Mehrheitswahl vs. Verhältniswahl |
[Systeme und Verfahren] |
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts streiten sich Verfechter von Mehrheits- und Verhältniswahl darum, welches Wahlsystem denn nun das „Bessere“ sei. Die wichtigsten Argumente beider Seiten sind im Folgenden gegenübergestellt. Dabei beschränkt sich die Aufstellung auf den Streit um die beiden Repräsentationsprinzipien „Mehrheitswahl“ und „Verhältniswahl“. Nicht aufgeführt sind daher Argumente für oder gegen einzelne Wahlverfahren wie z. B. das angeblich enge Verhältnis zwischen Wähler und Abgeordneten bei der relativen Mehrheitswahl, welches bei Listenwahlsystemen nicht vorhanden sei. (Siehe hierzu die Darstellung der Stimmgebungs- und Kandidaturformen bzw. der verschiedenen Mehrheits- und Verhältniswahlsysteme.)
Mehrheitswahl | Verhältniswahl |
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Die argumentative Gegenüberstellung zeigt, dass Vorteile des einen Repräsentationsprinzips als Nachteile des anderen ausgelegt werden und umgekehrt. Oftmals werden zudem die jeweiligen Auswirkungen des Wahlsystems auf die politischen Verhältnisse völlig überschätzt. Die berühmte Aussage von Ortega y Gasset, die auch den Titel dieser Website ziert, ist daher sicher übertrieben. Auch werden die Einflüsse eines bestimmten Wahlsystems auf die politische Landschaft eines Landes oft zu Unrecht pauschalisiert. So hat es in England trotz relativer Mehrheitswahl keineswegs immer stabile Regierungen gegeben und in Frankreich konnte das absolute Mehrheitswahlrecht eine starke Parteienzersplitterung nicht verhindern. Dies wertet nicht vollständig die o. a. Annahmen ab, verdeutlicht aber, dass die politischen Effekte von Mehrheitswahl und Verhältniswahl in hohem Maße von den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen des jeweiligen Landes bzw. der jeweiligen sozio-politischen Struktur abhängen. Inbesondere ein Verfahren, das sich in der Mitte des Kontinuums zwischen reiner Verhältnis- und relativer Mehrheitswahl befindet, kann in dem einen Land zu einer weitgehend proportionalen Mandatsverteilung führen, während es sich in einem anderen Land als stark mehrheitsbildend erweist.
Die Einführung eines Mehrheitswahlsystems ist in Deutschland derzeit kein Thema der politischen Diskussion, obwohl es immer wieder vereinzelt Stimmen gibt (z. B. Altbundeskanzler Helmut Schmidt), die ein mehrheitsbildendes Verfahren fordern, da dies zur Lösung der grundlegenden Probleme der deutschen Parteiendemokratie und zur Bekämpung der Politikverdrossenheit notwendig sei.
Einen kleinen Vorgeschmack auf die möglichen Auswirkungen des relativen Mehrheitswahlrechts in Deutschland mag die folgende Tabelle geben. Aufgeführt sind die Erststimmenergebnisse von Union und SPD sowie die Zahl der mit diesen Erststimmen direkt gewonnen Wahlkreise bei den bisherigen Bundestagswahlen:
Jahr | CDU/CSU | SPD | Andere | ||||||
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Stimmen in % |
Wahlkr. in % |
Wahlkr. abs. |
Stimmen in % |
Wahlkr. in % |
Wahlkr. abs. |
Stimmen in % |
Wahlkr. in % |
Wahlkr. abs. |
|
1949 | 31,0 | 47,5 | 115 | 29,2 | 39,7 | 96 | 39,8 | 12,8 | 31 |
1953 | 43,7 | 71,1 | 172 | 29,5 | 18,6 | 45 | 26,8 | 10,3 | 25 |
1957 | 50,3 | 71,3 | 194 | 32,0 | 16,9 | 46 | 17,7 | 2,6 | 7 |
1961 | 46,0 | 57,4 | 156 | 36,5 | 33,5 | 91 | 17,5 | 0,0 | 0 |
1965 | 48,8 | 62,1 | 154 | 40,1 | 37,9 | 94 | 11,1 | 0,0 | 0 |
1969 | 46,6 | 48,8 | 121 | 44,0 | 51,2 | 127 | 9,4 | 0,0 | 0 |
1972 | 45,4 | 38,7 | 96 | 48,9 | 61,3 | 152 | 5,7 | 0,0 | 0 |
1976 | 48,9 | 54,0 | 134 | 43,7 | 46,0 | 114 | 7,4 | 0,0 | 0 |
1980 | 46,0 | 48,8 | 121 | 44,5 | 51,2 | 127 | 9,5 | 0,0 | 0 |
1983 | 52,1 | 72,6 | 180 | 40,4 | 27,4 | 68 | 7,5 | 0,0 | 0 |
1987 | 47,7 | 68,1 | 169 | 39,2 | 31,9 | 79 | 13,1 | 0,0 | 0 |
1990 | 45,7 | 71,6 | 235 | 35,2 | 27,7 | 91 | 19,1 | 0,6 | 2 |
1994 | 45,0 | 67,4 | 221 | 38,3 | 31,4 | 103 | 16,7 | 1,2 | 4 |
1998 | 39,6 | 34,1 | 112 | 43,8 | 64,6 | 212 | 16,6 | 1,2 | 4 |
2002 | 41,1 | 41,8 | 125 | 41,9 | 57,2 | 171 | 17,0 | 1,0 | 3 |
2005 | 40,9 | 50,2 | 150 | 38,4 | 48,5 | 145 | 20,7 | 1,3 | 4 |
2009 | 39,4 | 72,9 | 218 | 27,9 | 21,4 | 64 | 32,7 | 5,7 | 17 |
Diese Daten sind natürlich mit Vorsicht zu genießen, da das Wählerverhalten unter den Bedingungen einer echten relativen Mehrheitswahl (ohne nachgeschaltetem Verhältnisausgleich) wohl ein anderes wäre. Dennoch fällt auf, dass die Hochburgenverteilung der SPD offenbar deutlich günstiger ist, als die von CDU und CSU, so dass die SPD bei in etwa gleichen Stimmenanteilen einen kleinen Mandatsvorsprung hat. Dies hatte zur Folge, dass zweimal (1969 und 1980) ein sogenannter Bias aufgetreten ist, d. h., die zweitstärkste Partei (SPD) erlangt die absolute Mehrheit der Mandate. Mindestens ebenso alarmierend ist, dass die CDU/CSU bei nicht weniger als sieben Wahlen mehr als zwei Drittel aller Direktmandate gewinnen konnte und dabei meist nur etwa 45 Prozent der Erststimmen benötigte, 2009 gar nicht einmal mehr 40 Prozent. Es würde der Autorität des Grundgesetzes wohl kaum gut bekommen, wenn eine Partei, die nur eine Minderheit der Wähler vertritt, im Parlament ganz allein eine verfassungsändernde Mehrheit zur Verfügung hätte.