Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin

[Wahlprüfung]

Urteil vom 19. Februar 2007

VerfGH 168/06

 

„Wilke II-Urteil“


Entscheidungen 2000–heute

In dem Wahlprüfungsverfahren
über den Einspruch

des Herrn Helmut Heinrich, Berlin,
– Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte White & Case, handelnd durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Klaus Finkelnburg, Berlin –,
gegen seine Nichtberufung in das Abgeordnetenhaus von Berlin,
Weitere Beteiligte gemäß § 41 VerfGHG:
1. die Fraktion der SPD im Abgeordnetenhaus von Berlin,
vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden, 10111 Berlin,
2. die Fraktion der CDU im Abgeordnetenhaus von Berlin,
vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden, 10111 Berlin,
3. die Fraktion Die Linkspartei.PDS im Abgeordnetenhaus von Berlin,
vertreten durch die Fraktionsvorsitzende, 10111 Berlin,
4. die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Abgeordnetenhaus von Berlin,
vertreten durch die Fraktionsvorsitzenden, 10111 Berlin,
5. die Fraktion der FDP im Abgeordnetenhaus von Berlin,
vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden, 10111 Berlin,
6. der Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin, 10111 Berlin,
7. die Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Klosterstraße 47, 10179 Berlin,
8. der Landeswahlleiter, Klosterstraße 47, 10179 Berlin,
9. MdA Carsten Wilke, Berlin,
– Verfahrensbevollmächtigter des Beteiligten zu 9.:
Prof. Dr. Götz Meder, Berlin –,
hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin
durch den Präsidenten Prof. Dr. Sodan, die Vizepräsidentin Diwell und die Richterinnen und Richter Bellinger, Dr. Groth, Knuth, Libera, Dr. Mahlo, Dr. Stresemann und Zünkler
auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 30. Januar 2007 für Recht erkannt:

Entscheidungsformeln:

Der Einspruch wird zurückgewiesen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet mit Ausnahme der notwendigen Auslagen des Beteiligten zu 9., die das Land Berlin zu erstatten hat.

Gründe:

I.

Der Einsprechende wendet sich gegen die Verteilung der Sitze im Abgeordnetenhaus von Berlin aufgrund des Beschlusses des Landeswahlausschusses vom 5. Oktober 2006 und begehrt seine Berufung als Abgeordneter in das Abgeordnetenhaus. 1
Zu der am 17. September 2006 durchgeführten Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin kandidierte der Einsprechende im Wahlkreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf auf Listenplatz 5 der von der CDU eingereichten Bezirksliste. Nach dem vom Landeswahlleiter veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnis erzielte die CDU insgesamt 37 Mandate, darunter ein Überhangmandat und vier Ausgleichsmandate. Auf die Bezirksliste Charlottenburg-Wilmersdorf entfielen fünf Mandate einschließlich eines Ausgleichsmandats mit der Folge, dass der Einsprechende vom Landeswahlleiter vorläufig als gewählter Abgeordneter benannt wurde. 2
In seiner Sitzung vom 5. Oktober 2006 beschloss der Landeswahlausschuss, die Verteilung der Ausgleichsmandate auf die Bezirkslisten der Parteien und damit die Sitzverteilung abweichend von dem veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnis vorzunehmen. Das ursprünglich dem Wahlkreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf zugeordnete Ausgleichsmandat entfiel auf den Wahlkreisverband Marzahn-Hellersdorf, so dass der dort auf Listenplatz 2 geführte Kandidat anstelle des Einsprechenden als Abgeordneter in das Abgeordnetenhaus von Berlin gewählt war. Das endgültige Wahlergebnis wurde am 20. Oktober 2006 im Amtsblatt für Berlin (S. 3757 <3780 ff.>) bekannt gemacht. Nachdem der zunächst in das Abgeordnetenhaus gewählte Kandidat am 30. November 2006 ausgeschieden ist, ist für ihn der Beteiligte zu 9. als Abgeordneter nachgerückt. 3
Im Einzelnen ermittelte der Landeswahlausschuss die Sitzverteilung auf die Bezirkslisten wie folgt: 4
Nach dem Wahlergebnis konnte die CDU von den 130 Grundmandaten des Abgeordnetenhauses (§ 7 Abs. 2 des Gesetzes über die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen – Landeswahlgesetz, LWG –) aufgrund des gemäß § 17 Abs. 2 LWG, § 73 Abs. 4 der Landeswahlordnung – LWO – anzuwendenden Verfahrens der mathematischen Proportion (Hare-Niemeyer) 32 Grundmandate beanspruchen. Die Verteilung der Grundmandate auf die zwölf Bezirkslisten der CDU erfolgte gemäß § 17 Abs. 3 Sätze 2 bis 6 LWG, § 73 Abs. 5 LWO, indem auf Grund des Verfahrens der mathematischen Proportion für jeden Wahlkreisverband gesondert die Anzahl der Zweitstimmen in diesem Wahlkreisverband mit der Zahl der Grundmandate von 32 multipliziert und dann durch die Gesamtzahl der Zweitstimmen der CDU aus allen Wahlkreisverbänden (294.026 Stimmen) geteilt wurde. Daraus ergaben sich für die Bezirksliste Charlottenburg-Wilmersdorf vier Grundmandate in Gestalt von drei Listenmandaten und einem Direktmandat. Auf die Bezirksliste Marzahn-Hellersdorf entfiel nach dieser Berechnung ein Grundmandat in Gestalt eines Direktmandats. 5
Anschließend erhöhte sich für die CDU auf Grund eines Überhangmandats aus der Bezirksliste Reinickendorf in Anwendung des § 19 Abs. 1 LWG, § 73 Abs. 6 Buchst. c LWO die Zahl der Mandate auf 33. Da zudem die SPD sieben Überhangmandate erhalten hatte, erfolgte nach § 19 Abs. 2 LWG, § 73 Abs. 6 Buchst. d Sätze 1 bis 4 LWO eine Erhöhung der Anzahl der Sitze des Abgeordnetenhauses durch Ausgleichsmandate auf eine Gesamtmandatszahl von 149, um unter Einbeziehung der Überhangmandate die Sitzverteilung im Wahlgebiet nach dem Verhältnis der gesamten Zweitstimmenzahl der Parteien im Wahlgebiet zu gewährleisten. Daraus ergaben sich neben den 130 Grundmandaten und acht Überhangmandaten elf zusätzliche Ausgleichsmandate. 6
Im Folgenden kamen die für die streitgegenständliche Entscheidung maßgeblichen Regelungen in § 73 Abs. 6 Buchst. d Sätze 5 bis 8 LWO zur Anwendung, die der Verordnungsgeber mit der Achten Verordnung zur Änderung der Landeswahlordnung vom 28. Februar 2006 (GVBl. S. 216; Neufassung vom 9. März 2006, GVBl. S. 224) geschaffen hatte. Sie sind an die Stelle der zuvor geltenden Sätze 5 und 6 getreten und lauten nunmehr: 7
„Die neue Gesamtzahl wird nach § 17 Abs. 2 des Landeswahlgesetzes auf die Parteien verteilt. Der Unterschied der neuen Mandatszahl einer Partei zur Zahl ihrer zunächst nach § 17 des Landeswahlgesetzes einschließlich der Überhangmandate errungenen Sitze ergibt die Zahl der Ausgleichsmandate. Den Landes- und Bezirkslisten werden die Ausgleichsmandate nach § 17 Abs. 3 des Landeswahlgesetzes zugeteilt. Dabei werden Bezirkslisten übergangen, soweit auf sie Überhangmandate entfallen.“ 8
Danach wurde zunächst die neue Gesamtzahl von 149 Mandaten gemäß § 73 Abs. 6 Buchst. d Sätze 5 und 6 LWO nach § 17 Abs. 2 LWG auf die Parteien verteilt. Auf die CDU entfielen vier Ausgleichsmandate und damit insgesamt 37 Mandate. 9
Gemäß § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO waren nunmehr die Ausgleichsmandate den Landes- bzw. Bezirkslisten der Parteien nach § 17 Abs. 3 LWG zuzuteilen. Hierzu wurde die Anzahl der Zweitstimmen in jedem Wahlkreisverband mit der Zahl der insgesamt zu verteilenden Mandate einer Partei, für die CDU somit 37, multipliziert und dann durch die Gesamtzahl der Zweitstimmen der Partei aus allen Wahlkreisverbänden, für die CDU 294.026 Stimmen, geteilt. Hieraus ergab sich für jede Bezirksliste der CDU eine Berechnungszahl, auf Grund derer die 37 Mandate nach Ganzzahl und Zahlenbruchteil auf die Bezirkslisten verteilt wurden. 10
Im Vergleich zur Verteilung der 32 Grundmandate und unter Berücksichtigung des für den Bezirk Reinickendorf angefallenen Überhangmandats erhielten bei der CDU im Ergebnis die Bezirkslisten Tempelhof-Schöneberg, Steglitz-Zehlendorf, Neukölln und Marzahn-Hellersdorf jeweils ein zusätzliches Mandat in Gestalt eines Ausgleichsmandats zugewiesen. Während sich die Mandatszahl für den Bezirk Marzahn-Hellersdorf somit von eins auf zwei erhöhte, blieb es für den Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf bei der im Rahmen der Zuteilung der Grundmandate ermittelten Zahl von vier Mandaten. 11
Demgegenüber war nach dem vom Landeswahlleiter zunächst veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnis eines der vier Ausgleichsmandate der Bezirksliste Charlottenburg-Wilmersdorf anstelle der Bezirksliste Marzahn-Hellersdorf zugefallen. Dieses Ergebnis beruhte auf einer abweichenden Berechnung der Ausgleichsmandatszuteilung gemäß § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO i. V. m. § 17 Abs. 3 LWG dergestalt, dass die Anzahl der Zweitstimmen in jedem Wahlkreisverband lediglich mit der Zahl der zu vergebenden Ausgleichsmandate, hier also mit 4, multipliziert und dann durch die Gesamtzahl der Zweitstimmen der Partei aus allen Wahlkreisverbänden geteilt worden war. 12
Der Einsprechende macht mit seinem am 23. Oktober 2006 beim Verfassungsgerichtshof eingereichten Einspruch geltend, er sei anstelle des Beteiligten zu 9. auf einen Sitz im Abgeordnetenhaus zu berufen. Er hält die Auslegung und Anwendung der Vorschrift des § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO durch den Landeswahlausschuss für unzutreffend. 13
§ 19 Abs. 2 Satz 2 LWG ermächtige den Verordnungsgeber allein dazu, die Verteilung der Ausgleichsmandate zu regeln, nicht aber dazu, das Ergebnis gesetzlicher Regelungen des Landeswahlgesetzes, also die Verteilung der Grundmandate nach § 17 Abs. 3 LWG, in Frage zu stellen. Für diese Auslegung spreche auch der Wortlaut des § 73 Abs. 6 Buchst. d Sätze 6 und 7 LWO. Danach seien die „Ausgleichsmandate“ lediglich zusätzlich zuzuteilen, nicht aber – wie die Mehrheit des Landeswahlausschusses meine – auch die zunächst nach § 17 des Landeswahlgesetzes einschließlich der Überhangmandate errungenen Sitze in die Verteilungsrechnung einzubeziehen. Bei der vom Landeswahlausschuss vorgenommenen Berechnung sei die unzulässige Folge nicht auszuschließen, dass sich über die Verweisung auf § 17 Abs. 3 LWG in rechnerischen Randbereichen eine andere Sitzverteilung ergebe. 14
Dieses Verständnis entspreche auch der Auffassung des Verfassungsgerichtshofs in seinem Urteil vom 21. März 2003. Danach dürfe die Wahlordnung nichts bestimmen oder auch nur zulassen, was mit Wortlaut, Sinn und Zweck des Wahlgesetzes und der Verordnungsermächtigung in Widerspruch stehe oder über das hinausgehe, was das Wahlgesetz überhaupt geregelt haben wolle. Im Leitsatz seiner Entscheidung spreche der Verfassungsgerichtshof aus, § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG biete keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber den Verordnungsgeber zu einer Regelung habe ermächtigen wollen, die zur Verteilung von Ausgleichsmandaten auf die Bezirkslisten einer Partei eine im Vergleich zur gesetzlichen Regelung des § 17 Abs. 3 LWG völlige Neuregelung der innerparteilichen zwischenbezirklichen Sitzverteilung vorsehe. Die vom Landeswahlausschuss favorisierte Auslegung des § 17 Abs. 3 LWG laufe jedoch hierauf hinaus. Seine (des Einsprechenden) Auffassung werde schließlich durch die amtliche Begründung zur Neufassung des § 73 Abs. 6 Buchst. d LWO bestätigt. Bei zutreffender Auslegung ergebe sich danach die Zuordnung des strittigen Ausgleichsmandats auf die Bezirksliste Charlottenburg-Wilmersdorf der CDU mit der Folge, dass er, der Einsprechende, statt des Beteiligten zu 9. in das Abgeordnetenhaus zu berufen sei. 15
Auch wenn es für die Entscheidung nur auf die Auslegung des § 17 Abs. 3 LWG ankomme, sei klarzustellen, dass die Verfahrensweise des Landeswahlausschusses in dessen Sitzung vom 5. Oktober 2006 rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entsprochen habe. Eine von dem Bevollmächtigten des auf Platz 2 der Bezirksliste Marzahn-Hellersdorf Kandidierenden verfasste schriftliche Stellungnahme sei vor der Sitzung den sieben übrigen Mitgliedern des Landeswahlausschusses, nicht aber dem Landeswahlleiter zugeleitet worden. Im Verlauf der Sitzung habe der Bevollmächtigte Gelegenheit erhalten, eingehend seine Rechtsauffassung darzulegen; den nach dem vom Landeswahlleiter veröffentlichten vorläufigen Ergebnis gewählten Bewerbern, zu deren Nachteil diese Rechtsauffassung habe führen müssen, sei hingegen keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. 16
Gemäß § 41 VerfGHG hat der Verfassungsgerichtshof den Vorsitzenden der im Abgeordnetenhaus von Berlin vertretenen Fraktionen, dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses, der Senatsverwaltung für Inneres (Beteiligte zu 7.), dem Landeswahlleiter (Beteiligter zu 8.) einschließlich der übrigen Mitglieder des Landeswahlausschusses sowie dem betroffenen Bewerber Gelegenheit zur Äußerung eingeräumt. 17
Die Beteiligte zu 7. schließt sich, zugleich im Namen des Beteiligten zu 8., im Wesentlichen den Rechtsausführungen des Einsprechenden an. Sie verweist ergänzend auf die Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs in dessen Urteil vom 21. März 2003, wonach § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG lediglich die Ermächtigung enthalte, in der Landeswahlordnung zu regeln, welche Bezirkslisten ungeachtet der ihnen bereits auf Grund des § 17 Abs. 3 LWG zugeteilten Sitze „die zusätzlich anfallenden Ausgleichsmandate erhalten“. Während die der Wahlprüfungsentscheidung zugrunde liegende Fassung der Landeswahlordnung eine Gesamtverteilung aller Mandate einschließlich der Überhang- und Ausgleichsmandate vorgesehen habe, beschränke sich § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO in der geltenden Fassung allein auf die Verteilung der Ausgleichsmandate. Damit werde vermieden, dass die durch die Grundverteilung den Bezirkslisten bereits nach § 17 LWG zugeteilten Mandate in der Ausgleichsrechnung wieder verändert würden. Zum anderen schreibe die Landeswahlordnung nunmehr vor, dass Bezirkslisten übergangen würden, soweit auf sie Überhangmandate entfielen. Bei der erneuten Gesamtverteilung aller Mandate einschließlich der Überhang- und Ausgleichsmandate – wie sie der Landeswahlausschuss vorgenommen habe – könnten diese für die rechtskonforme Mandatsverteilung wesentlichen Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. 18
Der Beteiligte zu 9. hält die Entscheidung des Landeswahlausschusses für zutreffend. Die streitentscheidende Norm des § 17 Abs. 3 LWG formuliere unzweideutig, dass bei der Rechenoperation, die zum Zweck der Zuteilung erfolge, die „Gesamtzahl der Sitze“ der maßgebliche Faktor sei, nicht etwa die „Zahl der Ausgleichsmandate“. § 17 Abs. 3 LWG regele im ersten Schritt abschließend die Verteilung der Grundmandate. Diese Verteilung werde in einem zweiten Schritt fortgesetzt, ohne dass die Erstverteilung der Grundmandate davon berührt werde. 19
Entgegen der Auffassung des Einsprechenden ermächtige § 19 Abs. 2 LWG den Verordnungsgeber nicht, die Verteilung der Ausgleichsmandate zu regeln, sondern lediglich dazu, das Nähere über deren Berechnung zu bestimmen. Hinsichtlich der Verteilung verweise § 73 Abs. 6 Buchst. d LWO, die Grenzen seiner Delegationsermächtigung beachtend, auf das Gesetz. Er vertrete nicht die Auffassung, dass die Gesamtzahl der Grund- und Überhangmandate zuzüglich der Ausgleichsmandate erneut zu berechnen sei; dies sei auch nicht Folge der von dem Landeswahlausschuss vorgenommenen Berechnung. Ebenso wenig führe sein Rechtsstandpunkt zu der unzulässigen Folge, dass sich in rechnerischen Randbereichen eine andere Sitzverteilung ergebe. Soweit der Einsprechende auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs verweise, versäume er, die Vergleichbarkeit der sich deutlich unterscheidenden Sachverhalte darzustellen. 20
Dem Landeswahlleiter sei die von dem Bevollmächtigten des auf Platz 2 der Bezirksliste Marzahn-Hellersdorf Kandidierenden verfasste Stellungnahme ebenfalls zugeleitet worden; sie habe ihn allenfalls wegen eines verzögerten Geschäftsgangs innerhalb der Behörde nicht rechtzeitig erreicht. Eine Verpflichtung, Wahlbewerber, die ihr Wahlziel verfehlten, vor der Feststellung des amtlichen Endergebnisses anzuhören, bestehe nicht. 21

II.

1. Der Einspruch ist gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 Sätze 1 und 5 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof – VerfGHG – zulässig. Bei dem Einsprechenden handelt es sich um einen „betroffenen Bewerber“ im Sinne des § 40 Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG. Er macht geltend, zu Unrecht, nämlich infolge einer von ihm für rechtsfehlerhaft gehaltenen Auslegung einer Regelung der Landeswahlordnung, nicht in das Abgeordnetenhaus berufen worden zu sein (vgl. dazu Urteil vom 21. März 2003 – VerfGH 175/01 – LVerfGE 14, 63 <68>). 22
2. Der Einspruch ist jedoch unbegründet. Der Einsprechende ist nicht als Abgeordneter in das Abgeordnetenhaus von Berlin zu berufen, da der Landeswahlausschuss das Ergebnis der Wahl vom 17. September 2006 zutreffend festgestellt hat. Das vom Einsprechenden für die Bezirksliste Charlottenburg-Wilmersdorf begehrte Ausgleichsmandat ist zu Recht dem Beteiligten zu 9. für die Bezirksliste Marzahn-Hellersdorf zugewiesen worden. 23
Das in § 14 Nr. 3, §§ 40 ff. VerfGHG geregelte Wahlprüfungsverfahren dient dem Schutz des objektiven Wahlrechts, somit der Gewährleistung der richtigen Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses (Urteile vom 17. März 1997 – VerfGH 87/95 und VerfGH 90/95 – LVerfGE 6, 32 <38>). Der Verfassungsgerichtshof kann im Falle eines auf § 40 Abs. 2 Nr. 5 VerfGHG gestützten Einspruchs gemäß § 42 Nr. 5 VerfGHG die Feststellung des Verlustes des Sitzes des berufenen Bewerbers, hier des Beteiligten zu 9., treffen und die Berufung des berechtigten Bewerbers, hier des Einsprechenden, anordnen, wenn der Einsprechende zu Unrecht nicht in das Abgeordnetenhaus berufen worden ist. Die Berufung eines Bewerbers ist – wie sich mittelbar aus § 40 Abs. 2 Nr. 8 VerfGHG („sonst“) ergibt – an den Vorschriften des Grundgesetzes, der Verfassung von Berlin, des Landeswahlgesetzes und der Landeswahlordnung zu messen (vgl. Urteil vom 6. Dezember 2002 – VerfGH 192/01 – LVerfGE 13, 71 <82>). 24
a) Nach Art. 39 Abs. 1 der Verfassung von Berlin – VvB – werden die Abgeordneten in allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahl gewählt. Alles Nähere wird durch das Wahlgesetz geregelt (Art. 39 Abs. 5 VvB). So enthält das Landeswahlgesetz vom 25. September 1987 (GVBl. S. 2370; zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. Oktober 2005, GVBl. S. 534) hinsichtlich der Wahl zum Abgeordnetenhaus insbesondere in § 17 und § 19 LWG Bestimmungen über das Verfahren der Wahl nach Bezirks- oder Landeslisten. 25
Nach § 17 Abs. 2 LWG erfolgt die Verteilung der Sitze auf die Bezirks- und Landeslisten der Parteien auf Grund des Verfahrens der mathematischen Proportion (Hare-Niemeyer). § 17 Abs. 3 LWG regelt in den Sätzen 2 bis 6 für Parteien, die Bezirkslisten eingereicht haben, die Unterverteilung der ihnen zustehenden Sitze auf ihre einzelnen Wahlkreisverbände, und zwar entsprechend dem Anteil der gültigen Zweitstimmen der Partei in jedem Wahlkreisverband an der gesamten Zweitstimmenzahl der Partei im ganzen Wahlgebiet, auf Grund des Verfahrens der mathematischen Proportion. Soweit die in den Wahlkreisen direkt errungenen Sitze einer Partei die so nach § 17 LWG ermittelte Anzahl von Sitzen übersteigen, verbleiben sie nach § 19 Abs. 1 LWG den Parteien als Überhangmandate. § 19 Abs. 2 LWG enthält für diesen Fall eine Regelung des angemessenen Ausgleichs der Überhangmandate. Nach Satz 1 erhöht sich die Anzahl der Sitze um so viele Ausgleichsmandate, wie erforderlich sind, um unter Einbeziehung der Überhangmandate die Sitzverteilung im Wahlgebiet nach dem Verhältnis der gesamten Zweitstimmenzahl der Parteien im Wahlgebiet zu gewährleisten. Nach Satz 2 bestimmt das Nähere über die Berechnung die Landeswahlordnung. 26
Diese Verordnungsermächtigung begegnet im Hinblick auf Art. 39 Abs. 5 VvB keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 70). § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG leitet sich von der allgemeinen Verordnungsermächtigung des § 34 LWG ab und konkretisiert diese. Der Gesetzgeber braucht Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung nicht ausdrücklich im Gesetz zu bestimmen. Vielmehr gelten für die Interpretation von Ermächtigungsnormen die allgemeinen Auslegungsregeln, so dass der Sinnzusammenhang mit anderen Vorschriften, das Ziel, das die gesetzliche Regelung insgesamt verfolgt, und die Entstehungsgeschichte zur Auslegung herangezogen werden können (Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 70; vgl. BVerfGE 58, 257 <277>). Hiernach beschränkt sich die Verordnungsermächtigung in § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG – entgegen der Auffassung des Beteiligten zu 9. – nicht auf das bloße Berechnungsverfahren zur Ermittlung der notwendigen Zahl an Ausgleichsmandaten. Vielmehr lässt sich der Vorschrift auch die an den Verordnungsgeber gerichtete Ermächtigung entnehmen, Regelungen zu treffen, wie angefallene Ausgleichsmandate im Fall des Vorhandenseins von Bezirkslisten parteiintern zu verteilen sind (Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 71). 27
Auf dieser Grundlage hat der Verordnungsgeber in § 73 Abs. 6 Buchst. d LWO, der mit der Achten Verordnung zur Änderung der Landeswahlordnung vom 28. Februar 2006 (a. a. O.) geändert worden ist, nähere Regelungen der Vergabe von Ausgleichsmandaten getroffen. Die Vorschrift gibt in den Sätzen 1 bis 6 im Einzelnen vor, wie die zur Herstellung des Parteienproporzes gebotene neue Gesamtzahl der Mandate, d. h. aller Mandate einschließlich Überhang- und Ausgleichsmandate, zu ermitteln und wiederum auf Grund des Verfahrens der mathematischen Proportion auf die Parteien zu verteilen ist. Im Anschluss sieht sie zum Zweck der Herstellung des sog. parteiinternen Proporzes in den hier maßgeblichen Sätzen 7 und 8 eine Zuteilung der so ermittelten Ausgleichsmandate auf die Landes- und Bezirkslisten der jeweiligen Parteien „nach § 17 Abs. 3 des Landeswahlgesetzes“ vor. 28
b) Der Landeswahlausschuss hat diese Verweisung auf § 17 Abs. 3 LWO bei der Feststellung des Wahlergebnisses zutreffend ausgelegt und angewendet. 29
aa) Sein Verständnis der Vorschrift des § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO ist mit deren Wortlaut vereinbar. Zwar bestimmt die Vorschrift, dass „die Ausgleichsmandate“ nach § 17 Abs. 3 LWG zugeteilt werden. Entgegen der Auffassung des Einsprechenden folgt hieraus aber nicht zwingend, dass in die zum Zweck der Verteilung der Ausgleichsmandate vorzunehmende Berechnung als Rechenfaktor lediglich die (vier) zu vergebenden Ausgleichsmandate einzubeziehen sind. Die Verweisung auf § 17 Abs. 3 LWG kann auch als Anordnung eines Berechnungsverfahrens verstanden werden, das – unter Verwendung eines aus § 17 Abs. 3 LWG zu entnehmenden, von der Zahl der zu verteilenden Ausgleichsmandate abweichenden Rechenfaktors – erst im Ergebnis zu einer Zuteilung der Ausgleichsmandate führt. In diesem Sinne stellt das der Entscheidung des Landeswahlausschusses zu Grunde liegende Normverständnis auf den in § 17 Abs. 3 Satz 3 LWG gewählten Begriff der „Gesamtzahl“ der Sitze einer Partei ab und interpretiert ihn dahin, dass er – für die Berechnung nach § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO – alle aufgrund der Zweitstimmenzahl erworbenen Mandate einer Partei zuzüglich der Überhang- und der Ausgleichsmandate umfasst. Für diese Auslegung spricht, dass die so verstandene „Gesamtzahl“ mit dem Begriff der „neuen Gesamtzahl“ in § 73 Abs. 6 Buchst. d Sätze 2 und 5 LWO korrespondiert, welche sich nach Satz 2 unter Berücksichtigung der „Zahl der errungenen Sitze der Partei einschließlich ihrer Überhangmandate“ nach Berechnung der Zahl der Ausgleichsmandate ergibt. 30
bb) Welche der beiden streitgegenständlichen Verfahrensweisen zur Zuteilung der Ausgleichsmandate der Verordnungsgeber anordnen wollte, lässt sich der Regelung des § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO nicht unmittelbar entnehmen. 31
(1.) Der Umstand, dass der Verordnungsgeber für die Zuteilung der Ausgleichsmandate keine entsprechende, sondern – scheinbar – eine unmittelbare Anwendung der Berechnung nach § 17 Abs. 3 LWO vorgeschrieben hat, ist nicht aussagekräftig. Da in § 17 Abs. 3 LWG die Gesamtzahl der nach § 17 Abs. 2 LWG für jede Partei ermittelten Sitze, also die Zahl der Grundmandate, als Berechnungsfaktor vorgesehen, diese Zahl (hier: 32) für eine Verteilung der Ausgleichmandate nach dem System Hare-Niemeyer jedoch unbehelflich ist, kann § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO in jedem Fall nur eine entsprechende Anwendung der Berechnung nach § 17 Abs. 3 LWG zum Inhalt haben. 32
(2.) Die Auslegung von § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO durch den Landeswahlausschuss erweist sich auch nicht schon deshalb als eindeutig zutreffend, weil der Verordnungsgeber darin konkret auf die Regelung des § 17 Abs. 3 LWG und nicht – wie in den Absätzen 4 und 5 des § 73 LWO – abstrakt auf das Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer verweist. Hätte der Verordnungsgeber Letzteres getan, stünde ebenfalls nicht zweifelsfrei fest, welche Mandatszahl bei der Berechnung zur Verteilung der Ausgleichsmandate zu verwenden wäre. In diesem Fall ließe sich darüber streiten, ob zwei nacheinander durchgeführte Berechnungen nach Hare-Niemeyer mit jeweils nur einem Teil der angefallenen Mandate (hier: 32 und vier) den an ein Verfahren der mathematischen Proportion zu stellenden Anforderungen genügte. 33
cc) Welche Berechnungsweise der Verordnungsgeber vorgeben wollte, ergibt sich auch nicht aus der Begründung der Achten Verordnung zur Änderung der Landeswahlordnung, in der es heißt (in: Vorlage an das Abgeordnetenhaus von Berlin unter A. b) zu 33.): 34
„Die Neuregelung in Absatz 6 beschränkt sich übereinstimmend mit der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin auf die Verteilung der Ausgleichsmandate. Insoweit wird die Anwendung der in § 17 Abs. 2 und 3 des Landeswahlgesetzes vorhandenen Regeln ausdrücklich angeordnet. Damit ist klargestellt, dass im Falle von Überhang- und Ausgleichsmandaten eine erneute Verteilung sämtlicher Mandate nicht stattfindet. …“ 35
Dieser Begründung kann nur entnommen werden, dass § 73 Abs. 6 LWO – entsprechend dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 21. März 2003 (VerfGH 175/01 – LVerfGE 14, 63 ff.) – die Verteilung der Grundmandate auf die Bezirkslisten nach § 17 Abs. 3 Sätze 2 bis 6 LWG unberührt lässt. Daraus folgt zwar notwendigerweise, dass die Unterverteilung der Ausgleichsmandate auf die Bezirkslisten in einem gesonderten Rechenschritt zu erfolgen hat. Welcher Rechenweg dabei nach der Vorstellung des Verordnungsgebers zu beschreiten ist, wird hingegen nicht deutlich. 36
dd) Entgegen der Auffassung des Einsprechenden scheidet die vom Landeswahlausschuss gewählte Auslegung von § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO nicht deshalb aus, weil sie von der gesetzlichen Ermächtigung in § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG nicht gedeckt wäre. Vielmehr ist die Auslegung mit den Vorgaben des Verfassungsgerichtshofs aus seinem Urteil vom 21. März 2003 (a. a. O.) vereinbar. 37
Auch bei einer verordnungsrechtlichen Regelung, die – wie hier – auf die Anwendung einer gesetzlichen Vorschrift verweist, sind allerdings die Anforderungen des Vorbehalts des Gesetzes zu beachten. Dieser verlangt, dass staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (vgl. BVerfGE 98, 218 <251>). Hierzu zählen grundsätzlich auch wahlrechtliche Regelungen zur Herstellung eines parteiinternen Proporzes; diese darf der Gesetzgeber nicht insgesamt dem Willen des Verordnungsgebers überlassen (Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 71 f.). § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG kann daher nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber den Verordnungsgeber zu einer Regelung des innerparteilichen zwischenbezirklichen Ausgleichs in Gestalt einer völligen Neuverteilung der Sitze auf die einzelnen Bezirkslisten einer Partei ermächtigen wollte, die die auf Grund des § 17 Abs. 3 Sätze 2 bis 6 LWG erfolgte Verteilung der Mandate auf die einzelnen Bezirkslisten einer Partei für den Fall von Überhang- und Ausgleichsmandaten aufhebt und dazu führen kann, dass eine Bezirksliste in Anwendung der Landeswahlordnung weniger Sitze zugeteilt bekommt als in Anwendung des Landeswahlgesetzes. § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG enthält vielmehr nur die Ermächtigung, in der Landeswahlordnung zu regeln, welche Bezirkslisten ungeachtet der ihnen bereits aufgrund des § 17 Abs. 3 LWG zugeteilten Sitze die zusätzlich angefallenen Ausgleichsmandate erhalten (Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 71 f.). 38
Das Ziel der Neufassung des § 73 Abs. 6 LWO, diesem begrenzten Umfang der in § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG enthaltenen Ermächtigung Rechnung zu tragen und eine Veränderung der bereits nach § 17 Abs. 3 LWG erfolgten Mandatsverteilung zu Lasten einer Bezirksliste bei der Zuteilung von Ausgleichsmandaten zu verhindern, kann auch bei Anwendung des vom Landeswahlausschuss beschlossenen Berechnungsverfahrens gewährleistet werden; es ist bei der Feststellung des endgültigen Ergebnisses der am 17. September 2006 durchgeführten Wahl auch erreicht worden. 39
(1.) Insbesondere hat der Landeswahlausschuss – entgegen der Auffassung des Einsprechenden sowie der Beteiligten zu 7. und 8. – nicht eine unzulässige völlige Neuregelung oder Neuberechnung der zwischenbezirklichen Sitzverteilung vorgenommen. Denn er hat nach Ermittlung der auf die jeweiligen Bezirkslisten entfallenden Grundmandate gemäß § 17 Abs. 3 LWG aufgrund der Verweisung durch die Landeswahlordnung wiederum gemäß § 17 Abs. 3 LWG, somit in Anwendung des gleichen Berechnungssystems der mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer, lediglich eine um die Zahl der Ausgleichsmandate (hier um vier) erhöhte Anzahl an Mandaten verteilt mit der Folge, dass die einzelnen Bezirkslisten abhängig von ihrem Zweitstimmenanteil an der Gesamtstimmenzahl (regelmäßig) zumindest ihre bereits errungene Mandatszahl behalten und die zur Verfügung stehenden weiteren (vier) Mandate ebenfalls in Abhängigkeit von dem Stimmenanteil vergeben werden. Im Gegensatz dazu beruhte die der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 21. März 2003 zu Grunde liegende Zuteilung der Ausgleichsmandate auf einem von § 17 Abs. 3 LWG abweichenden Berechnungssystem, bei dem die zu berücksichtigende Zweitstimmenzahl um die Zahl der für Direktmandate anzurechnenden Zweitstimmen vermindert worden war. 40
(2.) Dementsprechend weist auch das vom Landeswahlausschuss in dessen Sitzung vom 5. Oktober 2006 festgestellte endgültige Wahlergebnis nach Verteilung der Ausgleichsmandate keine Verringerung der Anzahl der auf die einzelnen Bezirkslisten entfallenden Mandate auf. Handelte es sich hierbei indessen um ein eher zufällig aufgetretenes Ergebnis eines potentiell erheblich fehlerbehafteten und die oben genannten Grundsätze verletzenden Berechnungsverfahrens, könnte dieses unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten keinen Bestand haben. Das ist indessen nicht der Fall. Zutreffend macht der Einsprechende zwar geltend, dass sich bei Anwendung des Verfahrens in rechnerischen Randbereichen eine von der Verteilung der Grundmandate abweichende Sitzverteilung ergeben kann. Denn dem Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer ist systemimmanent, dass dasselbe Stimmenergebnis bei einer Erhöhung der Gesamtmandatszahl in Ausnahmefällen zu einem Verlust eines Mandats führen kann (sog. „Alabama-Paradoxon“; vgl. die Ausführungen des Landeswahlleiters im Verfahren VerfGH 175/01, Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 73). 41
Dieser Umstand stellt jedoch die Auslegung von § 73 Abs. 6 Buchst. d LWO, § 17 Abs. 3 LWG durch den Landeswahlausschuss nicht grundsätzlich in Frage. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Offenheit der streitgegenständlichen Regelungen im Einzelfall Verfahrensschritte zulässt, mit denen eine Verletzung der dargestellten Grundsätze vermieden werden kann. So ist es mit den Regelungen des Landeswahlgesetzes vereinbar und von der Ermächtigungsnorm gedeckt, wenn in dem Fall, in dem die entsprechend der Berechnung des Landeswahlausschusses vorgenommene Verteilung der Ausgleichsmandate auf die Bezirkslisten bei einer dieser Listen zu einer niedrigeren Mandatszahl im Vergleich zur ursprünglichen Verteilung der Grund- und Überhangmandate nach § 17 Abs. 3 und 4 LWG führte, die betroffene Bezirksliste mit ihrer Zweitstimmenzahl und den bereits zugewiesenen Mandaten (einschließlich etwaiger Überhangmandate) aus der Berechnung genommen und die Berechnung erneut ohne sie durchgeführt würde. 42
Für diese Verfahrensweise fehlt es – entgegen der Auffassung des Einsprechenden – nicht an einer rechtlichen Grundlage. Sie ist vielmehr in der ebenfalls durch die Achte Verordnung zur Änderung der Landeswahlordnung eingeführten Vorschrift des § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 8 LWO angelegt, nach der bei der Zuteilung der Ausgleichsmandate Bezirkslisten übergangen werden, soweit auf sie Überhangmandate entfallen. Hierin kommt der Wille des Verordnungsgebers zum Ausdruck, in diesem Fall das in den vorhergehenden Rechen- und Zuteilungsschritten erlangte Ergebnis nicht wieder in Frage zu stellen und gleichwohl eine disproportionale Verteilung der einer Partei zustehenden Mandate auf die Bezirkslisten dadurch zu vermeiden, dass die entsprechende Bezirksliste aus der Verteilungsberechnung herausgenommen wird. Es kann dabei dahinstehen, ob damit – wie der Beteiligte zu 9. vorträgt – bereits alle denkbaren Fälle des rechnerischen Wegfalls eines zuvor schon zugeteilten Mandats abgedeckt sind; denn dieser Rechtsgedanke ließe sich entsprechend auf die Fälle übertragen, bei denen das Auftreten des „Alabama-Paradoxons“ bei einer Bezirksliste zu einer niedrigeren Mandatszahl im Vergleich zur ursprünglichen Verteilung der Grundmandate führte. 43
In beiden Fällen kann somit durch die Herausnahme der betroffenen Bezirkslisten (einschließlich der auf sie entfallenden Stimmen und Mandate) sichergestellt werden, dass diese ihre bereits aufgrund der vorrangigen gesetzlichen Regelungen erworbenen Mandate behalten. Die Regelung der § 73 Abs. 6 Buchst. d Sätze 7 und 8 LWO i. V. m. § 17 Abs. 3 LWG kann danach gesetzeskonform in der Weise ausgelegt werden, dass die durch die Anwendung von § 17 Abs. 3 und 4 LWG ermittelte ursprüngliche Sitzverteilung beim Anfallen von Überhang- und Ausgleichsmandaten nicht in Frage gestellt bzw. wieder verändert wird (vgl. zu diesem Erfordernis Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 72 f.). 44
ee) Entscheidend für diese Auslegung von § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO spricht, dass sie den im Landeswahlgesetz enthaltenen Grundgedanken, wonach die einer Partei zustehenden Mandate nach dem Verfahren der mathematischen Proportion auf deren Bezirkslisten verteilt werden sollen, folgerichtig weiterführt. Indem an die Berechnung der Grundmandate nach Hare-Niemeyer angeknüpft und diese Berechnung unter Beibehaltung des Systems fortgesetzt wird, ergibt sich eine proportionale Verteilung aller einer Partei zustehenden Mandate auf die Bezirkslisten. Demgegenüber verfehlt die vom Einsprechenden vertretene Auslegung das durch das Landeswahlgesetz vorgegebene Ziel, möglichst alle Mandate einer Partei proportional auf die Bezirkslisten zu verteilen. Da die Ausgleichsmandate in einem von der Zuteilung der Grundmandate vollständig getrennten Rechenschritt auf die Bezirkslisten verteilt werden, fallen sie notwendigerweise den Bezirkslisten mit dem höchsten Zweitstimmenanteil zu. Eine weitere Stärkung gerade derjenigen Wahlkreisverbände, die bereits über die größten Stimmen- und damit Mandatsanteile verfügen, steht jedoch im Widerspruch zur Entscheidung des Landesgesetzgebers, für die Wahl zum Abgeordnetenhaus das Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer zu Grunde zu legen. Im Gegensatz zum Verfahren nach d’Hondt, das tendenziell stärkere Parteien bzw. Listen bevorzugt, wird das Verfahren nach Hare-Niemeyer eher dem Erfolgswert der für kleinere Parteien bzw. Listen abgegebenen Stimmen gerecht (Beschluss vom 21. Februar 2000 – VerfGH 121/99 – JR 2001, 497; Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl. 2002, § 6 Rn. 6a). Da nach der Regelung des § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO i. V. m. § 17 Abs. 3 LWG auch die Zuteilung der Ausgleichsmandate nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren, also nach dem proportionalen Verhältnis der Bezirkslisten, vorzunehmen und keine abweichende gesetzgeberische Wertung zu erkennen ist, widerspricht es dem Gebot der Folgerichtigkeit innerhalb jedes Abschnitts der Wahl (vgl. BVerfGE 1, 208 <246>), diese Regelung dergestalt auszulegen, dass dadurch stärkere Bezirkslisten mit hohen Stimmenanteilen gegenüber schwächeren Bezirkslisten mit kleineren Stimmenanteilen bevorzugt werden. 45
Eine systemgerechte Verteilung der Ausgleichsmandate ist auch im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber geboten. Dieser Grundsatz folgt – mit Einwirkung auch auf das Landesverfassungsrecht – aus Art. 21 des Grundgesetzes (GG) und verbietet jede staatliche Maßnahme, die den Anspruch einer Partei bzw. eines Bewerbers auf die Gleichheit der Chancen im politischen Wettbewerb willkürlich beeinträchtigt (Urteile vom 17. März 1997 – VerfGH 87/95 und VerfGH 90/95 – LVerfGE 6, 32 <39>; vgl. BVerfGE 82, 322 <337 f.>). Zwar wäre im vorliegenden Fall nicht das aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgende Gebot der Gleichheit des Erfolgswertes der Wählerstimmen tangiert; denn bei der Verteilung der Mandate einer Partei auf die Bezirke handelt es sich um einen den Parteienproporz im Abgeordnetenhaus und damit den Erfolgswert der Stimmen nicht beeinflussenden parteiinternen Vorgang (Beschluss vom 31. Juli 1998 – VerfGH 82/95 – LVerfGE 9, 23 <28> und Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 71 f.). Der Landesgesetzgeber ist im Hinblick auf das aktive Wahlrecht zur Wahrung des gleichen Erfolgswertes einer für eine Partei abgegebenen Wählerstimme demgemäß nicht verpflichtet, ein Wahlsystem zu schaffen, das zur gleichmäßigen Repräsentanz der Bezirke im Abgeordnetenhaus führt (Beschluss vom 31. Juli 1998, a. a. O.). 46
Durch die Verteilung der Mandate auf die Bezirkslisten wird jedoch die Chancengleichheit der Wahlbewerber berührt (Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 72). Es wäre mit diesem Gebot unvereinbar, bei der Auslegung wahlrechtlicher Regelungen einem Verfahren den Vorzug zu geben, das zu einer systemwidrigen Verzerrung der Chancen eines auf einer Bezirksliste kandidierenden Wahlbewerbers gegenüber Bewerbern anderer Bezirkslisten führt, wenn eine andere, systemkonforme Auslegung der Regelung möglich ist (vgl. StGH Baden-Württemberg, VBlBW 1991, 133 <137>). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Behandlung unterschiedlicher Bezirkslisten nicht als ein rein parteiinterner Vorgang darstellt, dem sich der Wahlbewerber, wie dies bei der Entscheidung über seine Listenplatzierung der Fall wäre, freiwillig unterworfen hat (vgl. BVerfGE 7, 63 <70 f.>). 47
Eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit von Wahlbewerbern, die auf unterschiedlichen Bezirkslisten kandidieren, erscheint möglich, wenn – wie vom Einsprechenden vertreten – die Zuteilung von Ausgleichsmandaten isoliert, d. h. unabhängig von der bereits erfolgten Verteilung der Grundmandate, in einem Berechnungsverfahren nach Hare-Niemeyer vorgenommen wird. Eine derartige Berechnungsweise hätte, wie dargelegt und aus dem vom Landeswahlleiter veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnis auch ersichtlich, regelmäßig zur Folge, dass die zu vergebenden Ausgleichsmandate den Bezirkslisten wiederum in der gleichen Reihenfolge wie die Grundmandate, d. h. beginnend mit den stimmenstärksten Listen, zugeteilt werden müssten. Hinzu kommt, dass aufgrund der zweimaligen Anwendung des Verfahrens nach Hare-Niemeyer die dort möglichen erheblichen Aufrundungsschritte bei einzelnen Listen zu einem gleich zweifachen Mandatszuwachs führen könnten, der – etwa beim Vergleich zweier nahezu gleich starker Bezirkslisten – dann außer Verhältnis zu den tatsächlichen Stimmenanteilen stünde. So erhielte im Fall der Zuteilung des streitgegenständlichen Ausgleichsmandats an die Bezirksliste Charlottenburg-Wilmersdorf – im Sinne der Auffassung des Einsprechenden – die Bezirksliste bei insgesamt 36.003 erzielten Stimmen fünf Mandate; für ein Mandat müssten demnach 7.200 Stimmen aufgebracht werden. Für die Bezirksliste Marzahn-Hellersdorf des Beteiligten zu 9. verbliebe in diesem Fall lediglich ein Mandat, für das insgesamt 12.658 Stimmen abgegeben worden wären. Demgegenüber sind die erforderlichen Stimmenzahlen bei der vom Landeswahlausschuss vorgenommenen Berechnung deutlich angenähert (Bezirksliste Charlottenburg-Wilmersdorf: 9.000 Stimmen pro Mandat; Bezirksliste Marzahn-Hellersdorf: 6.329 Stimmen pro Mandat). 48
c) Soweit sich der Einsprechende schließlich darauf beruft, die Verfahrensweise des Landeswahlausschusses in dessen Sitzung vom 5. Oktober 2006 habe rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entsprochen, kann dahinstehen, ob der Ausschuss gehalten war, vor seiner Entscheidung den von der strittigen Rechtsfrage betroffenen Bewerbern, und damit auch dem Einsprechenden, Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die unterbliebene Anhörung hat sich jedenfalls nicht ausgewirkt, da die Entscheidung des Landeswahlausschusses – wie dargestellt – auf einer zutreffenden Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Vorschriften beruht. Auch im Übrigen ist kein Verstoß gegen Vorschriften des Grundgesetzes, der Verfassung von Berlin, des Landeswahlgesetzes oder der Landeswahlordnung gegeben, durch den die vom Landeswahlausschuss wahlrechtskonform ermittelte Sitzverteilung rechtswidrig sein könnte. 49
Die Kostenentscheidung beruht auf § 33, § 34 Abs. 2 VerfGHG. 50
Dieses Urteil ist unanfechtbar. 51
Prof. Dr. Sodan, Diwell, Bellinger, Dr. Groth, Knuth, Libera, Dr. Mahlo, Dr. Stresemann, Zünkler

 


Matthias Cantow