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Deutscher Bundestag

16. Wahlperiode

208. Sitzung (Auszug)

Berlin, Donnerstag, den 05.03.2009


 

[...]
[Plenarprotokoll 16/208, S. 22498] Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Jerzy Montag, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
– Drucksache 16/11885 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
(D) 1
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. 2
[Plenarprotokoll 16/208, S. 22499] Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Demokratie haben allein der Wähler und die Wählerin das Wort. Der Deutsche Bundestag soll so zusammengesetzt sein, wie es der Wählerwille, der Wille des deutschen Volkes, bestimmt. Der Wille des Wählers darf sich nicht plötzlich aufgrund rechnerischer Zaubertricks in ein verkehrtes, vielleicht sogar umgekehrtes Ergebnis verwandeln. (A) 3
Das Bundesverfassungsgericht hat am 3. Juli letzten Jahres festgestellt: Das jetzige Bundeswahlgesetz ist verfassungswidrig, weil es ein Paradoxon enthält, das sogenannte negative Stimmgewicht. Das Wahlgesetz ist insofern verfassungswidrig, als hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landesliste führt oder dass ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landesliste führt. Das versteht niemand. Da wird der Hund in der Pfanne verrückt. Die Wählerinnen und Wähler werden angehalten, taktisch zu wählen. Sie geben ihre Stimme nicht der Partei, die sie bevorzugen, oder dem Kandidaten, den sie gewählt sehen wollen, sondern verhalten sich taktisch, um mithilfe dieses Zählverfahrens ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. 4
Die gesetzliche Regelung, die dazu führt, muss beseitigt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat uns dafür Zeit gegeben. Wir sollten uns aber nicht so viel Zeit lassen. In acht Wochen können wir es durchaus schaffen, zwei Paragrafen zu ändern.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch in acht Tagen!)
Es handelt sich nämlich um eine übersichtliche und überschaubare Gesetzesmaterie, die es zu regeln gilt. Ein Parlament, das es geschafft hat, in nur drei Tagen ein Finanzmarktstabilisierungsgesetz mit einem Bürgschaftsvolumen von 400 Milliarden Euro, von denen 70 Milliarden Euro haushaltsrelevant sind, durch den Deutschen Bundestag zu bekommen,
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist ja ein toller Vergleich!)
wird wohl, wenn man ihm acht Wochen Zeit lässt, die Kraft haben, einen Paragrafen im Bundeswahlgesetz so zu korrigieren, dass er verfassungsgemäß ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])
5
Wie wollen wir das machen? Wir wollen das machen, indem wir das negative Stimmgewicht beseitigen, und zwar durch Anrechnung der Direktmandate auf das Listenergebnis einer Partei bereits auf Bundesebene und nicht, wie heute, erst auf der Landesebene. Dadurch werden alle Direktmandate, die eine Partei erzielt hat und die zu Überhangmandaten geführt haben, mit dem Gesamtergebnis der Partei, das darüber entscheidet, wie viele Sitze sie im Bundestag bekommt, verrechnet. Dadurch können wir Überhangmandate voraussichtlich fast vollständig oder sogar vollständig beseitigen. 6
Richtig ist – zu diesem Ergebnis kam auch Professor Meyer, den wir bei der Erarbeitung unseres Gesetzentwurfes konsultiert haben –: Es könnte sein, dass bei der nächsten Bundestagswahl, wenn die CSU schwächelt, in Bayern erstmals Überhangmandate entstehen. Diese kann man nicht verrechnen, weil die CSU eine selbstständige Partei ist; daher haben wir darauf verzichtet, für diesen Fall eine Regelung zu treffen.
(Beifall des Abg. Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU])
– Wie ich sehe, klatscht Herr Mayer, wenn ich vom Niedergang der CSU spreche; das finde ich gut.
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Von wegen Niedergang! Wir sind auferstanden!)
(C) 7
Dieses Problem gab es in den vergangenen Wahlperioden nicht. Wir müssen es allerdings nicht jetzt lösen, sondern können uns darauf konzentrieren, die Überhangmandate und das negative Stimmgewicht – daran ändert eine gesetzliche Regelung im Hinblick auf die CSU nämlich nichts – zu beseitigen. Dann können wir sagen: Das Wahlergebnis ist verfassungskonform zustande gekommen. 8
Ich glaube, wir sind es den Wählerinnen und Wählern schuldig – gerade angesichts der Politikmüdigkeit im Land –, das Wahlrecht so auszugestalten, dass ihr Wille unmittelbar zur Geltung kommt. Das Wahlrecht darf nicht so kompliziert sein, dass die Wählerinnen und Wähler sagen: Was die da oben machen, versteht man sowieso nicht; bleiben wir lieber gleich zu Hause und wählen nicht! Wir sollten daran, dass die nächste Bundesregierung nicht nur die Unterstützung des Parlaments hat, sondern auch die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich weiß, nicht den leisesten Zweifel lassen. Lassen Sie uns das negative Stimmgewicht deshalb beseitigen! 9
Ich bin froh, dass der Bundestagspräsident in sehr deutlichen Stellungnahmen immer wieder darauf hingewiesen hat, dass wir die Reform des Bundeswahlgesetzes noch vor der nächsten Bundestagswahl schaffen können. Er hat gegenüber Zeit Online erklärt:
Es ist unbedingt erwünscht und bei gutem Willen auch möglich, die Regelung des Wahlrechts noch so rechtzeitig zu korrigieren, dass sie schon bei der nächsten Bundestagswahl Anwendung finden könnte.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wo er recht hat, hat er recht!)
Und weiter: Für ihn wäre es
mehr als ein Schönheitsfehler, wenn auch nach der nächsten Bundestagswahl einzelne Überhangmandate unter genau den beanstandeten Bedingungen erneut zustande kämen.
10
Ich fordere Sie auf, liebe Kolleginnen und Kollegen: Nehmen Sie unseren Gesetzentwurf an! Ich hänge gar nicht an den einzelnen Formulierungen. Das Bundeswahlgesetz würde durch die Änderungen klarer; § 6 und [Plenarprotokoll 16/208, S. 22500] § 7 sind nämlich sehr unübersichtlich und leserunfreundlich. Lassen Sie uns darüber reden! Der Mechanismus, den wir vorschlagen, ist der schlaueste und entspricht am ehesten dem Willen der Wählerinnen und Wähler. (A) 11
Eine Alternative dazu wäre, die Überhangmandate durch Ausgleichsmandate auszugleichen. Das würde jedoch das Parlament vergrößern. Wir haben aber gesagt: Das ist ein Weg, den wir nicht gehen wollen. 12
Wir sind bereit, über alles zu reden. Aber die Neuregelung muss bis April im Bundesgesetzblatt stehen, wenn wir im September ein Bundeswahlgesetz, das über jeden Zweifel erhaben ist, haben wollen. Lassen Sie uns diese Aufgabe gemeinsam als Demokratinnen und Demokraten bewältigen!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
13
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Günter Krings.
(Beifall bei der CDU/CSU – Manfred Grund [CDU/CSU]: Endlich ein Jurist! – Gegenruf des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht es nicht besser! Es geht schließlich um Mathematik!)
14
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Das Wahlrecht ist eine Materie, die für die Legitimation und Funktionsfähigkeit einer Demokratie grundlegend ist. Wahlrechtsänderungen sind aber auch deshalb so sensibel, weil das Parlament zwangsläufig über die Regelung seiner eigenen Zusammensetzung entscheidet. Dieser unvermeidlichen Entscheidung in eigener Sache müssen Ernsthaftigkeit der Diskussion und Gründlichkeit in der Abwägung unterschiedlicher Lösungsansätze entsprechen. (B) 15
Sensibilität und Sorgfalt sind bei der heute zu debattierenden Änderung des Bundeswahlgesetzes in besonderer Weise geboten. Seit der Einführung des Systems der sogenannten personalisierten Verhältniswahl mit dem Bundeswahlgesetz von 1956 hat das Bundesverfassungsgericht nie so deutlich die Systemfrage gestellt wie in seinem Urteil zum negativen Stimmgewicht. 16
Der Respekt vor dem Wahlrecht als Grundlage unserer Demokratie und vor dem Bundesverfassungsgericht als Institution gebietet es, die Systemfrage wohlüberlegt und überzeugend und eben nicht Hals über Kopf zu beantworten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil eine Vielzahl alternativer Lösungen für das Problem des negativen Stimmgewichts für zulässig gehalten und angesprochen. 17
Mit einem isolierten, gleichsam mikroinvasiven Eingriff in das Bundeswahlgesetz werden wir dem komplexen Problem des negativen Stimmgewichts nicht gerecht werden. Falls Sie mir persönlich das nicht glauben, darf ich aus dem Urteil des Zweiten Senats vom 3. Juli letzten Jahres wörtlich zitieren: 18
Der Effekt des negativen Stimmgewichts lässt sich daher nicht isoliert beheben, sondern erfordert grundlegende Vorarbeiten, die die verschiedenen Vor- und Nachteile in den Blick nehmen. Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten der Neuregelung, die jeweils deutliche Auswirkungen auf die geltenden Regelungen der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag haben.
(C)
Ich habe daher sehr gut nachvollziehen können, dass das Bundesverfassungsgericht bereits im letzten Sommer davon ausging, dass diese schwierige Aufgabe in der aktuellen Wahlperiode nur noch schwerlich verantwortlich zu lösen ist. Die Vorgabe einer Regelung noch in dieser Wahlperiode hat das Bundesverfassungsgericht selbst explizit als „unangemessen“ bezeichnet. Über die Chancen einer Änderung noch in dieser Wahlperiode hat es konkret Folgendes ausgeführt – ich darf das Gericht und das Urteil noch einmal zitieren –: Das reguläre Gesetzgebungsverfahren müsste in diesem Fall spätestens im April 2009 abgeschlossen sein, damit das neue Recht bei den Vorbereitungen zur Wahl zum 17. Deutschen Bundestag berücksichtigt werden könnte. Diese Frist ist wohl auch nicht aus der Luft gegriffen, da schon die bloße Einführung neuer Berechnungsverfahren umfangreiche neue Software und die erforderlichen Testläufe mit Vorlaufzeiten erforderlich macht. Mit diesen Vorlaufzeiten ist eine Änderung des Wahlrechts noch in der aktuellen Wahlperiode sicherlich nicht ausgeschlossen, aber wir setzten uns zweifellos einem hohen Zeitdruck aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns eine schnelle Regelung den vom Verfassungsgericht ausdrücklich geforderten Raum für die Diskussion der verschiedenen Regelungsalternativen und für eine gründliche Auswertung einer Expertenanhörung ließe, tendiert aus meiner Sicht klar gegen null. 19
Vor diesem Hintergrund mutet der Zeitpunkt der Einbringung des Gesetzentwurfs der Grünen nun wirklich etwas merkwürdig an.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Noch bis Ende letzten Jahres war ein Konsens zwischen den Fraktionen dieses Hauses erkennbar, auf schlecht gezielte Schnellschüsse bei diesem Thema verzichten zu wollen. Ich darf stellvertretend für andere nur den fachlich zuständigen innenpolitischen Sprecher der SPDFraktion, Herrn Dieter Wiefelspütz, mit dem folgenden Satz aus dem Focus vom 20. Dezember letzten Jahres zitieren: Es gibt nichts zu gewinnen, wenn wir es vorzeitig neu regeln. Schade, dass der Kollege heute nicht da ist,
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Der kann immer zu allem zitiert werden!)
aber er wird sicherlich bei seiner Meinung geblieben sein.
(D) 20
[Plenarprotokoll 16/208, S. 22501] Die grünen Antragsteller müssen sich schon die Frage stellen, warum sie nicht bereits im letzten Herbst mit ihrem Vorschlag herausgekommen sind.
(Beifall bei der CDU/CSU)
21
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck? 22
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Aber sehr gerne. 23
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte sehr. 24
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir hatten zwar schon einen alten Vorschlag zu diesem Thema, haben ihn aber unter Nutzung der Erkenntnis aus dem Gerichtsurteil und in Diskussion mit Professor Pukelsheim und Professor Meyer – Kollege Benneter war bei unserer Anhörung ebenfalls zugegen; das war ja eine Möglichkeit, sich insgesamt schlau zu machen –
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Sehr instruktiv!)
noch einmal überarbeitet und überdacht. Frau Stokar hat schon lange die Auffassung vertreten, dass es mit dem negativen Stimmgewicht so nicht geht. Aufgrund dieser Vorarbeiten sind wir dann zu einem Abschluss gekommen. Sie hätten mit Ihrer Regierung und mit Ihren Kapazitäten natürlich viel früher und viel leichter als eine kleine Oppositionsfraktion mit so geringen Möglichkeiten zu einem Ergebnis kommen können.
25
Aber wenn Sie hier schon abwesende Politiker zitieren, wüsste ich gern, wie Sie es denn dann mit dem abwesenden Bundesinnenminister halten, der laut Bild-Zeitung vom 5. Januar 2009 angeblich mit der Weigerung der Koalition hadere – besser wohl: mit seiner Fraktion –, das verfassungswidrige Wahlrecht noch vor der Bundestagswahl zu ändern. Als Verfassungsminister stehe er bereit, den Parteien bei der Korrektur des Wahlgesetzes zu helfen. Offensichtlich ist das federführende Ressort, das in dieser Debatte zum Schweigen verdonnert wurde, hierzu anderer Auffassung als Ihre Fraktion. Ich habe auch die Stimmen von Herrn Müntefering und anderen Kollegen aus der SPD-Fraktion gehört. (A) 26
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, ich bitte Sie darum, Ihre Frage prägnant und kurz zu fassen. 27
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Können Sie mir bestätigen, dass der Bundesinnenminister mit Ihrer Position hadert, und trauen Sie dem Bundesinnenminister und seinem Haus zu, dass er uns bei der Wahlrechtsreform so weit hilft, dass wir auf Grundlage unserer Entwürfe bis April zu einem verfassungskonformen Wahlrecht kommen? 28
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Frau Präsidentin, ich versuche gern, die Antwort auf diese Frage kürzer zu fassen, als die Frage selber war, auch im Interesse der anderen Kollegen dieses Hauses.
(Beifall bei der CDU/CSU)
29
Es ist richtig – das halte ich auch für sehr gut –, dass der Innenminister bereitsteht, zu helfen. Das gilt übrigens in dieser wie in der nächsten Wahlperiode. Es wird derselbe Innenminister sein; jedenfalls wird die Führung des Hauses bei der gleichen Partei bleiben.
(Gisela Piltz [FDP]: Das glaube ich aber nicht! – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schäuble wird vielleicht Innenminister bleiben!)
Ich bin der Auffassung, dass er das nicht nur aus gutem Willen tut, sondern weil das Innenministerium auch dazu da ist, uns an dieser Stelle zu helfen. Ich habe es eben ausdrücklich gesagt, wiederhole für Sie aber gern, falls Sie eben abgelenkt waren, dass eine Neuregelung noch in dieser Wahlperiode nicht ausgeschlossen ist. Allerdings weise ich auch darauf hin, welche Nachteile wir dafür in Kauf nehmen müssen.
30
Vielleicht bleiben Sie noch einen Augenblick stehen, weil ich Ihre Frage noch beantworte.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollten es kürzer machen!)
– Sie wissen gar nicht, wie lange Sie geredet haben. Zumindest das sollte man selbst noch spüren. Alte Indianerweisheit: Rede nie länger, als du auf einem Bein stehen kannst.
(Heiterkeit)
Das sollte auch für Zwischenfragen gelten, Herr Kollege.
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Wir werden es mit der Hilfe des Ministeriums hinbekommen. Ich habe auf die Probleme hingewiesen, es noch in dieser Wahlperiode zu machen. (D) 32
Ich darf dann fortfahren und betone: Der Gesetzentwurf der Grünen ist in der Tat in weiten Teilen identisch mit dem, was Sie in der 13. Wahlperiode vorgeschlagen haben. Komisch nur, dass Sie damals in der Opposition waren und Sie jetzt in der Opposition sind. Sieben Jahre rot-grüner Bundesregierung haben Sie nicht genutzt, um Ihren Vorschlag aufzufrischen.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber in der Zwischenzeit hat das Verfassungsgericht gesagt, dass wir recht haben!)
Es scheint ein klares Oppositionsinteresse zu sein, obwohl Sie zu Recht sagen, dass auf dieses Thema schon lange hingewiesen worden sei.
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Meine Damen und Herren, die entscheidenden beiden Fragen, auf die ich in meiner Rede wirklich sehr sachlich und sehr klar zu sprechen kommen möchte, lauten doch: Welche elementaren Anforderungen muss eine Wahlrechtsreform erfüllen, die den Vorgaben des Verfassungsgerichts entspricht? – Jetzt wäre es meines [Plenarprotokoll 16/208, S. 22502] Erachtens ganz sinnvoll, dass Sie mir zuhören, damit Sie erst einmal die Problematik erfassen, Herr Beck. Ich glaube, Sie haben all diese Verästelungen und das, worum es dabei geht, noch gar nicht so richtig begriffen. 34
Die zweite Frage lautet: Erfüllen Sie mit Ihrem Vorschlag diese Anforderungen? 35
Ich will das an drei zentralen Anforderungen kurz exemplifizieren. Machen wir hier einfach ganz kurz den Praxistest anhand dieser Anforderungen. 36
Zum Ersten. Aus der Sicht des Wählers – darin sind wir uns, so glaube ich, einig – muss ein Wahlsystem von der Stimmabgabe bis zur Zuteilung der Parlamentssitze durchschaubar und nachvollziehbar sein. Das gilt für die Gesetzessprache und für die Rechenoperationen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner erst vor wenigen Tagen ergangenen Entscheidung zu den Wahlcomputern zu Recht die Transparenz des Wahlvorgangs eingefordert. Es wäre wenig gewonnen, wenn nach der Stimmabgabe ein intransparenter und kaum mehr zu durchschauender Berechnungsvorgang folgen würde.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie gerade das aktuelle Wahlgesetz gelesen?)
37
Da wir uns heute ja in der ersten Lesung Ihres Gesetzentwurfs befinden, gestatte ich mir, Ihnen in diesem Zusammenhang einmal § 7 a Abs. 7 Ihres Gesetzentwurfs vorzulesen. Ich zitiere:
Ergibt sich bei der Berechnung gemäß Absatz 5 eine negative Zahl, so muss der Parteidivisor so heraufgesetzt werden, dass die Zahl der dieser Partei zustehenden Sitze unter Berücksichtigung der zu ihren Gunsten errungenen Direktmandate der für diese Partei ermittelten Gesamtsitzzahl ... entspricht. Absatz 6 gilt entsprechend.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie einmal das aktuelle Wahlgesetz vorlesen?)
(B) 38
Da Sie von den Grünen auf Seite 4 Ihrer Drucksache selbst das Ziel ausgeben – ich zitiere noch einmal –, „das Wahlrecht ... normenklarer und verständlicher zu machen“, kann ich nur sagen: Klassenziel verfehlt, bitte noch einmal üben! 39
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Beck? 40
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Ich glaube, es reicht jetzt. 41
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Es reicht, jawohl. 42
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Ich glaube, er hat nicht mehr viel Neues beizutragen.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Da hat er recht: Es reicht! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt würde ich auch kneifen!)
43
Zum Zweiten. Eine Wahlrechtsreform muss zu einer fairen und dem Wählerwillen entsprechenden Verteilung der Bundestagssitze auf die kandidierenden Parteien führen. Das ist in 60 Jahren Bundesrepublik praktisch immer gelungen. So weit der Effekt eines negativen Stimmengewichts dem entgegensteht, müssen wir diesen beseitigen. Ich denke, auch darüber herrscht in diesem Hause Konsens. 44
Zu dieser Gerechtigkeit des Wahlrechts zwischen den Parteien gehört aber auch, dass einzelnen Wählern nicht ohne Not ein doppelter Erfolgswert bei ihrer Stimmabgabe zugebilligt werden darf. Rein taktisches Wählen – darin stimme ich Ihnen wiederum zu – muss auch insoweit verhindert werden. Genau das fordert im Übrigen das Bundesverfassungsgericht in einem weiteren, gerade einmal sechs Wochen alten Beschluss. Es gab in den letzten Wochen also eine Reihe von Entscheidungen zum Wahlrecht. Vielleicht sollten Sie sich einmal alle zu Gemüte führen oder aufbereiten lassen. 45
Zu dieser Gerechtigkeit des Wahlrechts zwischen den Parteien gehört aber auch, dass einzelnen Wählern nicht ohne Not ein doppelter Erfolgswert bei ihrer Stimmabgabe zugebilligt werden darf. Rein taktisches Wählen – darin stimme ich Ihnen wiederum zu – muss auch insoweit verhindert werden. Genau das fordert im Übrigen das Bundesverfassungsgericht in einem weiteren, gerade einmal sechs Wochen alten Beschluss. Es gab in den letzten Wochen also eine Reihe von Entscheidungen zum Wahlrecht. Vielleicht sollten Sie sich einmal alle zu Gemüte führen oder aufbereiten lassen. 46
Sucht man im Entwurf der Grünen nach einer Lösung dieses Problems, dann stellt man fest, dass Fehlanzeige herrscht. Ich weiß nicht, ob das eine kleine Unterlassungssünde ist oder ob Sie vielleicht hoffen, selbst einmal davon profitieren zu können. Dieses zentrale Thema fehlt jedenfalls in Ihrem Entwurf. Ich sage ganz deutlich: Für die Union wird es eine Wahlrechtsreform ohne die Schließung dieser Gesetzeslücke nicht geben.
(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das klären wir im Ausschuss!)
(D) 47
Zum Dritten und Letzten. Das Bundesverfassungsgericht betont ebenfalls, dass bei einer Wahlrechtsreform auch die Gerechtigkeit und Fairness zwischen den Ländern gewahrt werden müssen. Es geht sozusagen um die föderale Fairness. Kern des Gesetzentwurfs der Grünen ist aber, dass die Überhangmandate für eine Partei im Bundesland A durch Abzüge bei der Landesliste derselben Partei im Bundesland B ausgeglichen werden. Die Partei im Land B muss also nicht nur auf den Genuss eigener Überhangmandate verzichten, sondern sie muss dafür zusätzlich noch die Zeche des anderen Bundeslandes bezahlen. Das ist zweifellos das exakte Gegenteil von Fairness im Bundesstaat und führt zu einer einseitigen Bevorzugung des Wahlvolkes bestimmter Bundesländer.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: So sieht das auch die bayerische SPD!)
48
[Plenarprotokoll 16/208, S. 22503] Mögliche und naheliegende Alternativen, wie die rechnerisch getrennte Behandlung aller Landeslisten, die auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich für zulässig hält, werden in Ihrem Gesetzentwurf erst gar nicht erwähnt. Sie können noch so lange nachschauen, dazu steht darin nichts. So einfach kann man es sich in einem Bundesstaat aber eben nicht machen. (A) 49
Wir sehen also – damit komme ich zum Schluss –: Alle drei zentralen Anforderungen an eine Wahlrechtsreform – Durchschaubarkeit für den Wähler, Gerechtigkeit unter den Parteien und föderale Fairness – werden in wesentlichen Punkten des Gesetzentwurfs der Grünen leider verfehlt. Das Wahlrecht ist mithin komplizierter, als manche meinen. Für die Lösung des schwerwiegenden Problems eines negativen Stimmgewichts ist mehr Gehirnschmalz erforderlich, als im Gesetzentwurf der Grünen steckt.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Könnte es sein, dass Sie davon profitieren?)
50
Für uns als CDU/CSU-Fraktion folgt daraus: Wir sind offen für eine sachliche Beratung des Gesetzentwurfs. Wir sind aber nicht bereit, Qualität und Gründlichkeit in einer so sensiblen Materie auf dem Altar der Geschwindigkeit zu opfern. 51
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
52
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(B) 53
Gisela Piltz (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor acht Monaten – das wurde bereits angesprochen – hat das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit des geltenden Wahlrechts mit den Wahlrechtsgrundsätzen in Art. 38 des Grundgesetzes festgestellt. In diesen zurückliegenden Monaten hat die sogenannte Große Koalition nichts, aber auch gar nichts unternommen, um diesen Mangel zu beseitigen. 54
Auch wenn zu erwarten war, dass bei der gestrigen Runde im Kanzleramt nicht viel herauskommen würde, zeigt es doch, dass Sie auch in diesem Punkt aus Ihrer Lethargie nicht ganz herauskommen. Deshalb ist es aus meiner Sicht wie auch aus der Sicht meiner Fraktion gut, wenn in 206 Tagen dieses Spektakel vorbei ist.
(Beifall bei der FDP)
55
Nach achtmonatigem Nichtstun wirkt es auf mich umso befremdlicher, dass gerade die Kollegen von der SPD immer wieder das Szenario einer verfassungswidrigen Regierungsbildung im Herbst an die Wand malen. Sie müssen das richtig verstehen: Nur weil Sie nicht dabei sind, muss sie nicht verfassungswidrig sein.
(Beifall bei der FDP)
56
Wenn das Thema für Sie so wichtig ist, dann verstehe ich ehrlich gesagt nicht, warum Sie heute in einer so überschaubaren Anzahl an dieser Debatte teilnehmen. (C) 57
Warum die Grünen das Thema heute – acht Monate nach dem Urteil – auf die Tagesordnung gesetzt haben, habe ich immer noch nicht richtig verstanden. Selbst mit der Verlängerung Ihrer Redezeit wurde es nicht besser, Herr Beck. Denn wenn es so einfach wäre, wie Sie es beschrieben haben, dann weiß ich nicht, warum Sie selber acht Monate gebraucht haben, um diesen Gesetzentwurf zu verfassen. Sie sind heute die Antwort schuldig geblieben, warum Sie so lange gebraucht haben.
(Beifall bei der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe es gerade erklärt! Hätten Sie doch zugehört!)
58
Warum die SPD jetzt Fahrt aufnimmt, kann aus meiner Sicht nur einen Grund haben: In Zeiten sinkender Umfragewerte muss man eben am Wahlrecht schrauben. Das ist zwar verfassungsrechtlich bedenklich, aber menschlich verständlich. 59
Dass Sie Ihr verfassungsrechtliches Gewissen entdeckt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, glaube ich nicht wirklich. Denn wie Sie mit der Rechtsprechung hoher Gerichte und höchster Bundesgerichte umgehen, haben wir heute wieder im BND-Untersuchungsausschuss sehen können.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das ist doch alles geheim!)
Ich glaube, Ihre Glaubwürdigkeit hat sich, auch was dieses Thema angeht, erledigt.
(Beifall bei der FDP)
(D) 60
Ich möchte aber bei diesem Thema an eines erinnern: Es ist in diesem Haus gute Tradition, Änderungen im Wahlrecht interfraktionell abzustimmen und zu besprechen. Ich müsste aber eigentlich feststellen: Das war gute Tradition. Denn schon die Änderung der Einteilung der Wahlkreise haben Sie ohne den Rest des Hauses beschlossen und damit eine gute Tradition gebrochen. 61
Ich hoffe, dass wir bei einer Neuregelung der betreffenden Punkte anders verfahren. Denn das Problem ist Ihnen, wie gesagt, schon lange bekannt. Wir als FDP sind relativ offen, welche Regelung die beste ist. Ich persönlich finde es nicht uninteressant, auch über Ausgleichsmandate zu sprechen.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dann schon lieber über das Grabensystem!)
Das gibt es in vielen Landtagen. Warum sollten wir nicht darüber sprechen. Ich kann nicht ganz nachvollziehen, warum das Thema hier unbeliebt ist. Aber wir werden es in Ruhe besprechen.
62
Die Große Koalition kann zwar eine Entscheidung über die Köpfe der anderen hinweg treffen – sie hat die notwendige Mehrheit –, aber ich bin Herrn Krings sehr dankbar dafür, dass er klargemacht hat, dass es in dieser Legislaturperiode nicht dazu kommen wird. Ihre Ausführungen waren juristisch eins a, Herr Krings. Das ist [Plenarprotokoll 16/208, S. 22504] gar keine Frage. Ich bin Ihnen sehr dankbar und kann mich Ihnen vollumfänglich anschließen, wie es, glaube ich, in der juristischen Fachsprache heißt. Aber warum Sie einem Enteignungsgesetz zustimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, kann ich nicht verstehen.
(Beifall bei der FDP)
63
Nach unserem Verständnis ist Wahlrecht vor allen Dingen Parlamentsrecht. Deshalb sind alle im Parlament vertretenen Fraktionen zu beteiligen. Eine solche Reform ist nicht im Alleingang anzugehen, sondern gemeinsam. Unsere Zielsetzung muss sein, dass unterm Strich eine Reform herauskommt, die die Bürgerinnen und Bürger verstehen und die ihnen zugutekommt. (A) 64
Der jetzige unbefriedigende Zustand muss in der Tat bereinigt werden. Er hätte aus unserer Sicht schon lange bereinigt werden können. Aber die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts ist aus unserer Sicht viel zu weitreichend, als nun von Ihnen als Wahlkampfthema auf die Agenda gesetzt zu werden. Damit düpieren Sie nicht nur den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Sie machen damit nur allzu deutlich, dass es Ihnen nicht um die Sache geht. Dass Sie nun noch in einer Hauruckaktion die Änderungen im Hinblick auf die Wahlen zum 17. Deutschen Bundestag vornehmen wollen, ist sicherlich sehr kritisch; denn alle Parteien befinden sich mitten im Verfahren für die Aufstellung der Kandidaten. Viele sind schon gewählt worden. Sie ändern sozusagen im laufenden Verfahren die Spielregeln. Das provoziert wieder neue Klagen und hat mit dem, was Sie eigentlich wollen, überhaupt nichts zu tun.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU])
65
Vor diesem Hintergrund werbe ich für eine überfraktionelle Konsensfindung. Wir werden uns einem konstruktiven Verfahren nicht widersetzen, aber bitte nicht mehr in dieser Legislaturperiode. Dafür ist die Materie zu wichtig. (B) 66
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
67
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Klaus Uwe Benneter für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
68
Klaus Uwe Benneter (SPD): Herr Krings und Frau Piltz, freuen Sie sich nicht zu früh; denn Sie könnten im Herbst gemeinsam eine Regierung auf verfassungswidriger Basis bilden. Um nichts anderes geht es hier.
(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Uns jedenfalls geht es darum, ein demokratisches Wahlrecht zu gewährleisten. Ein demokratisches Wahlrecht muss gewährleisten, dass meine Stimme der Partei zugutekommt, für die ich sie abgegeben habe; so lautet der Grundsatz. Wir wissen, dass es Ausnahmen von diesem Grundsatz gibt. Diejenigen Stimmen, die für eine Partei abgegeben werden, die an der 5-Prozent-Hürde scheitert, sind verloren. Unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des Parlaments ist das durchaus hinnehmbar und für die Bürger verständlich. Es geht allerdings nicht, dass die Zweitstimme eines Wählers für seine Partei dazu führt, dass die von ihm gewählte Partei einen Sitz verliert. Das Bundesverfassungsgericht hat uns klipp und klar ins Stammbuch geschrieben: Meine Stimme für meine Partei darf meiner Partei nicht schaden.
69
Genau das hätte bei der Nachwahl zur Bundestagswahl in Dresden passieren können. Hätte die CDU bei dieser Nachwahl zu viele Zweitstimmen bekommen, dann hätte sie in Nordrhein-Westfalen einen Sitz verloren und einen Abgeordneten weniger im Deutschen Bundestag gehabt. Frau Piltz, das ist doch das glatte Gegenteil einer demokratischen Wahl. Das sollte man schon bei der nächsten Bundestagswahl berücksichtigen. Bei einem solchen Wahlsystem müsste die CDU doch ihre Wähler auffordern, ihr bloß keine Stimmen zu geben.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(C) 70
Entsprechende Wahlplakate führten wirklich zur Verwirrung. Das wäre eine schöne Situation.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Verstehen Sie das wirklich nicht, oder ist das ein Scherz?)
71
Jedenfalls hat die Nachwahl in Dresden diesen Irrwitz deutlich gemacht. Wir wissen, dass dieser Effekt nicht immer so gut feststellbar ist wie bei der Nachwahl in Dresden. Dann ist es noch viel bedenklicher, weil zum Beispiel der CDU-Wähler gar nicht merkt, dass er der CDU schadet, wenn er ihr seine Stimme gibt.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr fürsorglich!)
(D) 72
Die CDU darf es noch nicht einmal sagen, dass er ihr schadet, wenn er ihr seine Stimme gibt.
(Heiterkeit bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das halten wir aus, Herr Benneter!)
73
Man sieht, dass das wirklich zu völlig meschuggen Ergebnissen führte. So dürfen wir unser Wahlrecht nicht lassen. Wir müssen es rasch, schon bis zur nächsten Bundestagswahl, ändern, obwohl uns das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit gegeben hat, diese Änderung bis zur übernächsten Bundestagswahl aufzuschieben.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Es hat es uns nahegelegt!)
Wir können im Vorhinein nicht wissen, wer davon betroffen wäre. Aber wir können nicht sehenden Auges auch nur eine Abgeordnete oder einen Abgeordneten hier vier Jahre verfassungswidrig sitzen lassen. Deshalb haben die Bündnisgrünen recht, wenn sie dieses Thema forcieren. Frau Piltz, hier verstehe ich Sie wirklich nicht, die Sie sonst immer die Bürgerrechte und das Recht der Menschen, möglichst direkt auf uns einzuwirken, im Auge haben.
[Plenarprotokoll 16/208, S. 22505] (Gisela Piltz [FDP]: Das ist normal, dass Sie mich nicht verstehen! Damit kann ich leben!)
74
Wir alle wissen inzwischen – wir von der SPD wissen das schon viel länger –, dass es relativ unkompliziert ist, Herr Krings, im Rahmen des jetzigen Wahlrechts ohne große umstürzlerische Neuerungen ein besseres Berechnungsverfahren einzuführen, das dieses sogenannte negative Stimmgewicht vermeidet.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sagen Sie etwas zur föderalen Fairness!)
(A) 75
Wie viele Sitze eine Partei im Bundestag bekommt, muss nach dem neuen Berechnungsverfahren davon abhängen, wie viele Zweitstimmen sie bundesweit bekommen hat. Das ist das Entscheidende, und darauf stellt der Vorschlag der Grünen ab. 76
Bisher kann eine Partei die Überhangmandate, die sie in einem Bundesland bekommen hat, einfach so behalten. Die werden in keiner Weise ausgeglichen. Das muss künftig anders werden. Eine Partei, die in einem Land Überhangmandate erzielt hat, also quasi über den Durst Direktmandate geholt hat, muss diesen Überhang mit weniger Listenplätzen in anderen Bundesländern bezahlen oder ausgleichen. Das muss das Prinzip sein. 77
Aus Wählersicht hat dies auch Nachteile; ich darf daran erinnern. Ich sehe immer, wie diejenigen mit stolzgeschwellter Brust auftreten, die in ihrem Bundesland Überhangmandate geholt haben.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ja, eben!)
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Was heißt eigentlich Überhangmandate? – Das heißt, dass die Partei, für die sie stehen, weniger Stimmen in diesem Land geholt hat. Es ist also kein Grund, mit Stolz geschwellter Brust durch die Gegend zu gehen, wenn man Überhangmandate geholt hat.
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)
Nach dem hier vorgeschlagenen Verfahren wäre es so, dass für diese Überhangmandate die Wähler dieser Partei in anderen Bundesländern, die diese Partei viel stärker gewählt haben, bezahlen müssten.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha! – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Was können die dafür?)
Sie bekommen dann zum Dank weniger Abgeordnete aus ihrem Land und damit weniger regionale Vertretung.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Und das finden Sie gut?)
– Ich sage ja nicht, dass es gut ist, aber es ist besser und vermeidet das negative Stimmgewicht. Das werden wir wohl hinnehmen müssen. Schließlich ist es auch so, dass wir einen Bundestag wählen und nicht einzelne Länderregionen in den Bundestag schicken. Es ist kein Ländergremium, und deswegen ist auch dieser bundesweite Ausgleich, denke ich, hinnehmbar.
(B) 79
Allerdings gefällt mir eines nicht, Herr Beck. Nach Ihrem Gesetzentwurf wäre die bayerische CSU die einzige Partei, die überhaupt noch bei einem schlechten Zweitstimmenergebnis ein Überhangmandat erhalten könnte. Bisher hat sie das noch nie bekommen. Früher war sie auch besser, aber jetzt kommt sie in diese Regionen.
(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Keine Angst!)
Ich meine, das kann nicht richtig sein. Regionalparteien können und dürfen bei der Bundestagswahl nicht wahlrechtlich privilegiert sein.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!)
Wir sollten solche Überhangmandate wahlrechtlich vermeiden. Eventuell müssen wir darüber nachdenken, CSU und CDU eine Art Listenverbindung zu gestatten oder notfalls sogar vorzuschreiben.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(C) 80
Aber abgesehen von dieser Spezialfrage meine ich: Zu dem Berechnungsverfahren, wie es hier im Grundsatz von den Grünen vorgeschlagen ist, gibt es keine vernünftige Alternative.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Die Diskriminierung der CSU!)
Die Schaffung von Ausgleichsmandaten nützt nichts. Wenn man bestimmte Berechnungen zugrunde legt, würde dies dieses Parlament auf 900 Mandate ausweiten.
(Zuruf von der FDP: Horrorstory!)
Ein reines Mehrheitswahlrecht wollen wir nicht, damit wir auch noch die FDP hier sitzen haben.
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Dann wären Sie auch nicht mehr dabei, Herr Benneter!)
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Und auch die Umstellung auf ein reines Verhältniswahlrecht ohne direkt gewählte Wahlkreisabgeordnete wäre zwar möglich, aber keine schöne Vorstellung. Denn das würde sicher den Wahlkämpfen die Spannung nehmen und auch die Verankerung der Abgeordneten vor Ort maßgeblich verschlechtern.
(Zuruf von der FDP: So ein Quatsch! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)
(D) 82
Was auch noch möglich wäre und was CDU/CSU vielleicht direkt mittragen würden, wäre das sogenannte Grabensystem.
(Gisela Piltz [FDP]: Sind Landtagsabgeordnete schlechtere Abgeordnete?)
Das wollen wir auch nicht. Denn bei diesem System würde die eine Hälfte der Mandate über die Mehrheitswahl
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das wollen Sie!)
und die andere Hälfte der Mandate nach dem Verhältniswahlrecht vergeben werden. Die kleineren Parteien würden dabei auf die Hälfte ihrer Sitze verzichten müssen.
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die würden im Graben landen! Das geht nicht!)
[Plenarprotokoll 16/208, S. 22506] Das ist so nicht akzeptabel und ungerecht, und deshalb werden wir auch das nicht machen.
(Gisela Piltz [FDP]: Wie sind Sie gewählt worden, Herr Benneter?)
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Der Weg, den die Grünen hier in ihrem Gesetzentwurf gehen, ist vom Grundsatz her richtig. Wir halten die rasche Korrektur des Wahlrechts für dringend notwendig.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Hört! Hört!)
(A) 84
Ich habe immer noch die Hoffnung, dass auch Herr Krings und mit ihm Herr Mayer und die ganze Union diesem wichtigen Anliegen bei den weiteren Beratungen noch nähertreten können. 85
Es ist nämlich nicht sicher, dass der nächste Innenminister so heißt wie der jetzige. Dann könnten wir, wie es guter Brauch ist, Frau Piltz, parteiübergreifend und möglichst einvernehmlich ein verfassungsgemäßes Wahlrecht ohne die Möglichkeit negativer Stimmgewichte verabschieden und im Herbst nach diesem System wählen. Dann könnten wir guten Gewissens sagen: Das nächste Parlament und die nächste Regierung stehen auf einer soliden verfassungsrechtlichen Basis.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Herr Benneter, wir müssen reden!)
86
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
(B) 87
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Superwahljahr wirft seine wahlrechtlichen Schatten voraus. Inzwischen ist der Einsatz einer bestimmten Marke von Wahlcomputern für verfassungswidrig erklärt worden. Das betrifft auch die Regelung zu den Überhangmandaten. Allerdings ist das bereits im Juli 2008 passiert. Das Bundesverfassungsgericht hat das negative Stimmgewicht oder – um es für alle im Klartext zu sagen – die Verletzung der Gleichheit der Wahl kritisiert. Das steckt nämlich dahinter. Das darf nicht länger hingenommen werden. 88
Überhangmandate sind seit längerem in der Kritik. Es gibt seit längerem dazu Wahleinsprüche. Bis jetzt gibt es keine Änderung im Wahlrecht. Die Nachwahl in Dresden – das ist hier schon gesagt worden – hat besonders deutlich gemacht, was das in der Konsequenz bedeutet. Das ist letzten Endes ein Schwachsinn im Wahlrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: In der nächsten Wahlperiode!)
Dass nun einige Zeit ins Land gegangen ist, ohne die Änderungen vorzubereiten, ist nicht zu bestreiten.
89
Das sagte Kollege Lammert in der Kölnischen Rundschau vom Februar dieses Jahres. Nun ist uns unser Bundestagspräsident mit der von ihm gepflegten hohen Kunst der diplomatischen Rede inzwischen hinlänglich bekannt.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Aber es wäre an der Zeit gewesen, Ross und Reiter zu nennen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ganz offenkundig wird vor allem von der CDU verhindert, dass es zu einer Änderung des Wahlrechts kommt.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Warum verhindert?)
Das ist immerhin seine eigene Partei. Daran möchte ich an dieser Stelle erinnern. Könnte es nämlich bei der nächsten Wahl knapp werden, dann könnten in der Tat Überhangmandate über die Regierungsbildung entscheiden. Von wegen komplexes Problem! Das ist genau das Problem, das dahintersteckt.
(C) 90
Nun ist es bei der SPD gegenwärtig etwas anders. Sie fürchtet vor allem den Verlust von vielen Direktmandaten. Wir werden unseren Teil dazu beitragen.
(Beifall bei der LINKEN)
Deswegen macht die SPD gegenwärtig auf Torschlusspanik. Jetzt habe ich gelesen, dass selbst Müntefering fordert, man müsse die Überhangmandate ganz abschaffen. Herr Benneter hat hier die eingesprungene Sitzpirouette probiert: Im Prinzip sind wir dafür, aber eigentlich nicht so richtig. – Sie können sich nämlich nicht gegen Ihren Koalitionspartner durchsetzen. Gestern sind Sie im Koalitionsausschuss mit einem solchen Vorstoß gescheitert. Liebe Genossinnen und Genossen der SPD, ich habe den Eindruck, man könnte eine Mehrheit in diesem Haus bekommen. Wir jedenfalls würden unseren Teil dazu beitragen.
(Beifall bei der LINKEN)
(D) 91
Die Linke fordert: Der neue Bundestag darf nicht auf verfassungswidriger Grundlage entstehen. Es ist noch Zeit für eine einvernehmliche Lösung. Wir könnten uns beispielsweise – Kollege Beck hat das angesprochen – so etwas wie landesweite Ausgleichsmandate vorstellen. 900 Sitze im Bundestag werden es nicht, die Zahl wäre wesentlich überschaubarer. Das wäre als eine Option denkbar. Wir könnten uns auch andere Lösungen vorstellen. Wir jedenfalls sind bereit dazu, uns in einem schnelleren Verfahren darüber zu verständigen, damit wir mit einem verfassungsgemäßen Wahlrecht in die nächste Bundestagswahl gehen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
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Was für uns, die Linke, wichtig ist: Jede Stimme muss das gleiche Gewicht haben. Das sollte insbesondere für die Bundestagswahl 2009 gelten. 93
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
[Plenarprotokoll 16/208, S. 22507] (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eine Rede frei von Sachkenntnis!)
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. 95
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/11885 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 96
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eingetragen von Matthias Cantow