Verwaltungsgericht Weimar

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 13. Juli 2005

6 K 5804/04.We

 

„Sperrklausel im Kommunalwahlgesetz Thüringen“


Entscheidungen 2000–heute

Beschluss

des Verwaltungsgerichtes Weimar
– 6 K 5804/04 We –

In der Verwaltungsrechtssache

der X,
99423 Weimar,
– Klägerin –
gegen
den Freistaat Thüringen,
vertreten durch den Präsidenten des Thüringer Landesverwaltungsamtes,
Weimarplatz 4,
99423 Weimar,
– Beklagter –
beigeladen:
die Stadt Weimar,
vertreten durch den Oberbürgermeister,
Schwanseestraße 17,
99423 Weimar,
wegen
Kommunalwahlrechts
hat die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Weimar durch
Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Packroff,
Richter am Verwaltungsgericht Schmitt,
Richter am Verwaltungsgericht Erlenkämper,
ehrenamtlicher Richter,
ehrenamtliche Richterin,
am 13. Juli 2005 beschlossen:

Entscheidungsformel:

Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird eine Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofes eingeholt, ob die Vorschrift des § 22 Abs. 2 Thüringer Kommunalwahlgesetz vom 16.08.1993 (GVBl. Seite 530), in der Fassung des 1. Änderungsgesetzes vom 25.03.1994 (GVBl. Seite 358) mit der Verfassung des Freistaats Thüringen vereinbar ist.

Gründe

I.

Mit der Klage ficht die Klägerin die Wahl der Mitglieder des Stadtrates der Stadt Weimar an. Die Wahl fand am 27.06.2004 statt. Es wurden 63.642 gültige Stimmen abgegeben. Davon entfielen auf den Wahlvorschlag der X, zu dem auch die Klägerin gehörte, weniger als 5 % der abgegebenen gültigen Stimmen, nämlich 2811 oder 4,417 %. Der Wahlausschuss berücksichtigte unter Anwendung des § 22 Abs. 2 des Thüringer Kommunalwahlgesetzes – ThürKWG – den Wahlvorschlag der X nicht. 1
§ 22 Abs. 1 und 2 ThürKWG lautet: 2
(1) Die Sitze der Gemeinderatsmitglieder werden auf die Wahlvorschläge wie folgt verteilt: Die Zahl der zu vergebenden Sitze, vervielfacht mit der Gesamtzahl der für die Bewerber des einzelnen Wahlvorschlags abgegebenen Stimmen, wird durch die Gesamtzahl der für die Bewerber aller Wahlvorschläge abgegebenen Stimmen geteilt. Jeder Wahlvorschlag erhält zunächst so viele Sitze, wie ganze Zahlen auf ihn entfallen. Danach zu vergebene Sitze sind in der Reihenfolge der höchsten Zahlenbruchteile zuzuteilen. Bei gleichen Zahlenbruchteilen entscheidet das Los. Erhält bei der Verteilung der Sitze nach den Sätzen 1 bis 4 der Wahlvorschlag, auf den mehr als die Hälfte der für die Bewerber aller Wahlvorschläge abgegebenen Stimmen entfallen ist, nicht mehr als die Hälfte der zu vergebenden Sitze, wird ihm von den nach Zahlenbruchteilen zu vergebenden Sitzen abweichend von den Sätzen 3 und 4 zunächst ein weiterer Sitz zugeteilt. Danach zu vergebende Sitze werden wieder nach den Sätzen 3 und 4 zugeteilt.
3
(2) Bei der Verteilung der Sitze nach Absatz 1 werden nur Wahlvorschläge berücksichtigt, die mindestens fünf vom Hundert der insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben; dies gilt auch im Falle der Listenverbindung.
4
Das Wahlergebnis wurde im Amtsblatt der Stadt Weimar am 04.07.2004 bekannt gemacht. Mit auf den 19.07.2004, einen Montag, datiertem Telefax legte die Klägerin gegen das Ergebnis „Widerspruch nach § 31 ThürKWG“ ein. Das in den vorgelegten Behördenakten befindliche Telefax trägt keinen Eingangsvermerk. Als Absendezeitpunkt ist maschinell darauf vermerkt: „19-Jul-04 15:58“. Das Original des Schriftsatzes ist am 20.07.2004 bei der Behörde eingegangen. Zur Begründung führte die Klägerin im Wesentlichen aus, die 5 % Sperrklausel des § 22 Abs. 2 ThürKWG beeinträchtige die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien. Diese Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt. Der Thüringer Gesetzgeber habe es versäumt, die Richtigkeit der Regelung zu überprüfen. Die Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit müsse aber die Verhältnisse des Landes berücksichtigen für das sie gelten solle. Dies sei in Thüringen versäumt worden. 5
Mit Bescheid vom 22.07.2004 – der Klägerin bekannt gegeben am 29.07.2004 – wies das Thüringer Landesverwaltungsamt die Wahlanfechtung der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, eine Verletzung der Bestimmungen des ThürKWG bzw. der ThürKWO sei nicht zu erkennen. Zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmungen sei die Rechtsaufsichtsbehörde nicht befugt. 6
Am 27.08.2004 hat die Klägerin Klage erhoben. 7
Sie beruft sich auf Verfassungswidrigkeit des § 22 Abs. 2 ThürKWG. 8
Die Klägerin hat schriftsätzlich angekündigt zu beantragen,
unter Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 22.07.2004 zum Aktenzeichen 240.1-1368-001/04-WE die Wahl für ungültig zu erklären,
hilfsweise, das Wahlergebnis zu berichtigen.
9
Der Beklagte hat angekündigt zu beantragen,
die Klage abzuweisen.
10
Er ist der Ansicht, es sei bereits fraglich, ob im Rahmen einer Wahlanfechtungsklage die Verfassungsmäßigkeit des § 22 Abs. 2 ThürKWG (5 %-Sperrklausel) entscheidungserheblich sei. Gemäß § 31 Abs. 1 ThürKWG könne die Feststellung des Wahlergebnisses angefochten werden wegen Verletzung der Bestimmungen des Thüringer Kommunalwahlgesetzes und der Thüringer Kommunalwahlordnung (Wahlvorschriften). Vorliegend werde nicht die Verletzung einer solchen Wahlvorschrift geltend gemacht. Im Gegenteil werde die Wahlanfechtung darauf gestützt, dass eine Bestimmung des Thüringer Kommunalwahlgesetzes (§ 22 Abs. 2 ThürKWG) beachtet worden sei. § 31 Abs. 1, Abs. 2 Sätze 2 bis 4 ThürKWG gäben wohl auch für das Verwaltungsgericht den Prüfungsrahmen vor, so dass eine Wahlanfechtungsklage nur dann Erfolg haben könne, wenn sich die Anfechtung auf einen Verstoß gegen Wahlvorschriften im o.g. Sinne beziehe. Gegen die Annahme, dass im Rahmen einer Wahlanfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit des beachteten § 22 Abs. 2 ThürKWG entscheidungserheblich sein könnte, so dass eine Vorlage an das Verfassungsgericht in Betracht käme, spreche auch die gesetzgeberische Intention, im Wahlanfechtungsverfahren baldmöglichst über die Gültigkeit einer Wahl Klarheit zu schaffen. 11
Dies könne allerdings aus Sicht des Beklagten dahinstehen, da § 22 Abs. 2 ThürKWG verfassungsgemäß sei. Bei der Beurteilung der Frage, ob und inwieweit Beschränkungen der Wahlrechtsgleichheit zulässig seien, sei zunächst zu beachten, dass das Grundgesetz den Ländern kein bestimmtes Wahlsystem bei der Ausgestaltung der Landes- und Kommunalwahlgesetze vorschreibe. Die Länder träfen selbst die Entscheidung zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht bzw. einer personalisierten Verhältniswahl und der konkreten Ausgestaltung des jeweiligen Wahlsystems. Beide Wahlsysteme – Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht – sollten stabile parlamentarische Mehrheiten ermöglichen. Das Mehrheitswahlsystem schaffe stabile Mehrheitsverhältnisse zu Lasten der Gleichheit des Ergebniswerts der Wählerstimmen. Das Verhältniswahlsystem, dass das Aufkommen kleiner Parteien begünstige, könne dagegen stabile Mehrheitsverhältnisse nur unter Inkaufnahme von gewissen Modifizierungen wie Sperrklauseln erreichen. Für eine Modifizierung in Form von Sperrklauseln, wie sie sich im Bundeswahlgesetz und in den Landeswahlgesetzen befänden, bedürfe es einer besonderen Rechtfertigung. Ein solcher rechtfertigende Grund für Abweichungen von der Regel der formalen Wahlrechtsgleichheit bilde vor allem die Funktionsfähigkeit des Parlaments, die dadurch gefährdet werden könne, dass gesetzgebende Körperschaften in kleine Gruppen zerfielen und insbesondere nicht mehr fähig seien, eine politisch aktionsfähige Regierung zu bilden. Auch im Kommunalwahlrecht könnten Sperrklauseln zulässig sein, um die Funktionsfähigkeit der kommunalen Selbstverwaltung sicherzustellen. Hierbei sei nicht nur ein einzelner Faktor wie die Direktwahl des Bürgermeisters/Landrats, sondern die Gesamtheit der Umstände der kommunalen Aufgabenbewältigung des konkreten Landes zu berücksichtigen, dessen Gesetzgeber sich für die Sperrklausel entschieden habe. Nach der Thüringer Kommunalordnung sei der Gemeinderat/Kreistag das Organ der Gemeinde/des Landkreises, das grundsätzlich für die Beschlussfassung über die Aufgaben des eigenen Wirkungskreises zuständig sei. Grundlegende Entscheidungen in diesem Bereich seien vom Gemeinderat/Kreistag zu treffen, nicht vom Bürgermeister/Landrat. Zwar werde in Thüringen der Bürgermeister/Landrat nicht vom Gemeinderat/Kreistag, sondern direkt von den Bürgern gewählt. Dennoch habe der Gemeinderat/Kreistag maßgeblichen Einfluss auf die Besetzung der Leitung der Gemeindeverwaltung/des Landratsamts. Dem Gemeinderat/Kreistag obliege die Wahl der Beigeordneten, der Gemeinderat/Kreistag könne die Beigeordneten abberufen. Es liege in der Hand des Gemeinderats/Kreistags, ein Verfahren zur Abwahl des Bürgermeisters/Landrats einzuleiten. Darüber hinaus bedürften Personalentscheidungen, die Beamte und Angestellte in herausgehobenen Positionen beträfen, der Zustimmung des Gemeinderats/Kreistags bzw. des zuständigen Ausschusses. Hinzu komme die Mitwirkung bei staatlichen Verfahren wie der Schöffenwahl (Aufstellung der Vorschlagslisten durch die Gemeinden, Wahl der Vertrauenspersonen durch die Kreistage). Die Erfüllung ihrer Aufgaben sollten die kommunalen Vertretungsorgane in eigener Verantwortung wahrnehmen ohne korrigierende Einwirkung der staatlichen Aufsicht. Hierzu bedürfe es in den kommunalen Vertretungen, genauso wie im Landtag und Bundestag, stabiler Mehrheiten. Thüringen habe sich für das Verhältniswahlrecht mit einer Sitzverteilung nach dem mathematischen Proporzverfahren nach Hare/Niemeyer entschieden, das kleinere Gruppen begünstige. Zudem werde nicht nur die Teilnahme von Parteien, sondern auch von örtlichen Wählergruppen zugelassen, was ebenfalls zur Bildung von Splittergruppierungen beitrage. Die zur Aufgabenerfüllung erforderlichen stabilen Mehrheiten werden durch die 5 %-Sperrklausel im Thüringer Kommunalwahlgesetz gewährleistet. Allein schon die abstrakte Gefahr instabiler Mehrheitsverhältnisse und die möglichen Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit rechtfertige die 5 %-Sperrklausel. Der Gesetzgeber müsse mit der Einführung einer 5 %-Sperrklausel zum Schutz der Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungsorgane (Gemeinderat/Kreistag) nicht so lange warten, bis Funktionsstörungen erstmals tatsächlich eingetreten seien. Insoweit gelte im Kommunalwahlrecht nicht anderes als für die Wahl des Landtags und des Bundestags. In Anbetracht der weit reichenden Aufgaben und Kompetenzen des Gemeinderats/des Kreistags sei es damit nicht entscheidend, dass in Thüringen der Bürgermeister/Landrat direkt durch die Bürger gewählt werde. Anders als in anderen Bundesländern habe der Thüringer Gesetzgeber die 5 %-Sperrklausel im Kommunalwahlgesetz (§ 22 Abs. 2 ThürKWG vom 16.08.1993) auch zeitgleich mit den Regelungen über die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte beschlossen (§§ 24 Abs. 1, 28 Abs. 1 ThürKWG vom 16.08.1993 und §§ 28 Abs. 3, 106 Abs. 2 ThürKO vom 16.08.1993), eine nachträgliche Änderung der kommunalverfassungsrechtlichen Grundlagen sei nicht erfolgt. 12
Die Beigeladene hat bislang keinen Antrag angekündigt und sich auch zur Sache nicht geäußert. 13

II.

Die Kammer entscheidet entgegen § 5 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter, weil in der Sache durch Urteil zu entscheiden ist und weil die Frage, ob die bei der Sachentscheidung anzuwendende Norm mit der Verfassung des Freistaates Thüringen vereinbar ist, mit der Urteilsfindung in engem Zusammenhang steht (vgl. in diesem Zusammenhang BVerfG, Beschlüsse vom 07.10.1970 – 1 BvL 22/70 – BVerfGE 29, 178 f., vom 23.07.1963 – 1 BvL 6/61 – BVerfGE 16, 305 f. und vom 23.11.1951 – 1 BvL 14/51 – BVerfGE 1, 80 ff.). Ferner ergeht die Entscheidung in Anlehnung an das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.01.1971 (VII C 42.70 – BVerwGE 37, 116 f.) ohne Beiladung der Landesregierung. 14
Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. Grundgesetz – GG – ist, im Falle, dass ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält, das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes einzuholen. 15
Hier hält die Kammer § 22 Abs. 2 Thüringer Kommunalwahlgesetz vom 16.08.1993 (GVBl. Seite 530), in der Fassung des 1. Änderungsgesetzes vom 25.03.1994 (GVBl. Seite 358) – ThürKWG – für nicht mit der Verfassung des Freistaats Thüringen – ThürVerf – vereinbar. Die Vorschrift bestimmt, dass im Rahmen einer Verhältniswahl der Gemeinderatsmitglieder bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlvorschläge nur Wahlvorschläge berücksichtigt werden, die mindestens 5 % der insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben. 16
Damit verstößt § 22 Abs. 2 ThürKWG gegen die Verfassung des Freistaates Thüringen und zwar gegen die aus dem Demokratieprinzip zu entnehmenden Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit. Zwar bezieht sich Art. 46 Abs. 1 ThürVerf nach seinem Wortlaut nur auf (Landtags-)Wahlen nach Art. 49 Abs. 1 ThürVerf und Abstimmungen nach Art. 82 Abs. 6 ThürVerf (Volksbegehren und Volksentscheid). Art. 95 Satz 1 ThürVerf, der im Wesentlichen die Normativbestimmung des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG wiedergibt, bindet zunächst nur den Gesetzgeber. Die Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit können auch nicht als Erscheinungsform des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 2 Abs. 1 ThürVerf) gewertet werden. Als Ausfluss des demokratischen Prinzips gelten die in Art. 46 Abs. 1, 95 Satz 2 ThürVerf umschriebenen Wahlrechtsgrundsätze aber als allgemeine Rechtsprinzipien für politische Wahlen zu allen demokratischen Repräsentativorganen im staatlichen wie auch im kommunalen Bereich. Insoweit binden die Wahlrechtsgrundsätze nicht nur – als objektives Recht – die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtsprechung, es handelt sich darüber hinaus auch um subjektiv-öffentliche Rechte der Wähler und Wahlbewerber. Aus dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl folgt, dass jedermann sein aktives und passives Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise ausüben können soll und die Stimmen der Wahlberechtigten beim Verhältniswahlsystem nicht nur den gleichen Zählwert, sondern grundsätzlich auch den gleichen Erfolgswert haben sollen (ThürVerfGH, Urteil vom 11.03.1999 – VerfGH 30/97 – NVwZ-RR 1999, 665 m.w.N.). 17
§ 22 Abs. 2 ThürKWG schränkt diese Grundsätze ein. Zu der Frage, unter welchen Umständen eine solche Einschränkung – bei Bundestagswahlen – verfassungsrechtlich zulässig ist hat das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit ausgeführt: 18
"Aus dem Grundsatz der Erfolgswertgleichheit bei der Verhältniswahl folgt, dass dem Gesetzgeber für Differenzierungen des Erfolgswerts der Wählerstimmen nur ein eng bemessener Spielraum verbleibt (…). Differenzierungen sind nur unter Voraussetzungen gerechtfertigt, die das Bundesverfassungsgericht seit seiner Entscheidung im Jahre 1952 (BVerfGE 1, 208, 248 f) in der Formel eines "zwingenden Grundes" zusammenfasst" (BVerfG, Urteil vom 10.04.1997 – 2 BvC 3/96 – BVerfGE 95, 408, 417 f. – zur Bundestagswahl 1994).
19
und:
"Aus den Grundsätzen der formalen Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien folgt mithin, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts zu politischen Körperschaften nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. Diese bedürfen hier stets zu ihrer Rechtfertigung eines zwingenden Grundes. Als ein Grund von hinreichend zwingendem Charakter, der Differenzierungen bei der Wahlrechtsgleichheit im System der Verhältniswahl rechtfertigt, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wiederholt die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung angesehen worden (vgl. etwa BVerfGE 1, 208, 247 f.; 4, 31, 40; 6, 84, 92, 93 f.; 51, 222, 236). Das dem Verhältniswahlsystem eigene Prinzip, den politischen Willen der Wählerschaft in der zu wählenden Körperschaft möglichst wirklichkeitsnah abzubilden, kann eine Aufspaltung der Volksvertretung in viele kleine Gruppen zur Folge haben, die die Bildung einer stabilen Mehrheit erschweren oder verhindern würde. Soweit es zur Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments geboten ist, darf der Gesetzgeber deshalb bei der Verhältniswahl den Erfolgswert der Stimmen unterschiedlich gewichten" (BVerfG, Urteil vom 29.09.1990 – 2 BvE 1/90, 2 BvE 3/90, 2 BvE 4/90, 2 BvR 1247/90 – BVerfGE 82, 322, 338- zur Bundestagswahl 1990).
20
Im Bereich von Kommunalwahlen hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahre 1957 eine Rechtfertigung für eine solche Einschränkung durch Sperrklauseln gefordert und für die dort in Rede stehende Vorschrift des § 30 Abs. 6 des Kommunalwahlgesetzes von Nordrhein-Westfalen vom 12. Juni 1954 einen zureichenden, aus der Natur der Sache sich ergebenden Grund gesehen: 21
„1. Es ist ein soziologisches Faktum, dass die auf Landes- und Bundesebene bestehenden politischen Parteien nach 1945 in den Gemeinden stärker Fuß gefasst haben, als dies vor 1933 der Fall war. Diesem Faktum tragen alle Kommunalwahlgesetze Rechnung, indem sie davon ausgehen, dass auch Kommunalwahlen "politische" Wahlen sind, die im wesentlichen in der Vorbereitung und Durchführung von den politischen Parteien getragen werden, die auch in der Landes- und Bundespolitik eine Rolle spielen. So sind die politischen Parteien als die "eigentlichen motorischen Kräfte der Kommunalwahlen und darüber hinaus der Kommunalpolitik" bezeichnet worden (Köttgen, Gemeindeverfassungsrecht in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, im Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, herausgegeben von Hans Peters, Bd. I S. 360 <368>; Hans Peters, Kommunalwissenschaften und Kommunalpolitik, ebenda, Bd. I S. 1 <12>). Die politischen Parteien haben in Nordrhein-Westfalen das gesetzliche Monopol für die Wahl auf Grund der Reserveliste (§ 17 KWG), das sich auch in anderen Kommunalwahlgesetzen findet. Die "Verfassungswirklichkeit" ist also so, dass auch die Kommunalpolitik von den politischen Parteien maßgeblich gesteuert wird und dass hierbei wieder den großen politischen Parteien die Führungsrolle zukommt. Man kann dagegen nicht einwenden, dass der überwiegende Teil der in den Gemeinden und Gemeindeverbänden auftauchenden kommunalpolitischen Fragen nicht grundsätzlicher – "weltanschaulicher" – Art ist, sondern weitgehend nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit entschieden werden muss. Die politische Partei versucht eben jeweils, die divergierenden Meinungen der verschiedenen Interessentengruppen in ihren Reihen zu einer einheitlichen Meinung zusammenzuführen. In der Regel beteiligen sich alle Parteien, die für die Landtagswahlen Kandidaten aufstellen, auch an den Kommunalwahlen. Wenn aber eine Wahl vorwiegend Parteienwahl ist und das Wahlrecht überwiegend nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gestaltet ist, so können auch auf kommunaler Ebene Splitterparteien in Erscheinung treten.
22
2. Es bleibt zu prüfen, ob das Auftreten von Splitterparteien zu einer Störung der Funktionen der gewählten kommunalen Vertretungskörperschaften führen kann. Dazu muss untersucht werden, welche Funktionen diese gewählten Vertretungskörperschaften haben. (…) Es kommt also darauf an, ob das Vorhandensein von Splitterparteien dazu führen kann, dass der Rat diese seine Funktionen nicht ordnungsmäßig ausüben kann, dass insbesondere eine ordnungsmäßige Erledigung der Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung nicht mehr gewährleistet ist. dass der Rat weder gesetzgeberische Funktionen im eigentlichen Sinne hat noch eine "Regierung" bilden muss, ist für die Entscheidung dieser Frage unerheblich. (…) Das vom Grundgesetz so stark herausgestellte und ausdrücklich garantierte Prinzip der Selbstverwaltung ist also nur dann voll verwirklicht, wenn der Rat als Verwaltungsorgan normal funktionieren kann, d. h. wenn er ohne Eingreifen der Kommunalaufsicht eigenverantwortlich über Gemeindeangelegenheiten Beschluss fasst und die notwendigen Wahlen (Bürgermeister, Gemeindedirektor, Ausschüsse) vornimmt. Gerade dieses normale Funktionieren, auf das es allein ankommt, kann aber durch das Vorhandensein von Splitterparteien ebenso gestört werden wie das normale Funktionieren eines Parlaments" (BVerfG, Urteil vom 23.01.1957 – 2 BvF 3/56 – BVerfGE 6, 104, 114 ff., 118).“
23
Der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen hat die Sperrklausel (mittlerweile § 33 Abs. 1 KWahlG) dann aber mit Urteil vom 06.07.1999 (Aktenzeichen 14/98 und 15/98) für verfassungswidrig erklärt. Der Gesetzgeber habe sie ohne hinreichende Begründung beibehalten. Das Bundesverfassungsgericht habe durch Urteil vom 23. Januar 1957 festgestellt, für Nordrhein-Westfalen und für die damaligen Verhältnisse sei die Sperrklausel in dem seinerzeit geltenden Kommunalwahlgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. In seinem Urteil vom 29.09.1994 habe der Verfassungsgerichtshof jedoch festgestellt, dass die Verhältnisse sich seither wesentlich geändert hätten. Das Bundesverfassungsgericht habe die Erforderlichkeit der Sperrklausel gerade mit Blick auf die Aufgabe des Rates gerechtfertigt, den Hauptverwaltungsbeamten zu wählen. Diese wesentliche Funktion könnten die kommunalen Vertretungskörperschaften bei Auftreten von Splitterparteien nicht mehr ordnungsgemäß ausüben. Die geänderte Kommunalverfassung sehe aber nunmehr die Wahl der Hauptverwaltungsbeamten unmittelbar durch die Bürger vor. Die Annahme der drohenden Funktionsunfähigkeit der Kommunalvertretung ohne Sperrklausel enthalte eine Aussage über eine hypothetische Entwicklung, stelle also eine Prognose dar. Der Gesetzgeber müsse hierfür alle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht für die Einschätzung der weiteren Erforderlichkeit einer Sperrklausel erheblichen Gesichtspunkte heranziehen und abwägen. Der Gesetzgeber habe zum einen die Aufgaben zu ermitteln und zu bewerten, welche den Kommunalvertretungen (Rat und Kreistag) nach der Änderung der Kommunalverfassung verblieben sind. Er müsse diesen Befund mit dem Befund in anderen Ländern, deren Kommunalwahlrecht keine Sperrklausel kenne, vergleichen, d.h. auf Entsprechungen und Unterschiede untersuchen. Der Gesetzgeber müsse zum anderen abschätzen, wie es um die Erfüllung der Aufgaben angesichts der Landesstruktur, des bürgerschaftlichen Engagements, des Verhaltens einzelner Personen, Gruppen und Fraktionen und angesichts einer möglichen Zersplitterung in den Kommunalvertretungen stehen werde. Der Gesetzgeber müsse sich um die Erfassung und Verarbeitung der Empirie bemühen, etwa zur Bedeutung von direkt gewählten parteiungebundenen Einzelbewerbern oder zur Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit der Kommunalvertretungen durch kleine Parteien oder Gruppen. Auch hier müsse er seine Abschätzungen mit den Erfahrungen der Länder ohne Sperrklausel vergleichen. Der Gesetzgeber dürfe sich bei alledem nicht mit einer abstrakten, gewissermaßen schematischen Beurteilung begnügen. Für eine hinreichende Prognose reiche nicht aus, dass bei abstrakter Betrachtung die theoretische Möglichkeit nicht auszuschließen sei, der Wegfall einer 5 %-Sperrklausel könne zum Einzug zahlreicher kleiner Parteien und Wählervereinigungen in die Kommunalvertretungen führen und dadurch die Bildung der notwendigen Mehrheiten für Beschlussfassungen und Wahlen erschweren oder gar verhindern. Die Prognose müsse nachvollziehbar begründet und auf tatsächliche Entwicklungen gerichtet sein, deren Eintritt der Gesetzgeber bei einem Wegfall der Sperrklausel konkret erwarte. Erst diese konkret zu erwartenden tatsächlichen Entwicklungen liefern die Grundlage für eine sich anschließende Bewertung als Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit. Bei der prognostischen Beurteilung der Funktionsfähigkeit der Selbstverwaltung dürfe der Gesetzgeber diese zwar nicht darum als sichergestellt voraussetzen, weil sie mit den Mitteln der Staatsaufsicht in Gang gehalten werden kann. Er dürfe die Sicherungen des Kommunalrechts gegen Funktionsstörungen der Gemeinde- und Kreisverwaltungen aber auch nicht unberücksichtigt lassen. Der Gesetzgeber dürfe nicht bei der zutreffenden Feststellung stehen bleiben, ohne Sperrklausel begünstige das Verhältniswahlrecht das Aufkommen kleiner Parteien und Wählergruppen. Nicht ausreichend sei die daran anknüpfende und durchaus plausible Erwägung, dass es in aller Regel zu einer schwerfälligeren Meinungsbildung führe, wenn in einer Kommunalvertretung ein erweiterter Kreis von Fraktionen und Gruppen mitwirke. Diese Schwerfälligkeit in der Meinungsbildung dürfe der Gesetzgeber nicht mit einer Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit gleichsetzen. Vielmehr seien weitergehende Feststellungen zu treffen, bevor die Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungskörperschaften als gefährdet angesehen werden könne. Selbst wenn der Gesetzgeber die Gefahr von Funktionsstörungen prognostiziere, dürfe er die Sperrklausel nicht ohne weiteres beibehalten. Drohten Funktionsstörungen nur in einzelnen Kommunalvertretungen, müsse die Sperrklausel gegen die Bedeutung der Wahlrechts- und Chancengleichheit für alle Kommunalvertretungen abgewogen werden (NWVerfGH, Urteil vom 06.07.199914/98, 15/98NVwZ 2000, 666, 667 f.). 24
Der Verfassungsgerichtshof Mecklenburg-Vorpommern hat mit Urteil vom 14.12.2000 (LVerfG 4/99LKV 2001, 270 ff.) die dortige Sperrklausel (§ 37 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 MVKommWahlG) für verfassungswidrig erklärt und dazu ausgeführt, Sperrklauseln beeinträchtigten das Recht auf Chancengleichheit, indem sie Parteien oder Wählergruppen die das festgesetzte Quorum nicht erfüllten, von der Sitzzuteilung in der zu wählenden Volksvertretung ausschlössen. Das Bundesverfassungsgericht habe in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass jedenfalls bei der Verhältniswahl, wie es das Kommunalwahlgesetz Mecklenburg-Vorpommerns – in eine durch Elemente der Persönlichkeitswahl modifizierten Form – vorsehe, jede Stimme grundsätzlich den gleichen Erfolgswert haben müsse. Differenzierungen bei dem Erfolgswert der Stimmen bedürften zu ihrer Rechtfertigung stets eines zwingenden Grundes. Als solcher sei – mit dem Bundesverfassungsgericht – insbesondere die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung anzusehen. Bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Sperrklausel sei auf die Verhältnisse in dem jeweiligen Land und insbesondere auf den Aufgabenkreis der zu wählenden Volksvertretung abzustellen. Ob eine Sperrklausel zur Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit einer Volksvertretung geboten sei, könne nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden; eine solche Einschränkung des Rechts auf gleiche Wahl könne in dem einen Gemeinwesen zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein und in einem anderen zu einem anderen Zeitpunkt nicht. Deshalb seien die Verhältnisse des Landes für das sie gelten solle jeweils zu berücksichtigen. Dabei sei allerdings in Rechnung zu stellen, dass der Wahlakt die entscheidende Legitimationsgrundlage für die Ausübung staatlicher und kommunale Befugnisse bereithalte und das Wahlrecht "das vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat" sei, dessen Einschränkung stets unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck stehe. Von daher bleibe dem Gesetzgeber nur ein eng begrenzter Spielraum. Unbeschadet seiner Freiheiten der Gestaltung des Wahlverfahrens habe es sich bei der Einschätzung und Bewertung von Umständen, die auf eine mögliche Gefährdung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Vertretungskörperschaften hindeuteten, an der politischen Wirklichkeit zu orientieren; insbesondere dürfe er seiner Entscheidung nicht lediglich abstrakt konstruierte Fallgestaltungen zugrunde legen. Abzustellen sei vielmehr auf die konkrete, durch tatsächliche Anhaltspunkte gestützte, und mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Möglichkeit der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Gemeindevertretung bzw. des Kreistags. Hierbei könnten auch die zwischenzeitlich gewonnenen Erfahrungen in Ländern mit einem Kommunalwahlrecht, das ohne 5 % Sperrklausel auskomme, nicht außer Acht gelassen werden. Insgesamt betrage der Erfahrungszeitraum mit einer solchen Rechtslage in den beiden Ländern Niedersachsen und Baden-Württemberg mehr als 50 Jahre. (LKV 2001, 270, 273, 274, 276). 25
Weiterhin hat auch der Berliner Verfassungsgerichtshof die dort in § 22 Abs. 2 BerlWahlG normierte Sperrklausel für verfassungswidrig erklärt, auch wenn dies dort nicht zu einer Neuberechnung des Wahlergebnisses führte. Nur die konkrete, mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Möglichkeit der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Bezirksverordnetenversammlung könne ein Rechtfertigungsgrund für den Erlass bzw. die Aufrechterhaltung der 5 % Klausel sein. Unter Berücksichtigung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Lande Berlin werde die Funktionsfähigkeit der Bezirksverordnetenversammlung durch ein Wahlrecht ohne Sperrklausel aber nicht in Frage gestellt (BerlVerfGH, Urteil vom 17.03.1997 – VerfGH 90/95 – LKV 1998, 142, 143). 26
Auch in Bayern hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof bereits im Jahre 1952 die 5 % Klausel des Artikels 24 Abs. 4 des Bayerischen Gemeindewahlgesetzes vom 16.02.1952 für verfassungswidrig erklärt. Ein zwingender Grund für eine Ausnahme von dem Grundsatz des gleichen Wahlrechts liege nicht vor, denn nach den dort vorliegenden kommunalrechtlichen Verhältnissen werde das Zustandekommen von Mehrheitsbeschlüssen im Gemeinderat durch Splitterparteien nicht gefährdet. Bestand und Funktion der gemeindlichen Verwaltungsorgane seien gesichert, auch wenn die Splitterparteien nicht durch die 5 % Klausel ferngehalten würden. Auch die vom statistischen Landesamt eingeholten statistischen Berechnungen lieferten keine Gründe, die dem Verstoß der 5 % Klausel gegen den verfassungsmäßigen Grundsatz der Gleichheit des Wahlrechts eine Rechtfertigung geben könnten (BayVerfGH, Entscheidung vom 14.03.1952 – VI.25-VII.52 – DÖV 1952, 438, 439, 440). 27
In Thüringen schränkt § 22 Abs. 2 ThürKWG bei der Verhältniswahl die Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit ein und bedürfte zur Feststellung seiner Verfassungsmäßigkeit damit ebenso einer Rechtfertigung. Als Rechtfertigungsgrund könnte auch hier die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung in Betracht kommen. Dies würde aber voraussetzen, dass – über die theoretische Möglichkeit hinaus – hinreichend sicher die Notwendigkeit der Sperrklausel festzustellen wäre, dass also ohne Sperrklausel die Funktionsfähigkeit der kommunalen Volksvertretungen in Thüringen gefährdet wäre. Dafür wäre nach der oben zitierten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung erforderlich, dass der Thüringer Gesetzgeber hierfür alle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht für die Einschätzung der Erforderlichkeit der Sperrklausel erheblichen Gesichtspunkte herangezogen und abgewogen hätte (vgl. nochmals NWVerfGH, a.a.O., Seite 668). Dies lässt sich aber nicht feststellen. Die einschlägigen Gesetzesmaterialien – sowohl zum Erlass des Thüringer Kommunalwahlgesetzes vom 16.08.1993 als auch zu Gesetzesinitiativen zur Abschaffung der Sperrklausel – geben hierzu nichts her. Die Kammer hat insoweit im Internet recherchiert und auch bei der Präsidentin des Thüringer Landtags erfragt, ob über die im Internet frei zugänglichen Unterlagen hinaus Materialien – insbesondere auch etwa aus nichtöffentlichen Ausschusssitzungen – vorgelegt werden können, die die Motive und Überlegungen aufzeigen, die den Gesetzgeber zu Erlass und Beibehaltung des § 22 Abs. 2 ThürKWG veranlasst haben. Aus den danach vorhandenen Materialien lässt sich aber nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber zur Frage der Erforderlichkeit der Sperrklausel Maßnahmen veranlasst hätte, um die Situation in Thüringen eingehend zu erforschen und zu bewerten. Es sind nicht etwa wie in Bayern (vgl. BayVerfGH, a.a.O., Seite 439) statistische Erhebungen oder andere Untersuchungen in die Wege geleitet worden, die konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Volksvertretungen in Thüringen geben könnten. Ebensowenig hat ein Vergleich mit den Erfahrungen in anderen Bundesländern, in denen es eine Sperrklausel im Kommunalwahlrecht nicht gibt (vgl. MVVerfG, a.a.O., Seite 276), stattgefunden, der geeignet wäre, die Erforderlichkeit der Sperrklausel zu belegen. So hat auch der im Rahmen der Einführung der Sperrklausel von der SPD als Sachverständiger zur Sitzung des Innenausschusses am 16.06.1993 hinzugezogene Leiter der Kommunalabteilung im rheinland-pfälzischen Innenministerium, Herr Oster, nicht die Notwendigkeit der Klausel aufgezeigt sondern vielmehr verfassungsrechtliche Bedenken geäußert (Sitzungsprotokoll Seiten 65 f.). Wenn Herr Staatssekretär Dr. Lippert sich in derselben Sitzung gegen diese Bedenken ausspricht (a.a.O., Seiten 134 f.), weil "die angezogenen Beispielsfälle nicht vergleichbar sind mit unserem Fall und auch die Rechtsprechung des bayerischen Verfassungsgerichtshofes nicht einschlägig ist", so lässt sich nicht feststellen, auf welche tatsächlichen Anhaltspunkte sich diese Erkenntnis stützt. 28
Ebenso verhielt es sich auch etwa bei der Beratung über den Gesetzentwurf der PDS-Fraktion zur Änderung kommunalrechtlicher Bestimmungen in Thüringen (Plenarprotokoll 3. Wahlperiode Seite 7819). Soweit dort überhaupt statistisches Zahlenmaterial angesprochen wird (vgl. etwa die Ausführungen des Abgeordneten Schemmel), wird dieses jeweils nur zur Untermauerung von verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Sperrklausel angeführt. Eine argumentative Auseinandersetzung mit diesem Zahlenmaterial, mit dem Ergebnis, dass trotzdem die Sperrklausel notwendig wäre, findet nicht statt. 29
Es lässt sich damit nicht feststellen, dass der Thüringer Gesetzgeber konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Volksvertretungen in Thüringen festgestellt hat. 30
Gegen eine solche Gefährdung spricht darüber hinaus, dass mit der Einführung des § 22 Abs. 2 ThürKWG durch Erlass des Thüringer Kommunalwahlgesetzes vom 16.08.1993 auch die Einführung der Direktwahl des Bürgermeisters (§ 24 Abs. 1 Satz 1 ThürKWG) einherging. Zuvor wurde der Bürgermeister von der Gemeindevertretung gewählt (vgl. § 27 Abs. 2 Kommunalverfassung vom 17.05.1990 – GBl. S. 255 – [KommVerf] bzw. die Neubekanntmachung in § 27 Abs. 2 Vorläufige Kommunalordnung vom 24.07.1992 – GVBl. S. 383 – [VKO]). Gleiches gilt für die Wahl des Landrats nach § 28 Abs. 2 ThürKWG (vgl. § 91 Abs. 2 KommVerf bzw. 91 Abs. 2 VKO). Mit der Einführung der Direktwahl sind diese für den Verwaltungsablauf innerhalb der Kommune wichtigsten Personalentscheidungen den Gemeindevertretungen und Kreistagen entzogen worden. Damit hat sich das Risiko, dass Splitterparteien erhebliche Funktionsbeeinträchtigungen der kommunalen Selbstverwaltung bewirken könnten, substanziell verringert (vgl. MVVerfG, a.a.O. Seite 275; vgl. auch NWVerfGH, Urteil vom 29.09.1994 – VerfGH 7/94 – NVwZ 1995, 579, 581). Weiterhin ist durch die unmittelbare Wahl und die dem Bürgermeister bzw. Landrat mit der Thüringer Kommunalordnung – ThürKO – übertragenen Befugnisse für die wesentliche Geschäftserledigung gesorgt. Der Bürgermeister vertritt die Gemeinde nach außen (§ 31 Abs. 1 ThürKO), leitet die Gemeindeverwaltung und vollzieht die Beschlüsse des Gemeinderats und der Ausschüsse (§ 29 Abs. 1 ThürKO). Er erledigt in eigener Zuständigkeit die laufenden Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Gemeinde, die keine grundsätzliche Bedeutung haben und keine erheblichen Verpflichtungen erwarten lassen, sowie die Angelegenheiten des übertragenen Wirkungskreises (§ 29 Abs. 2 ThürKO). Er ist oberste Dienstbehörde der Beamten sowie Vorgesetzter und Dienstvorgesetzter Bediensteten der Gemeinde (§ 29 Abs. 3 ThürKO). In dringenden Fällen kommt ihm das Eilentscheidungsrecht anstelle des Gemeinderats nach § 30 ThürKO zu. Auf die in §§ 107 bis 109 ThürKO geregelten entsprechenden Befugnisse des Landrats sei hingewiesen. Zudem bestehen für den Fall der Nichterfüllung öffentlich-rechtlicher Aufgaben die rechtsaufsichtlichen Instrumente der §§ 119 bis 121 ThürKO. Falls auch diese nicht ausreichen, so kann, wenn die Verwaltung einer Gemeinde oder eines Landkreises in erheblichem Umfang nicht den Erfordernissen einer gesetzmäßigen Verwaltung entspricht, die Rechtsaufsichtsbehörde nach § 122 Abs. 1 ThürKO einen Beauftragten einsetzen, der einzelne oder auch alle Aufgaben der Gemeinde wahrnimmt. Schließlich sieht die ThürKO auch noch die Auflösung des Gemeinderats bzw. Kreistags und die Anordnung von Neuwahlen durch das Ministerium vor. 31
Gegen eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Volksvertretungen spricht auch noch, dass keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es in Thüringen vor Einführung der Sperrklausel – mithin sogar unter Geltung der oben genannten Vorschriften, die noch nicht die Direktwahl des Bürgermeisters bzw. Landrates vorsahen – Probleme hinsichtlich der Funktionsfähigkeit der kommunalen Volksvertretungen gegeben hätte. 32
Ein zwingender Grund für eine Rechtfertigung der Sperrklausel des § 22 Abs. 2 ThürKWG lässt sich damit in Thüringen nicht feststellen, was zur Verfassungswidrigkeit der Norm führt. 33
Das weitere Erfordernis des Art. 100 GG, dass es bei der Entscheidung der Kammer auf die Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Norm ankommt, ist ebenfalls erfüllt. Gilt die Vorschrift des § 22 Abs. 2 ThürKWG, so unterliegt die Klägerin im vorliegenden Verfahren, ist sie ungültig, so obsiegt sie. Dies ergibt sich aus folgendem: 34
Die Klage ist jedenfalls zulässig. Sie stellt als Wahlanfechtungsklage eine Gestaltungsklage eigener Art dar, denn mit ihr wird nicht nur die Entscheidung der Rechtsaufsichtsbehörde, die einen Verwaltungsakt beinhaltet, möglicherweise aufgehoben. Vielmehr stellt die Kammer im Falle der Klagestattgabe gestaltend weiter fest, dass die angefochtene Wahl ungültig ist (vgl. ThürOVG, Urteile vom 26.09.2000 – 2 KO 289/00 – DVBl. 2001, 828 und vom 20.06.1996 – 2 KO 229/96 – ThürVBl. 1997, 110 f. m.w.N.). 35
Die Klägerin hat die Klage am 26.08.2004 und damit fristgerecht binnen eines Monats nach der Bekanntgabe am 29.07.2004 des ihre schriftliche Wahlanfechtungserklärung vom 19.07.2004 zurückweisenden Bescheids des Thüringer Landesverwaltungsamts vom 22.07.2004 erhoben (vgl. § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO analog in Verbindung mit § 41 Abs. 1 und 2 des Thüringer Verwaltungsverfahrensgesetzes). Die vorstehende Bestimmung der Verwaltungsgerichtsordnung ist auf die vorliegende Gestaltungsklage eigener Art entsprechend anzuwenden (vgl. ThürOVG, Urteile vom 26.09.2000 und vom 20.06.1996 jeweils a.a.O.). 36
Nach § 68 Abs. 1 Satz 2, 1. Alt. VwGO in Verbindung mit § 33 Abs. 1 Satz 2 des Thüringer Kommunalwahlgesetzes vom 16. August 1993 (GVBl. S. 530 in der Fassung des Gesetzes vom 25. März 1994, GVBl. S. 358 – ThürKWG –) war ein Vorverfahren vor Klageerhebung nicht durchzuführen (vgl. ThürOVG, Urteil vom 26.09.2000, a.a.O.). 37
Die Klägerin hat auch richtigerweise mit ihrem Hauptantrag die Erklärung der Ungültigkeit der Wahl (§ 31 Abs. 2 Satz 3 ThürKWG) beantragt und nicht nur eine Berichtigung des Wahlergebnisses nach § 31 Abs. 2 Satz 2 ThürKWG, etwa indem nunmehr einfach die Wahlvorschläge der zu berücksichtigen wären. Denn zum einen fand die Wahl unter der Prämisse statt, dass die Norm zur Anwendung gelange. Der Bürger hat in Kenntnis der Existenz der Norm gewählt und sein Wahlverhalten – in welcher Weise auch immer – hieran ausgerichtet. Eine einfache Berücksichtigung der Wahlvorschläge der würde damit den Wählerwillen verfälschen. Zum anderen sieht die Kammer den Anwendungsbereich des § 31 Abs. 2 Satz 2 ThürKWG mehr in der Berichtigung von Rechenfehlern und ähnlichen eher weniger gravierenden Wahlrechtsverstößen. Wie mit erheblichen Verstößen gegen Wahlvorschriften umzugehen ist regelt – so auch der Wortlaut – § 31 Abs. 2 Satz 3 ThürKWG. Um einen erheblichen Wahlrechtsverstoß geht es aber hier im Falle der Ungültigkeit der Norm, denn dann läge neben einer unrichtigen Anwendung des § 22 Abs. 1 ThürKWG ein Verstoß gegen die Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit vor, die als Ausfluss des demokratischen Prinzips als allgemeine Rechtsprinzipien für politische Wahlen zu allen demokratischen Repräsentativorganen im staatlichen, wie auch im kommunalen Bereich gelten (siehe oben und nochmals ThürVerfGH, a.a.O.). 38
Der Geltendmachung eigener subjektiver Rechte bedarf es bei Gestaltungsklagen im Rahmen des Wahlanfechtungsverfahrens nicht, denn diese besondere Gestaltungsklage ist einer Popularklage angenähert (ThürOVG, Urteil vom 20.06.1996, a.a.O.). 39
Die zulässige Klage ist auch begründet, wenn die in Rede stehende Vorschrift des § 22 Abs. 2 ThürKWG ungültig ist. Dann ist die angefochtene Wahl für ungültig zu erklären. Andernfalls wäre die Klage abzuweisen. 40
Die Klage ist zulässig und im Hauptantrag begründet. 41
Im Rahmen eines kommunalen Wahlanfechtungsverfahrens darf eine Wahl nämlich dann für ungültig erklärt werden, wenn der Kläger anfechtungsberechtigt ist – erstes Erfordernis –, und er innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntmachung der Feststellung des Wahlergebnisses die Wahl durch schriftliche Erklärung bei der Rechtsaufsichtsbehörde angefochten hat – zweites Erfordernis – (vgl. § 31 Abs. 1 ThürKWG). Diese Anfechtung muss sich zudem auf erhebliche Verstöße gegen Wahlvorschriften beziehen – drittes Erfordernis – (vgl. § 31 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 ThürKWG). Schließlich müssen diese erheblichen Verstöße geeignet sein, das Wahlergebnis wesentlich zu beeinflussen – viertes Erfordernis – (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 3 ThürKWG) [ThürOVG, Urteil vom 26.09.2000, a.a.O. Seite 828 f. und vom 20.06.1996, hier zitiert nach Juris Rdnrn. 77 – 82]. 42
Die Klägerin ist hier anfechtungsberechtigt, denn nach der oben genannten Vorschrift kann jeder Wahlberechtigte die Feststellung des Wahlergebnisses anfechten. Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin hier wahlberechtigt im Sinne von § 1 ThürKWG ist, denn sie ist offenbar auch passiv wählbar, was die Wahlberechtigung voraussetzt (§ 12 Abs. 1 ThürKWG), denn sie ist selbst Kandidatin der X. 43
Sie hat die Wahl auch binnen zwei Wochen nach Bekanntmachung der Feststellung des Wahlergebnisses durch schriftliche Erklärung bei der Rechtsaufsichtsbehörde angefochten. Das festgestellte Wahlergebnis wurde am 04.07.2004 im Amtsblatt der Stadt Weimar bekannt gemacht. Die Anfechtungsfrist endete damit in entsprechender Anwendung der §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Hs. 1, 193 Bürgerliches Gesetzbuch (vgl. ThürOVG, Urteil vom 26.09.2000, a.a.O.) mit Ablauf des 19.07.2004, einem Montag. Die Klägerin hat die Feststellung des Wahlergebnisses mit einem auf den 19.07.2004 datierten Schreiben angefochten, das sie der Rechtsaufsichtsbehörde – hier das Thüringer Landesverwaltungsamt – per Telefax und im Original übersandte. Das in den vorgelegten Behördenakten befindliche Telefax trägt keinen Eingangsvermerk. Als Absendezeitpunkt ist maschinell darauf vermerkt: "19-Jul-04 15:58". Das Original des Schriftsatzes ist am 20.07.2004 bei der Behörde eingegangen. Damit ist davon auszugehen, dass die Klägerin mit dem Telefax die Frist gewahrt hat. Dass sie den Eingang nicht mittels des fehlenden Eingangsstempels nachweisen kann, kann ihr nicht zum Nachteil gereichen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf dem Bürger das Versagen organisatorischer und betrieblicher Vorkehrungen, auf die er keinen Einfluss hat, nicht zur Last gelegt werden. Das Gericht hat bei seiner Überzeugungsbildung, sofern die Erklärung des Antragstellers zum Zeitpunkt der Abgabe des Schriftstücks nicht von vornherein unglaubhaft ist, den Umstand in Rechnung zu stellen, dass es dem Antragsteller aus Gründen, die in der Sphäre einer Behörde liegen, auf deren Tätigkeit er keinen Einfluss hat, unmöglich ist, eine Tatsache glaubhaft zu machen, die bei fehlendem behördlichen Versagen unschwer aufzuklären wäre. Nichts anderes gilt, wenn im Zivilprozess bei Gericht ein mit einem Eingangsstempel zu versehendes Schriftstück verloren geht, mit dem eine Frist gewahrt werden soll (BVerfG, Beschluss vom 06.04.1998 – 1 BvR 2194/97 – NJW 1998, 2044 f. m.w.N.). Erst recht muss dies dann hier gelten, zumal die Tatsache des Eingangs des Telefax unzweifelhaft ist. Auch hier ist es der Klägerin nämlich verwehrt, den rechtzeitigen Zugang ihres – auf den 19.07.2004 datierten und mit Absendevermerk desselben Tages versehenen – Schreibens mittels eines Eingangsstempels zu beweisen. Hätte die Behörde es nicht versäumt, den üblichen Eingangsstempel anzubringen, wäre der Zeitpunkt des Zugangs unschwer aufzuklären. 44
Die Klägerin musste auch nicht bereits im Rahmen ihrer Anfechtung des Wahlergebnisses erklären, ob sie Berichtigung oder Erklärung der Ungültigkeit der Wahl begehre. Der Wortlaut des § 31 Abs. 1 ThürKWG verlangt lediglich die Anfechtung der Wahl. Was dann im Falle der Feststellung von Wahlrechtsverstößen zu tun ist – Berichtigung des Wahlergebnisses oder Erklärung der Wahl für ungültig – entscheidet nach § 31 Abs. 2 die Rechtsaufsichtsbehörde. Dem entspricht auch, dass es sich bei der Wahlanfechtungsklage nicht um eine Verpflichtungsklage handelt, mit der ein Anspruch (auf Berichtigung oder Ungültigkeitserklärung) durchgesetzt werden soll, sondern um eine Gestaltungsklage eigener Art. Mit ihr wird nicht die Behörde verpflichtet, einem Begehren der Klägerin nachzukommen, sondern das Gericht wird selbst gestaltend tätig (vgl. dazu nochmals ThürOVG, Urteil vom 20.06.1996 a.a.O., Seite 111). 45
Die Klägerin hat in ihrem Wahlanfechtungsschreiben vom 19.07.2004 auch bereits hinreichend genau dargelegt, welchen wahlrechtlichen Verstoß sie rügen will und auch die Tatsachen hinreichend genau angeführt, auf die sie ihre Anfechtung stützt (zu diesem Erfordernis vgl. ThürVerfGH, a.a.O., Seite 667 m.w.N.). Sie hat dort ausgeführt, die 5 % Sperrklausel des § 22 Abs. 2 ThürKWG beeinträchtige die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien. Diese Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt. Der Thüringer Gesetzgeber habe es versäumt, die Richtigkeit der Regelung zu überprüfen. Die Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit müsse aber die Verhältnisse des Landes berücksichtigen für das sie gelten solle. Dies sei in Thüringen versäumt worden. 46
Wie oben bereits dargestellt liegt hier im Falle der Ungültigkeit des § 22 Abs. 2 ThürKWG ein erheblicher Wahlrechtsverstoß vor, nämlich ein Verstoß gegen § 22 Abs. 1 ThürKWG und gegen die Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit, die nach der Rechtsprechung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs als Ausfluss des demokratischen Prinzips als allgemeine Rechtsprinzipien für politische Wahlen zu allen demokratischen Repräsentativorganen im staatlichen, wie auch im kommunalen Bereich gelten (s.o. und nochmals ThürVerfGH, a.a.O., Seite 665). 47
Der Verstoß gegen Wahlvorschriften ist auch geeignet, das Wahlergebnis wesentlich zu beeinflussen: Bei Nichtanwendung des § 22 Abs. 2 ThürKWG wäre nämlich nach § 22 Abs. 1 Satz 3 ThürKWG einer der in Weimar zu verteilenden 42 Sitze auf den Wahlvorschlag der entfallen (2811 Stimmen x 42 Sitze : 60831 Stimmen insgesamt = 1,9408196). Ein weiterer Sitz wäre ihm nach § 22 Abs. 1 Satz 4 ThürKWG zuzuteilen, da er mit "9408196" den höchsten Zahlenbruchteil erreicht hat. Ein solcher Sitz stände auch noch zur Verfügung. Der Niederschrift über die Sitzung des Wahlausschusses zufolge wurden nämlich auf den Wahlvorschlag der CDU "nach ganzen Zahlen" (§ 22 Abs. 1 Satz 3 ThürKWG) 13 Sitze verteilt, obwohl dieser Wahlvorschlag nur zu einem rechnerischen Ergebnis von 12,77585 gelangt. Dieser Sitz war dem Wahlvorschlag der CDU damit nicht nach § 22 Abs. 1 Satz 3 ThürKWG zuzuteilen. Allerdings entfiel auf ihn ein Sitz nach § 22 Abs. 1 Satz 4 ThürKWG, da er unter den berücksichtigten Wahlvorschlägen den höchsten Zahlenbruchteil erreicht hatte. Bei Berücksichtigung des Wahlvorschlags der X trifft dies aber nicht mehr zu. 48
Auf den Wahlvorschlag der wären damit zwei statt gegenwärtig kein Sitz zu verteilen gewesen. Der Wahlvorschlag der CDU hätte nur 12 Sitze erreicht. Ebenso wäre der Sitz, der als Restmandat auf den Wahlvorschlag des Y verteilt worden ist, diesem nicht zugefallen. 49
Eine verfassungskonforme Auslegung des § 22 Abs. 2 ThürKWG, mit der der Verstoß gegen Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit vermieden würde, ist nicht möglich. Die Vorschrift kann nur angewandt oder eben nicht angewandt werden. 50

 


Matthias Cantow