Mehrheitswahl vs. Verhältniswahl

[Systeme und Verfahren]

Pro & Contra

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts streiten sich Verfechter von Mehrheits- und Verhältniswahl darum, welches Wahlsystem denn nun das „Bessere“ sei. Die wichtigsten Argumente beider Seiten sind im Folgenden gegenübergestellt. Dabei beschränkt sich die Aufstellung auf den Streit um die beiden Repräsentationsprinzipien „Mehrheitswahl“ und „Verhältniswahl“. Nicht aufgeführt sind daher Argumente für oder gegen einzelne Wahlverfahren wie z. B. das angeblich enge Verhältnis zwischen Wähler und Abgeordneten bei der relativen Mehrheitswahl, welches bei Listenwahlsystemen nicht vorhanden sei. (Siehe hierzu die Darstellung der Stimmgebungs- und Kandidaturformen bzw. der verschiedenen Mehrheits- und Verhältniswahlsysteme.)

Mehrheitswahl Verhältniswahl
  • Verhütung der Parteienzersplitterung. Kleine Parteien haben geringe Chancen, Parlamentsmandate zu erlangen.
  • Gerechtigkeit. Repräsentation möglichst aller Meinung und Interessen im Parlament im Verhältnis ihrer Stärke unter der Wählerschaft.
  • Förderung der Parteienkonzentration in Richtung auf die Herausbildung eines Zweiparteiensystems
  • Verhinderung eines Kartells etablierter Parteien. Berücksichtigung gesellschaftlicher Wandlungen und neuer politischer Strömungen bei der Umsetzung von Stimmen in Mandate
  • Förderung stabiler Regierungen in Form parteilicher Mehrheitsregierungen.
  • Verhinderung allzu künstlicher politischer Mehrheiten, denen keine tatsächliche Mehrheit in der Wählerschaft entspricht und die nur aus institutionellen Eingriffen in den politischen Willensbildungsprozeß resultieren.
  • Förderung politischer Mäßigung, da die größeren politischen Parteien um die gemäßigt Wählerschaft in der Mitte kämpfen und bei einem Wahlsieg auch die politische Verantwortung übrnehmen müssen. Die Parteien müssen also ihr Programm an der gemäßigten Wählerschaft und an dem Machbaren ausrichten.
  • Förderung vereinbarter Mehrheiten durch Aushandeln und Kompromisse, an denen verschiedene gesellschaftliche Kräfte beteiligt sind.
  • Förderung des Machtwechsels, da geringe Veränderungen in den Stärkeverhältnissen der Parteien nach Wählerstimmen große Veränderungen nach Mandaten auslösen können.
  • Verhinderung extremer politischer Umschwünge, die weniger das Ergebnis grundlegender Veränderungen der politischen Einstellungen der Wählerschaft sind als vielmehr Folge des Verzerrungseffekts des Wahlsystems.
  • Herbeiführung der Entscheidung über die Regierungsführung direkt durch den Wähler und nicht durch die Parteien in Koalitionsverhandlungen

Keine abstrakte Bewertung

Die argumentative Gegenüberstellung zeigt, dass Vorteile des einen Repräsentationsprinzips als Nachteile des anderen ausgelegt werden und umgekehrt. Oftmals werden zudem die jeweiligen Auswirkungen des Wahlsystems auf die politischen Verhältnisse völlig überschätzt. Die berühmte Aussage von Ortega y Gasset, die auch den Titel dieser Website ziert, ist daher sicher übertrieben. Auch werden die Einflüsse eines bestimmten Wahlsystems auf die politische Landschaft eines Landes oft zu Unrecht pauschalisiert. So hat es in England trotz relativer Mehrheitswahl keineswegs immer stabile Regierungen gegeben und in Frankreich konnte das absolute Mehrheitswahlrecht eine starke Parteienzersplitterung nicht verhindern. Dies wertet nicht vollständig die o. a. Annahmen ab, verdeutlicht aber, dass die politischen Effekte von Mehrheitswahl und Verhältniswahl in hohem Maße von den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen des jeweiligen Landes bzw. der jeweiligen sozio-politischen Struktur abhängen. Inbesondere ein Verfahren, das sich in der Mitte des Kontinuums zwischen reiner Verhältnis- und relativer Mehrheitswahl befindet, kann in dem einen Land zu einer weitgehend proportionalen Mandatsverteilung führen, während es sich in einem anderen Land als stark mehrheitsbildend erweist.

Diskussion in Deutschland

Die Einführung eines Mehrheitswahlsystems ist in Deutschland derzeit kein Thema der politischen Diskussion, obwohl es immer wieder vereinzelt Stimmen gibt (z. B. Altbundeskanzler Helmut Schmidt), die ein mehrheitsbildendes Verfahren fordern, da dies zur Lösung der grundlegenden Probleme der deutschen Parteiendemokratie und zur Bekämpung der Politikverdrossenheit notwendig sei.

Einen kleinen Vorgeschmack auf die möglichen Auswirkungen des relativen Mehrheitswahlrechts in Deutschland mag die folgende Tabelle geben. Aufgeführt sind die Erststimmenergebnisse von Union und SPD sowie die Zahl der mit diesen Erststimmen direkt gewonnen Wahlkreise bei den bisherigen Bundestagswahlen:

Jahr CDU/CSU SPD Andere
Stimmen
in %
Wahlkr.
in %
Wahlkr.
abs.
Stimmen
in %
Wahlkr.
in %
Wahlkr.
abs.
Stimmen
in %
Wahlkr.
in %
Wahlkr.
abs.
1949 31,0 47,5 115 29,2 39,7 96 39,8 12,8 31
1953 43,7 71,1 172 29,5 18,6 45 26,8 10,3 25
1957 50,3 71,3 194 32,0 16,9 46 17,7 2,6 7
1961 46,0 57,4 156 36,5 33,5 91 17,5 0,0 0
1965 48,8 62,1 154 40,1 37,9 94 11,1 0,0 0
1969 46,6 48,8 121 44,0 51,2 127 9,4 0,0 0
1972 45,4 38,7 96 48,9 61,3 152 5,7 0,0 0
1976 48,9 54,0 134 43,7 46,0 114 7,4 0,0 0
1980 46,0 48,8 121 44,5 51,2 127 9,5 0,0 0
1983 52,1 72,6 180 40,4 27,4 68 7,5 0,0 0
1987 47,7 68,1 169 39,2 31,9 79 13,1 0,0 0
1990 45,7 71,6 235 35,2 27,7 91 19,1 0,6 2
1994 45,0 67,4 221 38,3 31,4 103 16,7 1,2 4
1998 39,6 34,1 112 43,8 64,6 212 16,6 1,2 4
2002 41,1 41,8 125 41,9 57,2 171 17,0 1,0 3
2005 40,9 50,2 150 38,4 48,5 145 20,7 1,3 4
2009 39,4 72,9 218 27,9 21,4 64 32,7 5,7 17

Diese Daten sind natürlich mit Vorsicht zu genießen, da das Wählerverhalten unter den Bedingungen einer echten relativen Mehrheitswahl (ohne nachgeschaltetem Verhältnisausgleich) wohl ein anderes wäre. Dennoch fällt auf, dass die Hochburgenverteilung der SPD offenbar deutlich günstiger ist, als die von CDU und CSU, so dass die SPD bei in etwa gleichen Stimmenanteilen einen kleinen Mandatsvorsprung hat. Dies hatte zur Folge, dass zweimal (1969 und 1980) ein sogenannter Bias aufgetreten ist, d. h., die zweitstärkste Partei (SPD) erlangt die absolute Mehrheit der Mandate. Mindestens ebenso alarmierend ist, dass die CDU/CSU bei nicht weniger als sieben Wahlen mehr als zwei Drittel aller Direktmandate gewinnen konnte und dabei meist nur etwa 45 Prozent der Erststimmen benötigte, 2009 gar nicht einmal mehr 40 Prozent. Es würde der Autorität des Grundgesetzes wohl kaum gut bekommen, wenn eine Partei, die nur eine Minderheit der Wähler vertritt, im Parlament ganz allein eine verfassungsändernde Mehrheit zur Verfügung hätte.


von Wilko Zicht (1999, letzte Aktualisierung: 24.10.2009)