15. Deutscher Bundestag

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 17. Februar 2005

EuWP 46/04

BT-Drucks. 15/4750, 89 (Anlage 21)

„Erfolgswertgleichheit“


Entscheidungen 2000–heute

[BT-Drucks. 15/4750, 89 (89)] Beschluss

Zum Wahleinspruch
des Herrn C.,
– EuWP 46/04 –
gegen
die Gültigkeit der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland am 13. Juni 2004
hat der Wahlprüfungsausschuss in seiner Sitzung vom 27. Januar 2005 beschlossen, dem Bundestag folgenden Beschluss zu empfehlen:

Entscheidungsformel:

Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen.

Tatbestand:

Mit einer E-Mail vom 13. August 2004, die eine eingescannte Unterschrift des Einspruchsführers enthält, hat dieser beim Deutschen Bundestag Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland am 13. Juni 2004 eingelegt. Der Einspruchsführer beanstandet, dass sowohl die Fünf-Prozent-Sperrklausel in § 2 Abs. 6 Europawahlgesetz (EuWG) als auch das im Europawahlgesetz festgelegte Berechnungsverfahren für die Verteilung der Sitze (Hare/Niemeyer) den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verletzten. 1
Die Fünf-Prozent-Sperrklausel verletze die sich bei einer Verhältniswahl aus der Wahlrechtsgleichheit ergebende Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen. Die in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1979 (BVerfGE 51, 222) angeführte Begründung könne zumindest seit der Europawahl am 13. Juni 2004 eine Abweichung von der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen nicht mehr rechtfertigen. 2
Der Einspruchsführer benennt diejenigen Wahlbewerber, die seiner Ansicht nach unter Verletzung der Erfolgswertgleichheit ein Mandat erhalten haben, sowie diejenigen, die bei strikter Einhaltung des Prinzips der Erfolgswertgleichheit (ohne Anwendung der Fünf-Prozent-Sperrklausel) stattdessen ein Mandat hätten erhalten müssen. 3
Die Auswahl des Berechnungsverfahrens für die Sitzverteilung (Hare/Niemeyer) genüge nicht den Anforderungen der Wahlrechtsgleichheit in seiner Ausprägung als Erfolgswertgleichheit. Das Bundesverfassungsgericht habe in ständiger Rechtsprechung betont, alle Wähler sollten mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (BVerfGE 1, 208 <246>). Hieraus folgert er, dass bei der Europawahl das Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë/Schepers) zwingend hätte eingesetzt werden müssen. Hiernach ergebe sich gegenüber seiner eigenen, oben angeführten Berechnung zur Mandatszuteilung in Bezug auf die Fünf-Prozent-Sperrklausel die Verschiebung eines Mandats. Anstelle einer (gewählten) SPD-Abgeordneten stehe einem Bewerber der Partei Bibeltreuer Christen ein Mandat zu. 4
Zu den Ausführungen des Einspruchsführers hat der Bundeswahlleiter wie folgt Stellung genommen: 5
Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 22. Mai 1979 die Fünf-Prozent-Sperrklausel gemäß § 2 Abs. 6 EuWG als verfassungskonform angesehen, weil sie an dem durch besondere, zwingende Gründe gerechtfertigten Ziel, einer übermäßigen Parteienzersplitterung im Europäischen Parlament entgegenzuwirken, orientiert gewesen sei und das Maß des zur Erreichung dieses Ziels Erforderlichen nicht überschreite (BVerfGE 51, 222<233>). Dies sei wie folgt begründet worden: 6
Der Gleichheitssatz fordere nicht, dass der Gesetzgeber die Einzelnen und ihre relevanten gesellschaftlichen Gruppen unbedingt gleichmäßig behandelt; er lasse Differenzierungen zu, die durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt seien. Ob und in welchem Ausmaß der Gleichheitssatz bei der Ordnung bestimmter Materien dem Gesetzgeber Differenzierungen erlaube, richte sich nach der Natur des jeweils in Frage stehenden Sachbereichs (BVerfGE 6, 84 <91> und BVerfGE 11, 266 <272>). Aus den Grundsätzen der formalen Gleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien und Wählergruppen folge mithin, dass für den Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts zu politischen Körperschaften nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibe. In diesem Bereich bedürften Differenzierungen stets eines besonderen, rechtfertigenden, zwingenden Grundes (BVerfGE 1, 208 <249 und 255>; ständige Rechtsprechung). 7
Die Verhältniswahl begünstige das Aufkommen kleiner Parteien und Wählervereinigungen. Daraus könnten sich ernsthafte Beeinträchtigungen der Handlungsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung ergeben. Eine Wahl habe nicht nur das Ziel, eine Volksvertretung zu schaffen, die ein Spiegelbild der in der Wählerschaft vorhandenen politischen Meinungen darstelle, sondern sie solle auch ein funktionsfähiges Organ hervorbringen. Würde der Grundsatz der getreuen Abbildung der politischen Meinungsschichtung in der Wählerschaft bis zur letzten Konsequenz durchgeführt, so hätte das nach Auffassung des Bundeswahlleiters eine Aufspaltung der Volksvertretung in viele kleine Gruppen zur Folge haben können, die die Mehrheitsbildung erschweren oder verhindern würde. Der unbegrenzte Proporz würde es erleichtern, dass [BT-Drucks. 15/4750, 89 (90)] auch solche kleinen Gruppen eine Vertretung erlangten, die nicht ein am Gesamtwohl orientiertes politisches Programm, sondern im Wesentlichen nur einseitige Interessen vertreten würden. Klare und ihrer Verantwortung für das Gesamtwohl bewusste Mehrheiten in einer Volksvertretung seien aber für eine Bewältigung der ihr gestellten Aufgaben unentbehrlich. Deshalb dürfe der Gesetzgeber Differenzierungen im Erfolgswert der Stimmen bei der Verhältniswahl vornehmen, soweit dies zur Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahlsystems und zur Sicherung der mit derWahl verfolgten Ziele unbedingt erforderlich sei (BVerfGE 51, 222 <236>). Unter diesem Blickpunkt habe das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung das Postulat der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung und die Gebote des grundsätzlich gleichen Erfolgswertes aller Wählerstimmen sowie der gleichenWettbewerbschancen der politischen Parteien und Wählervereinigungen im Rahmen der Verhältniswahl gegeneinander abgewogen. Was in diesem Zusammenhang von Verfassungs wegen als zwingender Grund für eine begrenzte Differenzierung anzuerkennen sei, variiere von Bereich zu Bereich und bestimme sich vor allem nach dem Aufgabenkreis der zu wählenden Volksvertretung (BVerfGE 51, 222 <236 und 236 f.>). Die Fünf-Prozent-Sperrklausel beziehe sich hier auf dieWahlen zu einem supranationalen Organ, dem Europäischen Parlament. 8
Der dem Europäischen Parlament im Verfassungsgefüge der Europäischen Gemeinschaften zugewiesene Aufgabenkreis und die ihm auf demWege zu „einem immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ zugedachte Rolle erforderten ein handlungsfähiges Organ. Das Europäische Parlament könne die ihm gestellten Aufgaben nur dann wirksam bewältigen, wenn es durch eine, den vielschichtigen Spezialmaterien angemessene, interne Arbeitsteilung allen seinen Mitgliedern die notwendige Sachkenntnis verschaffe und zu einer überzeugenden Mehrheitsbildung in der Lage sei. Beides könne gefährdet werden, wenn die durch die große Zahl der Mitgliedstaaten ohnehin nicht vermeidbare Aufgliederung des Parlaments in viele Gruppen ein Ausmaß annehme, das dessen Funktionsfähigkeit ernsthaft in Frage stelle. Dies sei ein zwingender Grund, der Vorkehrungen gegen eine übermäßige Parteienzersplitterung zu rechtfertigen vermöge (BVerfGE 51, 222 <246 f.>). 9
Die Arbeitsfähigkeit eines so heterogen zusammengesetzten Parlaments wie des Europäischen Parlaments hänge in noch stärkerem Maße als bei einem nationalen Parlament von dem Vorhandensein großer, durch gemeinsame politische Zielsetzungen verbundener Gruppen von Abgeordneten ab. Schon unter diesem Blickpunkt erwiesen sich Vorkehrungen, die wie die in das Europawahlgesetz aufgenommene Fünf-Prozent-Sperrklausel darauf abzielten, den Einzug einer Gruppe von weniger als fünf Abgeordneten in das Parlament zu verhindern, als sachlich gerechtfertigt und zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zwingend geboten. Eine solch kleine Gruppe wäre – so der Bundeswahlleiter – kaum in der Lage, die zahlreichen Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaften in ihrem vielschichtigen und weiträumigen Tätigkeitsbereich zu verfolgen und kritisch zu beurteilen; sie wäre damit außerstande, in einer dem Ineinandergreifen der vielfältigen Aktivitäten gerecht werdenden Weise ihren Teil zur Kontrolle eines so hoch qualifizierten und großen bürokratischen Apparates wie der Kommission beizutragen. Eine solche Kontrolle sei wirksam nur möglich, wenn sie arbeitsteilig erfolge und eine größere Organisation den einzelnen Abgeordneten unterstütze. Entsprechendes gelte für die Mitwirkung des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsverfahren und bei der Verabschiedung des Haushalts (BVerfGE 51, 222 <247>). 10
Die seit dieser Entscheidung aus dem Jahr 1979 eingetretenen Veränderungen des Europarechts und der tatsächlichen Verhältnisse in der Europäischen Union hätten die darin getroffenen Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts bestätigt und sogar verstärkt. Die Arbeitsweise des Parlaments habe sich seit der o. g. Entscheidung nicht grundlegend verändert. Jedoch habe das Parlament deutlich an Kompetenzen gewonnen und sei der zentralen Funktion eines nationalen Parlaments bei der Gesetzgebung und der Regierungsbildung durch die Einheitliche Europäische Akte von 1986, die Verträge von Maastricht 1992, von Amsterdam 1996 und von Nizza 2001 erheblich näher gekommen. Die Einführung und Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens gemäß Artikel 251 des EG-Vertrages habe das Europäische Parlament in den meisten Bereichen der gemeinschaftlichen Rechtsetzung neben dem Rat zum gleichberechtigten Gesetzgeber der EU gemacht. 11
Auch die Anwendbarkeit des Anhörungs- und Zustimmungsverfahrens sei kontinuierlich ausgeweitet worden. So müsse das Parlament der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten zustimmen und bei Abschluss völkerrechtlicher Verträge angehört werden und für bestimmte Arten wichtiger Abkommen sogar zustimmen. Das Parlament habe also inzwischen eine erhebliche gesetzgeberische Funktion und einen stärkeren politischen Einfluss auf die europäische Rechtsetzung. Auch im Verhältnis zur Kommission sei mit dem Zustimmungserfordernis bei der Ernennung der Kommissionsmitglieder und des Präsidenten die Stellung des Parlaments verstärkt worden. Der Kontrollaufgabe gegenüber dem Rat und der Kommission könne das Parlament nun auch durch Erhebung einer Nichtigkeitsklage nachkommen. Die dem Europäischen Parlament im institutionellen Gefüge der Europäischen Union zugewiesenen Aufgaben und seine Rolle hätten ein handlungs- und entscheidungsfähiges Organ erfordert. Dieses Erfordernis habe angesichts der Stärkung und des Kompetenzzuwachses seit 1979 noch erheblich an Bedeutung gewonnen. Das Parlament müsse zu effektiver Tätigkeit und überzeugender Mehrheitsbildung in der Lage sein. Über den Regelfall einer absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Artikel 198 Abs. 1 EG-Vertrag) seien teilweise qualifizierte Mehrheiten und im Haushaltsrecht eine besonders qualifizierte Mehrheit von drei Fünftel der abgegebenen Stimmen bei Parlamentsentscheidungen erforderlich. 12
Das Gemeinschaftsrecht erkenne inzwischen das Ziel der Sicherung eines funktionsfähigen Parlaments sowie das Instrument der Sperrklausel auf europäischer Ebene als legitim an. Die Zulässigkeit einer Sperrklausel in Höhe von bis zu fünf Prozent für die Wahlen zum Europäischen Parlament im nationalen Wahlrecht der Mitgliedstaaten sei seit dem Jahr 2002 in Artikel 3 des Direktwahlakts normiert. Deutschland sei nicht der einzige Mitgliedstaat, der eine Mindestschwelle für die Verteilung der Abgeordnetensitze im innerstaatlichen Wahlrecht vorsehe. Eine Sperrklausel von fünf Prozent gebe es außer in Deutschland auch in Frankreich, Litauen, Polen, [BT-Drucks. 15/4750, 89 (91)] in der Slowakei, der Tschechischen Republik und in Ungarn. In Griechenland normiere das nationale Wahlrecht eine Drei-Prozent-Hürde und in Österreich und Schweden müssten die Wahlvorschläge eine Vier-Prozent-Klausel überwinden müssen. 13
Die Sicherung mehrheitsfähiger Strukturen im Europäischen Parlament sei angesichts zehn neuer Mitgliedstaaten und den aus diesen Ländern in das Europäische Parlament gewählten weiteren Gruppen und Parteien umso wichtiger geworden. Im 5. und 6. Europäischen Parlament hätten sich die nationalen Parteien und Gruppen zu sieben Fraktionen gleicher politischer Richtung zusammengeschlossen, was angesichts einer Gesamtzahl von nun 732 Abgeordneten recht hoch sei. Auch hier sei einer weiterenVermehrung von Fraktionen durch den Einzug kleiner Parteien vorzubeugen. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass bei Beschlüssen mit nationaler Bedeutung die Einigkeit in den Fraktionen für nationale Interessen geopfert werden könne, was bei der großen Anzahl von Mitgliedstaaten zur Gefährdung von Mehrheiten führen könne. Die Gefahr der Zersplitterung werde verschärft durch den möglichen Beitritt neuer Mitgliedstaaten. 14
Zudem begünstige das Wahlsystem der Europawahl, die Verhältniswahl, das Aufkommen kleiner Parteien. Der unbegrenzte Proporz würde es erleichtern, dass auch solche kleinen Gruppen eine Vertretung erlangen könnten, die nicht ein am Gesamtwohl orientiertes politisches Programm, sondern im Wesentlichen nur einseitige Interessen verträten (BVerfGE 51, 222 <236>). 15
Zu dem vom Einspruchsführer beanstandeten Berechnungsverfahren zur Sitzverteilung gemäß § 2 Abs. 3 bis 5 EuWG (Hare/Niemeyer) führt der Bundeswahlleiter aus, es liege im Ermessen des Gesetzgebers, welches mathematische Verfahren er im Rahmen der Wahlrechtsgrundsätze für die Berechnung der Verteilung der 99 Sitze deutscher Abgeordneter im Europäischen Parlament festlege. Die Verteilung der Sitze nach Bruchteilen entspreche der Regelung des § 2 Abs. 3 bis 5 EuWG und sei rechtlich nicht zu beanstanden. Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Berechnung nach dem Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare/Niemeyer genüge den Anforderungen an ein für die Verhältniswahl unabdingbares Sitzverteilungssystem. Das gewählte Verfahren trage dem in § 1 Satz 2 EuWG niedergelegten Grundsatz der Gleichheit der Wahl Rechnung, obwohl mathematisch eine absolute Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen auch mit dieser Berechnungsart nicht erreicht werde (vgl. Schreiber, Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 7. Auflage, § 6 Rn. 6a m. w. N. zu Hare/Niemeyer im Bundestagswahlrecht). 16
Soweit der Einspruchsführer vortrage, dass das Berechnungsverfahren Sainte-Laguë/Schepers die Erfolgswertgleichheit besser gewährleiste als das Verfahren Hare/Niemeyer, werde auf den Bericht des Bundesministeriums des Innern zu Nummer 3 der Beschlussempfehlung desWahlprüfungsausschusses vom 8. September 1999 hingewiesen. In diesem Bericht werden die Abweichungen der Sitzverteilung von der Stimmenverteilung bei dem Verfahren Sainte-Laguë/Schepers und bei dem Verfahren nach Hare/Niemeyer anhand von verschiedenen mathematischen Maßen beispielhaft berechnet und dargestellt. Zu den Einzelheiten der Berechnungen wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen. Da beim Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers bestimmte Ungereimtheiten nicht auftreten könnten und es in der Praxis kaum vorkommen dürfte, dass sich bei der Verteilung nach Sainte-Laguë/Schepers die Sitzzahlen nicht im Rahmen der sog. Idealansprüche bewegten, könne dieses Verfahren gegenüber dem Verfahren nach Hare/Niemeyer als geringfügig vorzugswürdig betrachtet werden. Das Bundesverfassungsgericht habe es allerdings der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, für welches System der Berechnung und Verteilung der Mandate er sich entscheiden wolle (BVerfGE 79, 169 <171>). Die dafür im Wesentlichen angeführte Begründung, dass bei beiden Verfahren Reststimmen unberücksichtigt blieben und deshalb keine absolute Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen erreicht werden könne, gelte grundsätzlich auch für das Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers. 17
Zu den vom Einspruchsführer vorgenommenen Berechnungen hat der Bundeswahlleiter drei Modellrechnungen durchgeführt. Hierbei wurde in der ersten Modellrechnung der Berechnung der Sitzverteilung das Verfahren Hare/Niemeyer (§ 2 Abs. 3 EuWG) ohne Anwendung der in § 2 Abs. 6 EuWG vorgesehenen Fünf-Prozent-Sperrklausel zugrunde gelegt. In der zweiten Modellrechnung wurde der Berechnung der Sitzverteilung das Verfahren Sainte-Laguë/Schepers – ebenfalls ohne Anwendung der in § 2 Abs. 6 EuWG vorgesehenen Fünf-Prozent-Sperrklausel – zugrunde gelegt. In der dritten Modellrechnung wurde die Berechnung der Sitzverteilung bei der Europawahl 2004 unter Berücksichtigung der Sperrklausel des § 2 Abs. 6 EuWG nach den Verfahren Sainte-Laguë/Schepers und Hare/Niemeyer durchgeführt. Zu den Einzelheiten der Berechnungen wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen. Die Berechnungen des Einspruchsführers seien – so der Bundeswahlleiter – unter Zugrundelegung von dessen Auffassung zur Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen zutreffend. 18
Dem Einspruchsführer ist die Stellungnahme des Bundeswahlleiters bekannt gegeben worden. Er hat sich hierzu nicht geäußert. 19
Der Wahlprüfungsausschuss hat nach Prüfung der Sach- und Rechtslage beschlossen, gemäß § 26 Abs. 2 EuWG in Verbindung mit § 6 Abs. 1a Nr. 3 Wahlprüfungsgesetz (WPrüfG) von einer mündlichen Verhandlung abzusehen. 20

Entscheidungsgründe

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Einspruch zulässig ist. Er ist jedenfalls offensichtlich unbegründet. 21
Im Rahmen der Zulässigkeit ist zweifelhaft, ob der Einspruch das Schriftformerfordernis gemäß § 26 Abs. 2 EuWG i. V. m. § 2 Abs. 3 WPrüfG erfüllt. Zur Schriftform gehört nach der ständigen Praxis des Deutschen Bundestages und des Wahlprüfungsausschusses auch die eigenhändige Unterschrift des Einspruchsführers (Bundestagsdrucksache 15/1850, Anlage 41; Bundestagsdrucksache 14/1560, Anlage 6). Der Einspruchsführer hat seine Unterschrift eingescannt und seinen Wahleinspruch dem Deutschen Bundestag lediglich per E-Mail übermittelt. Nach einem Beschluss des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichte des Bundes vom 5. April 2000 (GmS/OGB 1/98 – NJW 2000, S. 2340) ist in Prozessen mit Vertretungszwang die Übermittlung bestimmender Schriftsätze auch durch elektronische Übertragung einer Textdatei mit eingescannter Unterschrift des Prozessbevollmächtigten [BT-Drucks. 15/4750, 89 (92)] auf ein Faxgerät des Gerichts als ausreichend zur Wahrung der Schriftform angesehen worden (näher hierzu: Bundestagsdrucksache 15/1850, Anlage 41). Der vorliegende Fall weicht von dem diesem Beschluss zugrunde liegenden Sachverhalt u. a. insofern ab, als der Einspruch nicht auf ein Faxgerät des Deutschen Bundestages übermittelt wurde. Der vorliegende Einspruch gibt keinen Anlass für die Entscheidung der Frage, ob diesem Beschluss des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichte des Bundes für das Wahlprüfungsverfahren generell gefolgt werden soll, sowie der weiteren Frage, ob – darüber hinausgehend – die Übermittlung auf ein Faxgerät zur Wahrung der Schriftform entbehrlich ist. Da der vorliegende Einspruch in der Sache – wie noch darzulegen ist – keinen Erfolg haben kann, wird – auch im Interesse einer zügigen Durchführung der Wahlprüfung – von einer Entscheidung dieser Zulässigkeitsfragen abgesehen. 22
Der Einspruch ist offensichtlich unbegründet. 23
Ein Wahlfehler liegt nicht vor, weil der Einspruchsführer nicht mit Erfolg geltend machen kann, die Fünf-Prozent-Sperrklausel in § 2 Abs. 6 EuWG und das in § 2 Abs. 3 EuWG festgelegte Berechnungsverfahren für die Verteilung der Sitze der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland seien verfassungswidrig. Der Deutsche Bundestag und der Wahlprüfungsausschuss sehen sich nach ständiger Praxis nicht dazu berufen, die Verfassungswidrigkeit von Rechtsvorschriften festzustellen. Diese Kontrolle ist stets dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten worden (exemplarisch: Bundestagsdrucksache 14/1560, Anlage 77). Unabhängig hiervon halten der Deutsche Bundestag und der Wahlprüfungsausschuss die Vorschrift des § 2 EuWG für verfassungsgemäß. 24
Dies gilt zunächst für die Fünf-Prozent-Sperrklausel. Nach Artikel 3 Satz 1 des geänderten Direktwahlakts können die Mitgliedstaaten eine Mindestschwelle für die Sitzvergabe festlegen. Diese Schwelle darf jedoch nach Satz 2 dieser Vorschrift landesweit nicht mehr als fünf Prozent der abgegebenen Stimmen betragen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 8. Juni 2004 in einem Organstreitverfahren zur Fünf-Prozent-Sperrklausel des § 2 Abs. 6 EuWG (2 BvE 1/04), in dem die diesbezügliche Organklage der NPD wegen Nichteinhaltung der Frist des § 64 Abs. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz als unzulässig verworfen worden ist, auf die Änderung des Direktwahlakts hingewiesen und hierzu ausgeführt, dass der Gesetzgeber mit dem am 21. August 2003 verkündeten Vierten Gesetz zur Änderung des Europawahlgesetzes und des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes zum Ausdruck gebracht hat, dass er an der Fünf-Prozent-Klausel festhalten möchte. Er hat sich dabei – so das Bundesverfassungsgericht – auf die Ermächtigung der Mitgliedstaaten im Beschluss des Rates der Europäischen Union stützen können, eine Sperrklausel zu erlassen. Der Rat der Europäischen Union hat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments mit Beschluss vom 25. Juni und 23. September 2002 (BGBl. 2003 II S. 811) den Direktwahlakt geändert, damit dieWahlen zum Europäischen Parlament „gemäß den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen stattfinden können, die Mitgliedstaaten zugleich aber die Möglichkeit erhalten, für Aspekte, die nicht durch diesen Beschluss geregelt sind, ihre jeweiligen nationalen Vorschriften anzuwenden“. Dieser Änderung des Direktwahlakts hat der deutsche Gesetzgeber mit Artikel 1 des Zweiten Gesetzes über die Zustimmung zur Änderung des Direktwahlakts vom 15. August 2003 (BGBl. 2003 II S. 810) zugestimmt. 25
Zwar kann aus dieser erstmalig verankerten ausdrücklichen Ermächtigung zum Erlass einer Fünf-Prozent-Sperrklausel durch den Direktwahlakt nicht unmittelbar die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Sperrklausel nach dem deutschen Verfassungsrecht abgeleitet werden. Sie ist jedoch als starkes Indiz dafür anzusehen, dass § 2 Abs. 6 EuWG – wie auch schon bisher – nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Auch nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht gegen die Verfassung (BVerfGE 51, 222 <233 ff.>; BVerfGE 95, 335 <366>). Die Grundzüge dieser Rechtsprechung werden in der Stellungnahme des Bundeswahlleiters dargelegt. 26
Soweit der Einspruchsführer einen Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit wegen des unterschiedlichen Erfolgswertes der Stimmen derjenigen Wählerinnen und Wähler, die eine Partei gewählt haben, die die Fünf-Prozent-Sperrklausel überwunden hat, und derjenigen Wählerinnen und Wähler, die eine Partei gewählt haben, die an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist, geltend macht, so greift dieser Einwand nicht durch. Wie in der vom Bundeswahlleiter in seiner Stellungnahme zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dargelegt wird, ist die Fünf-Prozent-Sperrklausel gemäß § 2 Abs. 6 EuWG durch das Ziel gerechtfertigt, einer übermäßigen Parteienzersplitterung im Europäischen Parlament entgegenzuwirken. Eine Abwägung des Postulats der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung mit den Geboten des grundsätzlich gleichen Erfolgswertes aller Wählerstimmen sowie der gleichen Wettbewerbschancen der politischen Parteien im Rahmen der Verhältniswahl ergibt die Zulässigkeit dieser begrenzten Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen. Der Bundeswahlleiter hat in seiner Stellungnahme überzeugend dargelegt, dass die seit dem Jahr 1979 eingetretenen Veränderungen des Europarechts und der tatsächlichen Verhältnisse in der Europäischen Union die in der damaligen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts getroffenen Feststellungen bestätigt und – auch im Hinblick darauf, dass die Sicherung mehrheitsfähiger Strukturen im Europäischen Parlament angesichts zehn neuer Mitgliedstaaten noch wichtiger geworden ist – sogar verstärkt haben. 27
Auch soweit sich der Einspruchsführer gegen das in § 2 Abs. 3 EuWG verankerte Berechnungsverfahren für die Sitzverteilung (Hare/Niemeyer) wendet, so liegt darin kein Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit nach § 1 Abs. 1 Satz 2 EuWG i. V. m. Artikel 38 Abs. 1 Grundgesetz. Der Deutsche Bundestag hat sich in derVergangenheit – auch anlässlich von Wahlprüfungsverfahren – wiederholt mit der Frage des verfassungsrechtlich richtigen Berechnungsverfahrens befasst (vgl. z. B. Bundestagsdrucksache 14/1560, Anlage 67). Dies geschah auch anlässlich eines Einspruchs des Einspruchsführers gegen die Bundestagswahl 2002. Auf die dortigen, dem Einspruchsführer bekannten Ausführungen wird – soweit sie nicht die spezifischen Auswirkungen des personalisierten Verhältniswahlsystems der Bundestagswahl betreffen – verwiesen (Bundestagsdrucksache 15/1850, Anlage 5). Hervorzuheben ist – wie dies auch in der Stellungnahme des Bundeswahlleiters zum Ausdruck kommt –, dass die Auswahl des Berechnungsverfahrens im Ermessen des Gesetzgebers liegt [BT-Drucks. 15/4750, 89 (93)] (BVerfGE 79, 169 <171>). Durch keines der drei üblichen Berechnungsverfahren (Hare/Niemeyer, Sainte-Laguë/Schepers, d’Hondt) können mathematisch exakt die Stimmenverhältnisse auf die Verteilung der Sitze der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments übertragen werden. 28
Hiervon zu trennen ist die nicht auf der verfassungsrechtlichen Ebene angesiedelte Frage, ob angesichts bestimmter – hier nicht näher zu erörternder – Effekte das Verfahren Hare/Niemeyer durch dasjenige nach Sainte-Laguë/Schepers ersetzt werden sollte. Der hierzu vom Bundesministerium des Innern vorgelegte Bericht vom 8. September 1999 ist Gegenstand parlamentarischer Beratungen. Diese Frage bedarf aber keiner Behandlung in einem Wahlprüfungsverfahren. Die Wahlprüfung ist nämlich allein auf die Feststellung von Wahlfehlern und deren Relevanz für die Verteilung der Mandate bei der Europawahl 2004 beschränkt. 29
Der Einspruch ist somit als offensichtlich unbegründet im Sinne des § 26 Abs. 2 EuWG in Verbindung mit § 6 Abs. 1a Nr. 3 WPrüfG zurückzuweisen. 30

 


Matthias Cantow