig“ und [Protokoll Nr. 16/92, S. 39] überhaupt keine Wahl war? Wenn das alles von diesem Wahlrecht bewirkt würde, wieso lässt dann das Gericht dieses Wahlrecht oder dieses so gewählte Parlament vollkommen unangetastet? 113
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank. Jetzt zu den generellen Wahlrechtsfragen Prof. Dr. Mahrenholz und Prof. Dr. Meyer. 114
SV Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz: Zu der letzten Frage von Herrn Prof. Dr. Lang nur ein Bemerkung. Es kam eben erst im vierten Jahr oder am Ende des dritten Jahres der Wahlperiode dazu, darüber zu judizieren. Es hat nun wirklich keinen Wert, dass man eine Wahlperiode, die schon praktisch verstrichen ist, deswegen aufhebt und neu wählen lässt. Herr Abg. Wieland, was Sie fragen, haben Sie unter internationalem Aspekt gefragt. Konkret für uns wird das eine unfruchtbare Sache werden. Ich halte unser Wahlsystem für das beste unter allen möglichen, weil es das personale Element mit dem Verhältniswahlelement sehr gut verbindet. Es ist prinzipiell eine Verhältniswahl. Das ist in Deutschland seit 1919 Tradition. Ich habe Zweifel, ob ein Übergang zur Mehrheitswahl unserer Tradition der Auslegung dessen, was Wahlgleichheit heißt, entspricht. In England regiert die Minderheit, wenn sie die Mehrheit der Mandate hat. Das halten wir, glaube ich, nicht durch. Deswegen ist das, dass wir eine Verhältniswahl haben, das System, das uns am nächsten steht. Vor allem unserem Verständnis von Wahlgleichheit, und das nimmt dann allerdings, wenn wir ein personalisiertes Verhältniswahlsystem haben, der flächenmäßigen Rigorosität des Verhältniswahlrechts den Stachel. Ich bin nach 1989 mehrfach in anderen, osteuropäischen Ländern gewesen und wurde nach Verfassungsfragen gefragt. Ich bin leider nie nach Wahlrechtsfragen gefragt worden. Ich hätte dann gesagt: Was wir im Wahlrecht haben, ist im Prinzip genau das Richtige. Es ist nur, hätte ich warnend hinzugefügt, eine sehr schwierige Sache, wie wir alle wissen, mit den Details fertig zu werden. Die reine Verhältniswahl würde ich demgegenüber nicht für so gut halten wie unser System. Zum Mehrheitswahlrecht habe ich mich geäußert. Ich habe Zweifel, ob wir heute noch nach unserem Verständnis von Wahlgleichheit, das Mehrheitswahlrecht umstülpen könnten. Und das Grabensystem ist, verzeihen Sie das Wort, unappetitlich. Ich kann mich damit nicht befreunden, dass das Bundesverfassungsgericht dies zweimal erwähnt hat, ohne jede Begründung, warum es verfassungsmäßig ist. Das werden zwei völlig getrennte Systeme, konträre Systeme, zusammengekoppelt. Und man weiß auch, welche Parteien den Vorteil haben. Ich halte es für eine befremdliche Vorstellung, wir könnten nach dem Grabensystem wählen. Abgesehen davon, dass es bei uns auch keine Chancen hätte. Danke. 115
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Dr. Meyer, bitte. 116
SV Prof. Dr. Dr. h. c. Meyer: Es ist etwas verwunderlich, dass das Bundesverfassungsgericht einen kleinen Strauß, aber keineswegs einen vollständigen Strauß dahinstellt. Es war völlig überflüssig. Es ist nicht seine Aufgabe aufzuzeigen, welche Möglichkeiten bestehen, sondern es hat darüber zu entscheiden, ob ein bestimmtes Verfahren oder [Protokoll Nr. 16/92, S. 40] ein bestimmtes Wahlgesetz in Ordnung ist oder nicht. Fakt ist, dass es fast unmöglich ist, ein System, das auf der Verhältniswahl basiert, wie bei uns, radikal zu ändern. Es wird keine Änderung in ein reines Mehrheitswahlrecht geben. Es wird keine Änderung in das Grabenwahlsystem geben. Man müsste sich von der FDP verabschieden, denn die könnte dem nie zustimmen, bei derselben Zustimmung der Wähler die Hälfte der Sitze zu haben. Das ist undenkbar. Darüber zu reden, ist Unfug. Es ist wirklich Verschleuderung von Ressourcen. Die Frage, ob sich unser personalisiertes Verhältniswahlsystem bewährt hat, würde ich ganz klar mit „ja“ beantworten. Ich glaube aber, der wichtigste Punkt an diesem System ist, dass die Rekrutierung des politischen Personals zur Hälfte lokal passiert, dass nicht die Zentrale im Land oder sogar die Zentrale im Bund, welche die Hälfte der potenziellen Politiker bzw. Mandatsträger bestimmt, sondern lokale Organisationen. Das ist ein ungeheurer Vorteil unseres Systems. Und den sollten wir auch nicht aufgeben. Unser Problem ist das Zweistimmensystem. Und das Zweistimmensystem hat die FDP durchgeboxt, um splitten zu können. Und zwar splitten zu können mit diesem Vorteil des doppelten Stimmrechts. Das ist ein Schwachpunkt und wenn das weitergemacht wird, wird das irgendwann auf der Tagesordnung des Gerichts stehen. Und ich kann mir nicht vorstellen, nachdem sie jetzt schon gesagt haben: Doppeltes Stimmgewicht ist eine der größten Schandtaten, die es im gleichheitsmäßigen Wahlrecht überhaupt gibt, dass sie das aufrechterhalten werden. Das ist ein Problem unseres Systems. Wir brauchen aber die Zweitstimmen nicht, um unsere Verbindung von Mehrheitswahl und Verhältniswahl, von Direktwahl und Verhältniswahl aufrechtzuerhalten. 117
Vors. Sebastian Edathy: Herr Kollege Wieland, Herr Prof. Pukelsheim hatte sich noch gemeldet. Sind Sie einverstanden? 118
SV Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim: Danke schön! Ich möchte etwas zur internationalen Anerkennung unseres Wahlsystems sagen. Es ist in der Tat ein Exportschlager. Es ist in den letzten 50 Jahren kein Wahlsystem in einem anderen Land so oft kopiert worden, wie das unsrige. Auch von Staaten, die traditionell ein starkes Mehrheitswahlsystem haben, wie das Westminster-System in England. Neuseeland hat unser System übernommen, nachdem eine Kommission die ganze Welt bereist und einen staubtrockenen Bericht von 600 Seiten geschrieben hat, wo am Ende stand, das deutsche System ist unser Vorbild – dann haben sie es übernommen. Dieser staubtrockene Bericht ist 10 Jahre später noch ein zweites Mal gedruckt worden, weil er so viel Anklang weltweit fand, dieser Vergleich der Systeme und dass wir darauf stolz sein können. Aber andernorts wird unser System weiterentwickelt, um die Schwierigkeiten, die wir genau hier sehen. Das schottische Parlament wird nach unserem System gewählt, so wie es der Gesetzentwurf der Grünen vorsieht, nämlich mit der Anrechnung der Direktmandate, um dann erst mit der Verhältnisrechnung einzusetzen. Das ist also genau das, was der Gesetzentwurf vorsieht. Zum Beispiel das Berliner Abgeordnetenhaus wird danach gewählt. Allerdings ist da in deutscher Tradition das Landeswahlgesetz so quer formuliert, dass die letzten beiden Abgeordnetenhauswahlen vor dem Landesverfassungsgerichtshof geendet haben. Wenn Sie [Protokoll Nr. 16/92, S. 41] aber die Zahlen ansehen, die mich als Mathematiker in erster Linie interessieren, ich lese die Gesetzestexte nur , weil ich muss, aber die Zahlen, das ist genau das System, was hier im Raum steht. Deshalb ist eine gewisse Reformstarre spürbar, nicht nur, wenn man andere reformieren möchte, sondern offenbar auch, wenn der Bundestag sich selber einmal einen Schwung geben sollte. Es ist nichts Revolutionäres, was hier zur Diskussion steht. Unser Wahlsystem ist so gut, dass, wenn wir es ein bisschen weiter entwickeln, wir auch weiter an der Spitze bleiben. Das war meine ungefragte Antwort auf Ihre Frage. 119
Vors. Sebastian Edathy: Herr Kollege Mayer, bitte. 120
BE Stephan Mayer (Altötting): Ich möchte mich zunächst als Vertreter Bayerns ganz herzlich für den sehr ehrvollen und respektvollen Umgang der Grünen mit dem Freistaat Bayern bedanken. Als Vertreter der CSU möchte ich schon darauf hinweisen, was die Beschwichtigungen einiger Sachverständiger anbelangt, dass diese Alternative, die Herr Prof. Meyer in die Diskussion gebracht hat, was die Sonderstellung der CSU anbelangt, ja doch verfassungsgemäß sei, dass man es sich meines Erachtens nicht so einfach machen kann. Auch wenn der Schwerpunkt unseres Wahlrechts auf dem Verhältniswahlrecht liegt, denke ich schon, dass es auch ein ganz wichtiger Aspekt unseres Wahlrechts ist, dass jeder Bürger den Anspruch darauf hat, dass er einen direkten Vertreter in Berlin sitzen hat. Dass er einen direkt gewählten Wahlkreisabgeordneten wählt und nicht nur wählt, sondern, dass dieser auch sein Mandat bekommt. Wenn dies nicht der Fall wäre, würde ich schon erhebliche Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit anmelden. 121
Eine konkrete Frage an Prof. Lang, insbesondere, was die Frage anbelangt, wenn es so sei, wie Herr Prof. Mahrenholz angesprochen hat, dass wir trotz der uns gegebenen Frist bis 30. Juni 2011 gehalten sind, noch in der laufenden Legislaturperiode eine Änderung des Wahlrechts vorzunehmen. Wenn man dies als apodiktisch setzt, ob wir uns da nicht bestimmte Möglichkeiten nehmen, die es, teilweise explizit angesprochen, teilweise unangesprochen auch noch gibt, neben dem jetzt zur Diskussion stehenden Kompensationsmodell. Es gibt Mehrheitswahlrecht, Verhältniswahlrecht, einheitliche Bundeslisten, Verzicht auf Listenverbindungen usw., was alles nicht mehr möglich wäre, weil die Kandidaten größte nteils schon nominiert wurden und dies aus wahlrechtlichen Gründen jetzt nicht mehr möglich wäre, auf derartige Modelle umzuschwenken, und ob wir uns nicht, wenn wir uns apodiktisch verpflichten, noch in der laufenden Periode das Wahlrecht zu ändern, selbst binden und selbst beschränken, auch vor dem Hintergrund die freien Rechte des Bundestagsabgeordneten beschränkt werden. 122
Die zweite Frage auch an Herrn Prof. Lang, was den Umstand anbelangt, dass von einigen Sachverständigen angedeutet wurde, man könne doch jetzt die nächste Bundestagswahl 2009 mittels dieses gering oder minimal-invasiven Eingriffs ins Bundeswahlrecht durchführen und sich dann nach der Bundestagswahl 2009 noch einmal neue Gedanken machen, wie wir das Wahlrecht in Deutschland aufstellen und dann [Protokoll Nr. 16/92, S. 42] auch noch einmal die Diskussion öffnen hinsichtlich der von mir schon angesprochenen weiteren Modelle, die es noch gibt, die teilweise realistisch, teilweise sehr unrealistisch sind. Meine Frage ist, ob diese Vorgehensweise der Anforderung gerecht würde, die das BVerfG auch in dem Urteil vom 3. Juli letzen Jahres an uns gestellt hat, nämlich ein verständliches, klares Wahlrecht zu formulieren und auch, was das Wahlrecht anbelangt, das konstitutiv für unsere parlamentarisch repräsentative Demokratie ist, ein ordentliches Maß an Stringenz und Verlässlichkeit auch an den Tag zu legen. Also nicht nach dem Motto „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ zu jeder Wahl hin das Wahlrecht ändern und nach einem neuen Wahlrecht wählen. Die Frage ist: Wie würde eine derartige Vorgehensweise im Lichte der Vorgaben des BVerfG zu sehen sein? 123
Meine dritte Frage möchte ich an Herrn Prof. Lang anschließen: Wie bewerten Sie den Vorschlag, der auch in der Diskussion ist, auf die bundesweite Oberverteilung zu verzichten und nach den Bevölkerungsanteilen der jeweiligen Bundesländer feste Kontingente an Bundestagsmandaten auf die Bundesländer zu verteilen und dann nur „eine Unterverteilung“ nach den jeweiligen Bundesländern vorzunehmen. Das ist kein ganz neuer Vorschlag, das Wahlrecht zum ersten deutschen Bundestag sah diese Regelung vor. Wie bewerten Sie diese? 124
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Lang, bitte. 125
SV Prof. Dr. Heinrich Lang: Vielen Dank! Zunächst eine kleine Vorbemerkung noch einmal zur Vorsteuerungskraft des Verfassungsrechtes. Insbesondere im Wahlrecht ist das einfache Gesetz ein Stück materielles Verfassungsrecht. Es ist eine Besonderheit, die es sonst nicht gibt. Wenn wir Verfassungsvorgaben suchen, sehen wir in die Verfassung selbst und fragen, was steht da. Im Wahlrecht ist es anders. Wir müssen hier das einfache Recht zu Hilfe nehmen, um zu verstehen, was die Verfassung will. Das ist eine Besonderheit und hat insbesondere Bedeutung, wenn man Systeme mischt und wenn man Vorschläge macht, wie demjenigen Gewählten, der das Direktmandat errungen hat, das Mandat nicht zu gewähren, weil es das schlechteste Ergebnis war. 126
Zur Frage: Muss man jetzt sofort ändern, soll man nicht warten und wie verhält sich das mit dem, was das BVerfG gesagt hat? Wie ist es mit der Diskussion von Alternativen? Herr Hahlen hat das glasklar formuliert, im Moment sind alle anderen Alternativen ausgeschlossen. Vor der Wahl gehen nur kompensatorische Modelle, alles andere ist im Moment nicht mehr umsetzbar. Ich würde mich als Abgeordneter in der Tat in meinem Rede-, Verhandlungs- und Beitragsrecht im Bundestag beschränkt fühlen, wenn ich nur noch auf die Schnelle einen Entwurf abnicken soll und die Diskussion und alles andere mir eigentlich vorenthalten bleibt, weil man sagt, das geht jetzt nicht mehr. Ob Alternativen wie das Mehrheitswahlrecht politisch durchsetzbar sind, ist eigentlich gar nicht die Frage. Wir diskutieren im Moment nämlich darüber, wie reagiert man auf einen verfassungswidrigen Zustand. Möglicherweise müsste man sich zu einer ganz groß angelegten Reform durchringen, wenn das der einzige Zustand wäre, mit dem [Protokoll Nr. 16/92, S. 43] man dieses Phänomen, was das BVerfG für verfassungswidrig erklärt hat, vernünftig beseitigen wollte. 127
Ob – so die Frage – eine schnelle Lösung bereits für die Wahl 2009 eigentlich unproblematisch wäre, will ich nicht tot reiten, es könnte dann zu mehrfachen Wahlanfechtungen kommen. Aus meiner Sicht ist der Schaden für den Bundestag noch weitaus größer, wenn Sie jetzt einen Schnellschuss machen und Sie bekommen es wieder, weil Sie z. B. das doppelte Stimmgewicht, das eklatant verfassungswidrig ist, nicht regeln, dann laufen Sie Gefahr, dass erneut eine solche Entscheidung kommt. Dann stehen Sie wieder vor dem Problem, dass Sie auf verfassungswidriger Grundlage gewählt sind. Auf die Anfechtungen durch die von mir genannten entzogenen Mandate will ich jetzt nicht mehr eingehen. 128
Wenn man auf die Verbindung verzichtet und das länderweit nur macht – das war die dritte Frage –, dann hätte man ein Problem mit der 5 %-Klausel. Das wird zu einer Schwächung der kleinen Parteien führen, ganz egal, ob man so tut, als würde man auf Bundesebene nur die 5 %-Klausel anwenden, oder ob man sie sogar landesweit anwendet; in jedem Fall werden bei den schwächeren Landeslisten Stimmen wegbrechen. Das würde die kleineren Parteien benachteiligen, das ist aus meiner Sicht nicht empfehlenswert. 129
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank! Der Kollege Ahrendt hatte sich gemeldet. 130
Abg. Christian Ahrendt (FDP): Vielen Dank, Herr Vorsitzender. Eine Frage, die meines Erachtens noch nicht überlegt worden ist. Es gibt, soweit ich das weiß, in einigen Landtagen durchaus Modelle, wo negatives Stimmgewicht und Ausgleichsmandate möglich sind. Gibt es auch ein vorstellbares Modell auf Bundesebene, wo ich auf der einen Seite das negative Stimmgewicht nicht habe, aber gleichwohl Ausgleichsmandate zulasse? Die Frage geht an die Herren Prof. Pukelsheim, Prof. Mahrenholz und Prof. Lang. 131
Vors. Sebastian Edathy: Dann bitte in der Reihenfolge, Prof. Pukelsheim zuerst. 132
SV Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim: Ausgleichsmandate auf Bundesebene wären möglich, wenn wir an potenzielle Überhangmandate von der CSU denken. Ein Modell, was die Unterzuteilung entlang der Landeslisten einer Partei mit Ausgleichsmandaten repariert, sehe ich nicht. Die Beispiele aus den Landtagen sind so, dass diese zweistufige Verteilung so nicht auftritt, d. h., es ist immer eine einstufige Verteilung. Dadurch kann durch eine Vergrößerung des Landtages, also durch zusätzliche Schaffung von Ausgleichsmandaten, die Verhältnismäßigkeit wiederhergestellt werden. Aus meiner Sicht wäre eine Option, die heute aber nicht ansteht, die auf Bundesebene potenzielle CSU-Mandate durch Ausgleichsmandate, durch eine Vergrößerung des Bundestages auszugleichen, was über die letzten 50 Jahre null Mandate ergeben hätte. Wenn es dann tatsächlich in nennenswerter Zahl eintritt, kann man immer noch darauf [Protokoll Nr. 16/92, S. 44] reagieren. Das wäre eine Möglichkeit, Ausgleichsmandate hier im BWG einzusetzen. Das ist aber heute nicht die Diskussion und es ist auch vom Bundesverfassungsgerichtsurteil nicht vorgegeben, an dieser Stelle etwas tun zu müssen, um die Verfassungswidrigkeit zu beseitigen. Von daher ist der vorliegende Entwurf ein Entwurf mit Augenmaß, das zu machen, was ansteht und was aus meiner Sicht die Wählerinnen und Wähler irritieren kann. 133
Vors. Sebastian Edathy: Vielen Dank! Herr Prof. Mahrenholz, bitte. 134
SV Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz: Ich kann dem nichts hinzufügen. Vielen Dank, Herr Vorsitzender. 135
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Dr. Lang, bitte. 136
SV Prof. Dr. Heinrich Lang: Soweit ich das beurteilen kann, und die Mathematiker werden das sicher besser wissen, müsste man 1 Ausgleichsmandat der CSU, also 1 Überhangmandat der CSU, mit etwa 10 Ausgleichsmandaten kompensieren. Das würde zu einer Vergrößerung des Bundestages führen, die allgemein unerwünscht ist. Ein weiteres Problem stellte sich durchaus auch verfassungsrechtlich, wenn ein im Überhang direkt gewählter Kandidat ausscheidet. Sie hätten dann nämlich niemanden, der in der Liste nachrückt. Listenbewerber könnten es nicht sein und Ersatzwahlkreisbewerber haben wir nicht. Soweit ich sehe, ist im politischen Raum der Widerstand gegen Ersatzwahlkreisbewerber auch relativ hoch. Deshalb möchte ich diesen Vorschlag auch nicht zwingend präferieren. Danke schön! 137
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Lang, würden Sie mir eine Nachfrage erlauben: Wieso bedürfte es für den Ausgleich eines Überhangmandates in Bayern zehn Mandate? 138
SV Prof. Dr. Heinrich Lang: Das habe ich Zahlen entnommen, die ich gelesen habe, vielleicht kann Herr Prof. Pukelsheim das mathematisch nachvollziehen. 139
Vors. Sebastian Edathy: Herr Prof. Pukelsheim, können Sie das aufklären? 140
SV Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim: Ja, man muss ein bisschen mit den Zahlen spielen. Wenn man in 2005 Stimmen von der CSU in Bayern verschiebt zur SPD in Bayern, dann kann man auf diese Art Überhangmandate der CSU in Bayern erzeugen. Das erste Überhangmandat wird ungefähr den Bundestag um 6 Mandate vergrößern, einschließlich des Mandats für die CSU plus noch einmal 5 Mandate dazu. Das zweite Überhangmandat macht dann ungefähr Vergrößerungen in Sprüngen von 10 bis 12 Mandaten notwendig, weil erst die größere Partei verhältnismäßig bedient werden müsste, bevor die kleinere – CSU – dran kommt, relativ auf nationaler Ebene. Das ist aber alles ganz hypothetisch auf den Zahlen von 2005 aufgebaut. Selbst wenn man hier mit 2 Überhangmandaten hantiert, käme man mit 6 plus 10 auf 16 insgesamt, [Protokoll Nr. 16/92, S. 45] einschließlich der Ausgleichsmandate, was wir im Moment an Überhangmandaten haben. Diese Krokodilstränen, dass der Bundestag dann schnell zu groß wird, entsprechen nicht ganz den Tatsachen. 141
Vors. Sebastian Edathy: Gibt es noch weitere Wortmeldungen? Ich will gar nicht die Frage stellen, auf wie viel Prozent die CSU in Bayern abrutschen müsste, damit die ersten Überhangmandate festzustellen sind. Ich erwarte aber keine Beantwortung. 142
Wir sind damit am Ende der heutigen Sachverständigenanhörung. Ich bedanke mich bei allen für die Teilnahme, insbesondere bei den Sachverständigen und wünsche noch einen angenehmen Restarbeitstag. 143
Ende der Anhörung: 15.30 Uhr

 


eingetragen von Matthias Cantow