Bayerischer Verfassungsgerichtshof

[Wahlprüfung]

Entscheidung vom 18. Juli 2006

Vf. 9-VII-04

 

„Sperrklausel in der Verfassung des Freistaates Bayern “


Entscheidungen 2000–heute

Leitsätze:

Die 5 %-Klausel des Art. 14 Abs. 4 BV verstößt nicht gegen höherrangige Normen der Bayerischen Verfassung. LS 1

Entscheidung

des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 18. Juli 2006
– Vf. 9-VII-04 –

über die Popularklage

des Herrn S. K. in G.
auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit
des Art. 14 Abs. 4 der Verfassung des Freistaates Bayern in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1998 (GVBl S. 991, BayRS 100-1-S), zuletzt geändert durch Gesetze vom 10. November 2003 (GVBl S. 816, 817).

Entscheidungsformel:

Der Antrag wird abgewiesen.

Gründe:

I.

Gegenstand der Popularklage ist Art. 14 Abs. 4 der Verfassung des Freistaates Bayern (BV), der bestimmt:

„Wahlvorschläge, auf die im Land nicht mindestens fünf vom Hundert der insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen entfallen, erhalten keinen Sitz im Landtag zugeteilt.“
1
Die Vorschrift erhielt diese Fassung durch das am 1. August 1973 in Kraft getretene Dritte Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaates Bayern vom 19. Juli 1973 (GVBl S. 389). Sie ersetzte die in der ursprünglichen Fassung der Vorschrift vom 2. Dezember 1946 (BayBS I S. 3) enthaltene Regelung, nach der Wahlvorschläge, auf die nicht mindestens in einem Wahlkreis zehn vom Hundert der abgegebenen Stimmen fielen, keinen Sitz zugeteilt erhielten. 2

II.

Der Antragsteller begründet die Popularklage wie folgt: 3
Die in Art. 14 Abs. 4 BV verankerte 5 %-Sperrklausel verstoße gegen die Demokratie schützende Grundsätze der Verfassung und gegen Grundrechte, insbesondere gegen das Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz des Art. 118 Abs. 1 BV. Eine freie und gleiche Wahl sei nicht mehr gegeben, wenn aus Angst vor der verlorenen Stimme eine andere Partei gewählt werde. Bei der Landtagswahl 2003 in Bayern seien ca. 12 % der abgegebenen Stimmen auf Parteien entfallen, die unter der 5 %-Hürde geblieben seien. Da diese Wähler bei der Mandatsverteilung im Landtag wie Nichtwähler behandelt würden, habe die CSU im Landtag eine Zweidrittelmehrheit erreicht, obwohl sie nur von 34 % der Stimmberechtigten gewählt worden sei. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Sperrklausel im Bundeswahlgesetz als verfassungsgemäß eingestuft habe, könne sie heute nicht mehr aufrechterhalten werden. Im Übrigen habe das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 26. Oktober 2004 (BVerfGE 111, 382) entschieden, dass das Recht der Parteienfinanzierung das Entstehen neuer Parteien nicht über Gebühr erschweren und die Betätigung kleiner Parteien nicht unangemessen beeinträchtigen dürfe. Die Abschaffung der Sperrklausel auf kommunaler Ebene habe zu keiner Gefahr für die Demokratie geführt. Die Angst vor einem Parteienchaos sei aufgrund der Regelungen des Parteiengesetzes und der Wahlgesetze unbegründet. Die dadurch für die Parteien geschaffene Rechtslage sei mit derjenigen in der Weimarer Republik nicht vergleichbar. Das demokratische System erleide großen Schaden dadurch, dass neue politische Ideen in der weitgehend festgefahrenen Parteienlandschaft kaum noch Chancen hätten. Gerade bei zentralen Problemen, wie der demografischen Struktur, der Sanierung der Sozialsysteme und der hohen Arbeitslosigkeit, sei seit Jahren auch aufgrund einer gegenseitigen Blockierung der zwei großen Parteien nichts grundlegend Bewegendes geschehen. Die Rolle alternativer Parteien, die in diesem festgefahrenen Machterhaltungssystem kaum hochkommen könnten, hätten eher die Verfassungsgerichte übernommen. 4

III.

1. Der Bayerische Landtag beantragt, die Popularklage abzuweisen. Er nimmt dabei im Wesentlichen auf die Ausführungen der Bayerischen Staatsregierung Bezug. Im Übrigen verweist er darauf, dass die 5 %-Sperrklausel keineswegs überholt sei. Der Grundsatz, dass eine Demokratie stabile Mehrheiten brauche, gelte auch heute noch. 5
2. Die Bayerische Staatsregierung hält die Popularklage für jedenfalls unbegründet. 6
a) Art. 14 Abs. 4 BV verletze nicht den Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV. 7
aa) Der Grundsatz der Wahlgleichheit komme als Prüfungsmaßstab in Betracht, da er insoweit, als er mit dem allgemeinen Gleichheitssatz übereinstimme, an dessen überpositivem Charakter teilnehme. 8
bb) Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl besage für das aktive Wahlrecht, dass jeder Wähler die gleiche Stimmenzahl habe (Zählwertgleichheit) und jede Stimme bei der Zuteilung von Parlamentssitzen gleichermaßen berücksichtigt werde (Erfolgswertgleichheit). Wegen des Zusammenhangs mit dem egalitären Demokratieprinzip sei der Grundsatz der gleichen Wahl im Sinn einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen. Der Wahlgleichheit beim aktiven Wahlrecht entspreche im Bereich des passiven Wahlrechts der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen. Aus den Grundsätzen der formalen Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien folge, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibe, die zu ihrer Rechtfertigung eines zwingenden Grundes bedürften. Als ein Grund von hinreichend zwingendem Charakter, der Differenzierungen bei der Wahlrechtsgleichheit im System der Verhältniswahl rechtfertige, sei in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wiederholt die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung angesehen worden. 9
cc) Unter Anwendung dieser Grundsätze habe der Verfassungsgerichtshof in den Jahren 1949, 1950, 1952 und 1958 bereits entschieden, dass die damalige, auf Wahlkreise bezogene 10 %-Klausel des Art. 14 Abs. 4 BV verfassungsgemäß sei. Ähnlich habe sich der Verfassungsgerichtshof im Jahr 1986 zur 5 %-Klausel geäußert. Auch das Bundesverfassungsgericht gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass aus staatspolitischen Gründen die Zuteilung von Mandaten an die Erreichung eines Mindesthundertsatzes der Stimmen im ganzen Land (Quorum) gebunden werden könne. 10
dd) Besondere Umstände, die einen Verzicht auf die Sperrklausel des Art. 14 Abs. 4 BV oder ihre Absenkung erforderten, seien nicht ersichtlich. Die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments, der ein hoher Stellenwert eingeräumt werden müsse, wäre bei Wegfall der 5 %-Hürde und damit bei der Zulassung diverser kleiner Parteien möglicherweise nicht mehr hinreichend gewährleistet. Der vom Antragsteller vorgetragene Umstand, dass bei der letzten Landtagswahl in Bayern 12 % aller abgegebenen Stimmen auf Parteien entfallen seien, die die 5 %-Hürde nicht genommen hätten, stelle deren Zweck ebenso wenig in Frage wie eine geringe Wahlbeteiligung. 11
ee) Dass es bei Kommunalwahlen in Bayern keine Sperrklausel gebe, lasse die Verfassungsmäßigkeit des Art. 14 Abs. 4 BV nicht zweifelhaft erscheinen. Die Funktion eines Gemeinderats sei mit der eines Parlaments nicht zu vergleichen. 12
b) Auch ein Verstoß gegen Art. 118 Abs. 1 BV liege nicht vor. Insofern könne dahingestellt bleiben, ob Art. 118 Abs. 1 BV neben dem Grundsatz der Wahlgleichheit noch zur Anwendung kommen könne; jedenfalls verleihe die Norm keine weitergehenden Rechte als Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV. 13

IV.

Die Popularklage ist zulässig. 14
1. Art. 14 Abs. 4 BV kann Gegenstand einer Popularklage sein. Zu den Gesetzen im Sinn des Art. 98 Satz 4 BV zählt auch die Bayerische Verfassung selbst. Dass Art. 14 Abs. 4 BV wegen Verstoßes gegen die Bayerische Verfassung nichtig sein kann, ist nicht deswegen begrifflich ausgeschlossen, weil die Vorschrift selbst Bestandteil der Verfassung ist. Es gibt Verfassungsgrundsätze, die so elementar und so sehr Ausdruck eines auch der Verfassung vorausgehenden Rechts sind, dass sie den Verfassungsgeber selbst binden und dass andere Verfassungsbestimmungen, denen dieser Rang nicht zukommt, wegen eines Verstoßes gegen sie nichtig sein können (vgl. zur verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit des Art. 14 Abs. 4 BV a. F. VerfGH vom 24.10.1958 = VerfGH 11, 127 <132 ff.>; VerfGH vom 15.5.1970 = VerfGH 23, 80 <85>; vgl. auch VerfGH vom 10.10.2001 = VerfGH 54, 109 <159 f.>; Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 4. Aufl. 1992, RdNr. 2 vor Art. 98, RdNr. 8 zu Art. 98). 15
2. Zu den formellen Voraussetzungen einer wie hier gegen eine Verfassungsbestimmung gerichteten Popularklage gehört, dass der Antragsteller angibt, gegen welche höherrangige Grundrechtsnorm der Bayerischen Verfassung sie nach seiner Meinung verstößt (VerfGH vom 30.6.1977 = VerfGH 30, 78 <88>; VerfGH vom 10.4.1979 = VerfGH 32, 56 <63>; VerfGH vom 2.5.1988 = VerfGH 41, 44 <45 f.>). Der Antragsteller hat mit dem von ihm ausdrücklich als verletzt gerügten Gleichheitssatz des Art. 118 Abs. 1 BV ein Grundrecht bezeichnet, das zu den Fundamentalnormen der Bayerischen Verfassung im vorgenannten Sinn gehört. Zugleich zählt der Gleichheitssatz zu den demokratischen Grundgedanken der Verfassung im Sinn des Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV (VerfGH vom 18.10.1974 = VerfGH 27, 153 <158>; Meder, RdNr. 2 vor Art. 98, RdNr. 1 zu Art. 118; vgl. ferner zu Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV VerfGH vom 17.9.1999 = VerfGH 52, 104 <122 ff.>). Der Grundsatz der Wahlgleichheit, auf dessen Verletzung sich der Antragsteller, ohne Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV anzuführen, der Sache nach des Weiteren beruft, nimmt jedenfalls insoweit, als er in seiner konkreten Ausprägung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz übereinstimmt, am überpositiven Rechtscharakter des Gleichheitssatzes teil (vgl. VerfGH 27, 153 <158 f.>; Meder, RdNr. 3 zu Art. 14). Ein Verstoß des Art. 14 Abs. 4 BV gegen Art. 118 Abs. 1 BV und den Grundsatz der gleichen Wahl nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV ist daher vom Rangverhältnis der Normen her denkbar. 16
3. Die Popularklage ist nicht unter dem Gesichtspunkt der Wiederholung einer bereits abgewiesenen Popularklage (vgl. VerfGH vom 11.11.1997 = VerfGH 50, 226 <244>; VerfGH vom 5.3.2001 = BayVBl 2001, 466; VerfGH vom 20.9.2005 = VerfGH 58, 196 <202>) unzulässig. Der Verfassungsgerichtshof hat sich zwar bereits mehrfach mit der Verfassungsmäßigkeit des Art. 14 Abs. 4 BV befasst. Die Entscheidungen vom 10. Juni 1949 (VerfGH 2, 45), vom 12. Oktober 1950 (VerfGH 3, 115), vom 18. März 1952 (VerfGH 5, 66), vom 24. Oktober 1958 (VerfGH 11, 127) und vom 15. Mai 1970 (VerfGH 23, 80) beziehen sich jedoch auf die Vorschrift in ihrer ursprünglichen, bis zum Inkrafttreten des Dritten Gesetzes zur Änderung der Verfassung vom 19. Juli 1973 (GVBl S. 389) am 1. August 1973 geltenden Fassung. Danach erhielten Wahlvorschläge, auf die nicht mindestens in einem Wahlkreis zehn vom Hundert der abgegebenen Stimmen fielen, keinen Sitz im Landtag zugeteilt. Diese Regelung ist mit der hier angegriffenen nicht identisch. In der zuletzt genannten Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof Art. 14 Abs. 4 BV a. F. zudem nicht mehr in der Sache überprüft. Art. 14 Abs. 4 BV in der seit 1. August 1973 geltenden Fassung war noch nicht unmittelbar Gegenstand eines Popularklageverfahrens. In der Entscheidung vom 28. Juli 1986 (VerfGH 39, 75 <80 f.>) ist der Verfassungsgerichtshof zwar im Rahmen einer Popularklage, die u. a. eine in Art. 52 Abs. 2 Satz 1 des Landeswahlgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. März 1974 (GVBl S. 133; BayRS 111-1-I) enthaltene Regelung für die Wahl der Vertreter der Stimmkreise betraf, von der Verfassungsmäßigkeit des Art. 14 Abs. 4 BV n. F. ausgegangen. Die Prüfungsgegenstände dieses und des anhängigen Verfahrens sind aber – jedenfalls formal betrachtet – wiederum nicht identisch. 17

V.

Die Popularklage ist unbegründet. 18
1. Art. 14 Abs. 4 BV verletzt den in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV normierten Grundsatz der Wahlgleichheit nicht. 19
a) Der Grundsatz der Wahlgleichheit ist ein besonderer Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes und hat seinerseits Grundrechtscharakter. Er umfasst den gesamten Wahlvorgang einschließlich der Zuteilung der Mandate auf der Grundlage der gültigen Wählerstimmen. Er besagt, dass alle Wähler möglichst in formal gleicher Weise wählen können und mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Außerdem gewährleistet er die Chancengleichheit der Wahlbewerber. Konkreten Inhalt erhält die Wahlgleichheit in Zusammenhang mit einem bestimmten Wahlsystem, in Bayern also mit dem System eines verbesserten Verhältniswahlrechts (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV). Der Grundsatz der Wahlgleichheit unterscheidet sich vom allgemeinen Gleichheitssatz durch seinen formalen Charakter. Aus der Formalisierung der Wahlgleichheit folgt, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen bleibt; solche Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung besonderer, zwingender Gründe (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 12.8.1994 = VerfGH 47, 184 <190> m. w. N.; BVerfG vom 29.9.1990 = BVerfGE 82, 322 <337 f.> m. w. N.). Als ein Grund von hinreichend zwingendem Charakter, der Differenzierungen bei der Wahlrechtsgleichheit im System der Verhältniswahl rechtfertigt, ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wiederholt die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung angesehen worden (VerfGH 2, 45 <48>; 3, 115 <126 f.>; 5, 66 <75 f.>; 11, 127 <140 ff.>; BVerfG vom 5.4.1952 = BVerfGE 1, 208 <247 f.>; BVerfG vom 11.8.1954 = BVerfGE 4, 31 <40>; BVerfG vom 23.1.1957 = BVerfGE 6, 84 <92>; BVerfG vom 22.5.1979 = BVerfGE 51, 222 <236 f.>; BVerfGE 82, 322 <338>; BVerfG vom 10.4.1997 = BVerfGE 95, 408 <418 ff.>). 20
b) Unter Anwendung dieser Grundsätze hat der Verfassungsgerichtshof entschieden, dass die Regelung in Art. 14 Abs. 4 BV a. F., nach der Wahlvorschläge, auf die nicht mindestens in einem Wahlkreis zehn vom Hundert der abgegebenen Stimmen entfielen, keinen Sitz zugeteilt erhielten, verfassungsgemäß sei (vgl. VerfGH 2, 45 <48>; 11, 127 <140 ff.>). In der erstgenannten Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof hierzu ausgeführt: Das verbesserte Verhältniswahlrecht der Bayerischen Verfassung habe nicht nur den Sinn, jede Wählerstimme streng verhältnismäßig im Parlament abzubilden, sondern auch den Zweck, die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Landtags und der Regierung dadurch zu ermöglichen, dass sich regierungsfähige Mehrheiten im Parlament bilden können. Deswegen beruhten Bestimmungen, die auf ein Zurückdrängen der Splitterparteien gerichtet seien, durchaus auf sachlichen und berechtigten Erwägungen und verstießen nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 118 Abs. 1 BV. In der Entscheidung vom 28. Juli 1986 (VerfGH 39, 75 <81) ist der Verfassungsgerichtshof mit ähnlicher Begründung von der Verfassungsmäßigkeit der hier angefochtenen 5 %-Sperrklausel des Art. 14 Abs. 4 BV n. F. ausgegangen. 21
c) Auch das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 1, 208 <256>; 4, 31 <39 f.>; 6, 84 <92 f.>; 51, 222 <236 ff.>; 82, 322 <338>; 95, 408 <421 ff.>) angenommen, dass zur Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments die Zuteilung von Mandaten an die Erreichung eines Mindesthundertsatzes der Stimmen im ganzen Land gebunden werden kann. Dabei müsse der Gesetzgeber jedoch auch die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration politischer Kräfte sicherstellen und zu verhindern suchen, dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben. In der Regel sei ein Quorum von 5 % verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es müssten besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen, damit ein solches Quorum als unzulässig erachtet werden könnte. Zwar könne die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden. Finde der Wahlgesetzgeber besondere Umstände vor, müsse er ihnen Rechnung tragen. Dabei stehe es ihm grundsätzlich frei, auf eine Sperrklausel zu verzichten, deren Höhe herabzusetzen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen (vgl. BVerfGE 82, 322 <338 f.>). Die vom Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit des Art. 14 Abs. 4 BV ins Feld geführte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Oktober 2004 (BVerfGE 111, 382) betrifft die Parteienfinanzierung; eine Abkehr von der vorangegangenen Rechtsprechung zur Zulässigkeit einer 5 %-Sperrklausel bei der Zuteilung von Parlamentssitzen enthält diese Entscheidung offensichtlich nicht. 22
d) Art. 14 Abs. 4 BV hält der an diesen Grundsätzen ausgerichteten verfassungsgerichtlichen Überprüfung stand. Die 5 %-Sperrklausel führt zwar zu einem unterschiedlichen Erfolgswert der abgegebenen Stimmen. Dies ist aber durch einen besonderen, zwingenden Grund gerechtfertigt. Er liegt in der mit dieser Sperrklausel angestrebten Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments. Diesem Ziel kommt nach wie vor ein hoher Stellenwert zu. Eine Aufspaltung der Volksvertretung in viele kleine Gruppen, die die Bildung einer stabilen Mehrheit erschweren oder verhindern kann, ist eine mögliche Folge des dem Verhältniswahlsystem eigenen Prinzips, den politischen Willen der Wählerschaft in der zu wählenden Körperschaft möglichst wirklichkeitsnah abzubilden (vgl. BVerfGE 82, 322 <338>). Eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung kann deshalb nicht – wie in der Antragsbegründung – mit dem Hinweis darauf in Abrede gestellt werden, dass sich die während der Zeit der Weimarer Republik gegebenen Verhältnisse unter der Geltung des Grundgesetzes und der Bayerischen Verfassung durch die Regelungen des Parteiengesetzes und der Wahlgesetze wesentlich geändert hätten. Insbesondere lässt das Argument des Antragstellers, dass gegenwärtig keine Radikalisierung der Parteien festzustellen sei, die Notwendigkeit, einer Parteienzersplitterung entgegenzuwirken und dadurch die Grundlage für stabile Regierungen zu schaffen, nicht entfallen. Eine sonstige grundlegende Änderung der Verhältnisse, die es im Sinn der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 82, 322 <339>) verbieten könnte, an der 5 %-Sperrklausel unverändert festzuhalten, ist weder vom Antragsteller dargetan worden noch ersichtlich. 23
e) Es trifft zu, dass als Folge der 5 %-Sperrklausel des Art. 14 Abs. 4 BV die Stimmen, die auf die an ihr gescheiterten Parteien entfallen sind, bei der Zuteilung der Sitze im Landtag Parteien zugute kommen, für die sie nicht abgegeben worden sind. Der Auffassung des Antragstellers, dass dies „undemokratisch“ sei, ist jedoch nicht zu folgen. Allerdings kann sie nicht mit dem Argument zurückgewiesen werden, eine Mehrheitswahl könne zu noch sehr viel stärkeren Verzerrungen zwischen Stimmabgabe und Wahlausgang führen. Hat sich der Verfassungsgeber – wie hier – für das Verhältniswahlsystem entschieden, so stellt er sich damit zugleich unter die Gesetze der Verhältniswahl und unterwirft sich der spezifischen Ausprägung, die die Wahlrechtsgleichheit unter dem Verhältniswahlsystem erfahren hat (vgl. BVerfGE 1, 208 <248>; 6, 84 <90>; BVerfG vom 11.10.1972 = BVerfGE 34, 81 <100>). Die 5 %-Sperrklausel des Art. 14 Abs. 4 BV widerspricht dem sich hieraus ergebenden prinzipiellen Gebot des gleichen Erfolgswerts jeder Wählerstimme, wie ausgeführt, jedoch nicht, da sie durch einen besonderen, zwingenden Grund gerechtfertigt ist. Damit ist zugleich eine Verletzung der demokratischen Grundsätze zu verneinen. Dementsprechend hat der Verfassungsgerichtshof in der Entscheidung vom 18. November 1966 (VerfGH 19, 100 <103 f.>) zu Art. 51 Abs. 4 Satz 2 des Landeswahlgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. Juli 1966 (GVBl S. 205) festgestellt, dem Gesetzgeber sei es nicht verwehrt vorzuschreiben, dass unter die 10 %-Sperrklausel des Art. 14 Abs. 4 BV a. F. fallende Stimmen bei der Ermittlung der Sitze ausscheiden, also so angesehen werden, als ob sie nicht abgegeben worden seien. Dass einer Partei mehr Sitze zufallen könnten als dem Anteil der für sie abgegebenen Stimmen an der Gesamtzahl der gültigen Stimmen entspreche, sei durch Art. 14 Abs. 4 BV a. F. gedeckt, der bewusst das starre Verhältniswahlrecht durchbreche und eine zulässige Differenzierung im Rahmen des Grundsatzes der gleichen Wahl bedeute. 24
Es trifft ferner zu, dass bei der Landtagswahl 2003 insgesamt 12 % der abgegebenen Stimmen auf Parteien entfielen, die die 5 %-Hürde nicht nahmen, und als Folge die insoweit erfolgreichen Parteien einen über ihrem Stimmenanteil liegenden Anteil der Sitze im Landtag erhielten. Darin liegt indessen kein im Sinn der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 82, 322 <338 ff.>) besonderer Umstand, der das in Art. 14 Abs. 4 BV vorgesehene Quorum unzulässig werden ließ und dem deshalb vom Gesetzgeber hätte Rechnung getragen werden müssen. Das gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Summe der Stimmenanteile der an diesem Quorum gescheiterten Parteien bereits bei den Landtagswahlen 1994 und 1998 mit 11 % und 12,7 % ähnlich hoch war. Der Blick auf die Ergebnisse der Landtagswahlen seit der Einführung des Quorums von 5 % durch Art. 14 Abs. 4 BV n. F. zeigt, dass die Summe der Stimmenanteile der unter diesem Quorum gebliebenen Parteien auch deutlich niedriger liegen (1974: 2,5 %, 1978: 2,3 %) und nach einem Anstieg (1982: 9,8 %, 1986: 9,2 %) wieder zurückgehen kann (1990: 7,5 %). Davon abgesehen setzt sich die Gesamtzahl der als Folge der 5 %-Sperrklausel nicht berücksichtigten Stimmen aus Stimmen für eine größere Zahl verschiedener Parteien und Wählergruppen zusammen. So errechnet sich beispielsweise der Anteil von 12 % bei der Landtagswahl 2003 aus Stimmenanteilen der Freien Wähler von 4,0 %, der FDP von 2,6 %, der Republikaner von 2,2 %, der ÖDP von 2,0 %, der Bayernpartei von 0,8 % und sechs weiterer Parteien und Wählergruppen von bis zu 0,2 %. Daraus wird deutlich, dass auch eine vergleichsweise hohe Gesamtzahl aufgrund der 5 %-Sperrklausel nicht berücksichtigter Stimmen nicht zwangsläufig einen Ausschluss gewichtiger Anliegen im Volk von der Vertretung im Landtag bedeutet. 25
Der vom Antragsteller hervorgehobene Umstand, dass die CSU bei der Landtagswahl 2003 mit einem Stimmenanteil von ca. 34 % der Wahlberechtigten zwei Drittel der Sitze im Landtag erreicht hat, ist nicht, wie der Antragsteller meint, allein das Ergebnis der 5 %-Sperrklausel des Art. 14 Abs. 4 BV, sondern beruht maßgeblich auch auf der bei dieser Wahl besonders niedrigen Wahlbeteiligung von 57,1 %. Dass diese niedrige Wahlbeteiligung ihrerseits auf die Regelung des Art. 14 Abs. 4 BV zurückzuführen ist, ist nicht belegt. Die Wahlbeteiligungen bei den seit Einführung dieser Regelung durchgeführten weiteren Landtagswahlen, die zwischen 65,9 % bei der Wahl von 1990 und 78,0 % bei der Wahl von 1982 lagen, weisen vielmehr in eine andere Richtung. 26
f) Dass es bei Kommunalwahlen in Bayern keine Sperrklausel gibt, stellt die Verfassungsmäßigkeit des Art. 14 Abs. 4 BV nicht in Frage. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits entschieden (VerfGH 5, 66), dass die für die Verfassungsmäßigkeit der 10 %-Sperrklausel bei Landtagswahlen nach Art. 14 Abs. 4 BV a. F. angeführten Erwägungen auf Gemeinderatswahlen nicht zuträfen, und deshalb Art. 24 Abs. 4 des Gemeindewahlgesetzes vom 16. Februar 1952 (GVBl S. 49), wonach Wahlvorschläge, auf die nicht mindestens 5 % der abgegebenen gültigen Stimmen fielen, keinen Sitz zugeteilt erhielten, wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des gleichen Wahlrechts nach Art. 14 Abs. 1 BV für nichtig erklärt. Der Gemeinderat sei nach seinem Aufgabenkreis kein Parlament. Er habe keine „Regierung“ zu bilden; der erste Bürgermeister werde unmittelbar von den stimmberechtigten Gemeindeeinwohnern gewählt. Bestand und Funktion der gemeindlichen Verwaltungsorgane seien gesichert, auch wenn die „Splitterparteien“ nicht durch eine 5 %-Sperrklausel ferngehalten würden. Eine Zwangslage, die es rechtfertige, „den die Splitterparteien ausmachenden Wählern die Auswirkung ihres Wählerwillens zu unterbinden“ und damit den Grundsatz der Gleichheit des Wahlrechts zu durchbrechen, bestehe deshalb – im Gegensatz zu den Landesparlamenten – nicht (VerfGH 5, 66 <76 f.>). Aus dem Fehlen einer Sperrklausel im Kommunalwahlrecht lässt sich danach kein Argument gegen eine solche im Landtagswahlrecht ableiten (vgl. auch BVerfGE 51, 222 <237> m. w. N.). 27
g) Gegen die 5 %-Sperrklausel sind in Teilen des Schrifttums Bedenken geäußert worden. Sie betreffen indessen durchwegs nicht die grundsätzliche Zulässigkeit einer Sperrklausel, sondern ihre auf 5 % festgesetzte Höhe. Es wird bezweifelt, ob es zur Verhinderung einer die Arbeitsfähigkeit eines Parlaments beeinträchtigenden Parteienzersplitterung unter den gegebenen Verhältnissen noch erforderlich ist, die Zuteilung von Sitzen an eine Partei oder Wählergruppe davon abhängig zu machen, dass sie bei der Wahl einen Stimmenanteil von 5 % erreicht (vgl. etwa Achterberg/Schulte in v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, RdNrn. 137 f. zu Art. 38; Grimm in Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 14 RdNr. 44; Meyer in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2004, Bd. III, § 46 RdNrn. 27 ff.; Morlok in Dreier, Grundgesetz, 1998, RdNr. 104 zu Art. 38; Trute in von Münch/Kunig, Grundgesetz, 5. Aufl. 2001, RdNr. 59 zu Art. 38). Die hierfür vorgebrachten Gesichtspunkte sind in der oben angeführten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aber bereits abgewogen worden. Als Ergebnis dieser Abwägung ist ein Quorum von 5 % unter dem Blickwinkel der Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments für regelmäßig mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit vereinbar erachtet worden. Die erwähnten kritischen Äußerungen geben deshalb keinen Anlass, auf die Frage der Erforderlichkeit der in Art. 14 Abs. 4 BV bestimmten Höhe des Quorums im Rahmen der hier allein anstehenden Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift nochmals näher einzugehen. Ob der Verfassungsgeber mit diesem Quorum die zweckmäßigste und rechtspolitisch vernünftigste Lösung gefunden hat, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu überprüfen. 28
2. Da Art. 14 Abs. 4 BV der verfassungsgerichtlichen Prüfung am Maßstab der Wahlgleichheit standhält, verstößt er auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 118 Abs. 1 BV (vgl. VerfGH vom 18.12.1975 = VerfGH 28, 222 <241>; VerfGH vom 2.2.1984 = VerfGH 37, 19 <25>). Der allgemeine Gleichheitssatz verbietet nicht Differenzierungen, die durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt sind. Solche liegen, wie dargelegt, der in Art. 14 Abs. 4 BV enthaltenen 5 %-Sperrklausel zugrunde. 29

VI.

Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). 30

 


Matthias Cantow