15. Deutscher Bundestag

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 6. November 2003

WP 214/02

BT-Drs 15/1850, 75 (Anlage 14)

„Negatives Stimmgewicht“


Informationen Informationen zur Entscheidung, Berichterstatterschreiben zur Wahlprüfungsbeschwerde, Entscheidungen 2000–heute

Beschluss

[BT-Drs 15/1850 (S. 75)] Zum Wahleinspruch
der Frau H. C.,
– WP 214/02 –
gegen
die Gültigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag am 22. September 2002
hat der Wahlprüfungsausschuss in seiner Sitzung vom 16. Oktober 2003 beschlossen,
dem Bundestag folgenden Beschluss zu empfehlen:

Entscheidungsformel:

Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen.

Tatbestand:

Mit Schreiben vom 22.  November 2002 hat die Einspruchsführerin gegen die Gültigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag Einspruch eingelegt. Sie stützt sich auf die wahlgesetzlich möglichen sog. negativen Stimmgewichte, indem unter bestimmten Voraussetzungen ein Weniger an Stimmen zum Erwerb eines zusätzlichen Mandats oder umgekehrt führen kann, und sieht hierin eine Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Wahl aus Artikel 38 Grundgesetz. 1
Die Bedeutung negativer Stimmgewichte wird durch mehrere hypothetische Beispiele verdeutlicht: So hätte die SPD ein Mandat mehr erhalten, wenn z. B. in Brandenburg die SPD 549 Zweitstimmen weniger bekommen hätte; dies wäre sogar bei einem Weniger von zusätzlichen 58 843 Stimmen eingetreten. Die CDU hätte ein Mandat mehr erhalten, wenn sie von mindestens 3 712 Wählern weniger gewählt worden wäre. Wären noch mehr diesem Beispiel gefolgt, wären noch mehr Mandate möglich gewesen. Hätten dagegen in Hamburg und in Brandenburg 7 800 Wähler statt der CDU die SPD gewählt, hätte die SPD einen Sitz verloren. Müssten in Berlin die Zweitstimmen erfolgreicher Direktbewerber, deren Partei die 5 %-Hürde nicht überwunden hat, unberücksichtigt bleiben, würde die SPD-Landesliste in Berlin bei einem Minus von mindestens 53 997 Stimmen einen Sitz zugunsten der Landesliste Bremen verlieren. Da in Berlin die SPD bisher alle Mandate mit Wahlkreisgewinnern besetzt, würde ihr (durch ein Überhangmandat) das Stimmenminus zu einem weiteren Sitz verhelfen. Die Einspruchsführerin betont, dass der Effekt negativer Stimmgewichte vorwiegend durch die Regelung des § 7 Abs. 3 i.V. m. § 6 Abs. 4 und 5 BWG in Ländern auftrete, in denen die Zahl der Direktmandate die der zugeteilten Proporzmandate übersteigt oder – wie in Berlin – gleich groß ist. Für die CDU sei dies bei der Bundestagswahl 2002 in zwei Ländern, für die SPD in 9 Ländern der Fall. 2
Im ungünstigsten Fall könne damit eine Partei bzw. Koalition mit der Minderheit der zu wertenden Zweitstimmen die Mehrheit der Bundestagsmandate erringen. Hierauf sei in verschiedenen Medien hingewiesen worden; im Internet habe es Tipps zum „richtigen“ Stimmensplitting gegeben. Daher könne nicht mehr von unvorhersehbaren oder gar zufälligen Sachverhalten gesprochen werden. Mitglieder, Anhänger und Wähler betroffener Landeslisten seien daher gezwungen gewesen, „ihre“ Partei nicht zu wählen, um ihr nicht zu schaden. Da die §§ 6 und 7 BWG die vom Bundesverfassungsgericht betonte Vorgabe an ein Wahlverfahren, das eine selbstbestimmte und rationale Entscheidung des Wählers ermögliche (vgl. BVerfGE 95, 335 <350>) nicht erfüllten, seien sie verfassungswidrig. 3
Erläuternd weist die Einspruchsführerin darauf hin, dass es auch ohne Überhangmandatsregelung durch das Hare-Niemeyer-Verfahren zu negativen Stimmgewichten kommen könne, was auch der Bundeswahlleiter bereits in seiner Stellungnahme zu einem Einspruch gegen die Bundestagswahl 1998 bestätigt habe (Bundestagsdrucksache 14/1560, S. 176 f.). 4
Der Bundeswahlleiter hat in seiner Stellungnahme vom 10. Januar 2003 die Berechnungsbeispiele bis auf eines als zutreffend bezeichnet. Zur Verdeutlichung sollen hier zwei beispielhaft wiedergegeben werden. Im ersten Beispiel (549 Zweitstimmen der SPD in Brandenburg weniger) hätte die SPD-Landesliste Brandenburg einen Sitz weniger (9 statt 10) und die SPD-Landesliste Bremen 3 statt 2 erhalten. In Brandenburg wäre somit bei 10 Direktmandaten ein Überhangmandat angefallen; insgesamt gäbe es für die SPD 5 statt 4 Überhangmandate und somit 252 statt 251 Sitze. Dasselbe wäre auch bei einem weiteren Minus von 58 843 SPD-Zweitstimmen in Brandenburg eingetreten. Im vierten Beispiel (53 997 SPD-Zweitstimmen weniger in Berlin) hätte die SPD-Landesliste in Berlin 8 statt 9 Sitze, die SPD-Landesliste in Bremen aber drei statt zwei Sitze erhalten. In Berlin wäre somit bei 9 direkt gewonnenen Wahlkreisen ein Überhangmandat angefallen. Zur Fallgestaltung, dass die CDU bei 3 712 Zweitstimmen weniger ein Mandat mehr erhalten hätte, wird zunächst angemerkt, dass bei diesem Beispiel die Angabe der betroffenen Landesliste fehle. Ein Mandatsgewinn sei aber nur in einem Land möglich, in dem für die CDU Überhangmandate angefallen sind. Beziehe man das Beispiel auf Sachsen, ergäben sich bei der Sitzverteilung auf die CDU-Landeslisten in Brandenburg und in Sachen jeweils gleiche Zahlenbruchteile mit der Folge eines Losentscheids (§ 6 Abs. 2 Satz 5 BWG). Nur wenn das Los auf Brandenburg falle, gäbe es eine Veränderung gegenüber dem amtlichen Endergebnis. Die CDU-Landesliste in Sachsen erhielte dann 11 statt 12 Sitze, diejenige in Brandenburg [BT-Drs 15/1850 (S. 76)] statt 4. Bei 13 Direktmandaten der CDU in Sachsen entfielen dort auf sie zwei statt eines Überhangsmandats und eine Gesamtzahl von 191 statt 190 Mandaten. Ergänzend weist der Bundeswahlleiter darauf hin, dass das gleiche Ergebnis bereits aufgrund der Zuteilung nach höchsten Zahlenbruchteilen, d. h. ohne Losentscheid, einträte, wenn auf die CDU-Landesliste in Sachen nur eine zusätzliche Stimme weniger (3 713) entfallen wäre. 5
Abschließend ist für den Bundeswahlleiter ein Wahlfehler unter Bezugnahme auf seine Stellungnahme zu einem anderen, derselben Thematik gewidmeten Wahleinspruch (WP 182/02) nicht ersichtlich. Die Vorschriften zu Überhangmandaten seien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundgesetz vereinbar. Konstellationen negativer Stimmgewichte seien bereits Gegenstand eines Wahlprüfungsverfahrens zur Bundestagswahl 1998 (WP 65/98 – Bundestagsdrucksache 14/1560, Anlage 67) und einer hieran anschließenden Wahlprüfungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (2 BvC 5/99) gewesen, die vom Gericht als offensichtlich unbegründet verworfen worden sei. Die Bundestagswahl 2002 sei ordnungsgemäß nach den Vorschriften des Bundeswahlgesetzes durchgeführt und die Sitzverteilung nach dem dort vorgesehenen Verfahren Hare/Niemeyer berechnet worden. Der Hinweis, die Effekte könnten durch Änderungen des Wahlrechts vermieden werden, sowie Fragen zur Zweckmäßigkeit des geltenden Rechts seien für die Frage eines Wahlfehlers ohne Belang. 6
Der Wahlprüfungsausschuss hat nach Prüfung der Sachund Rechtslage beschlossen, gemäß § 6 Abs. 1a Nr. 3 Wahlprüfungsgesetz von der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung abzusehen. 7

Entscheidungsgründe

Der Einspruch ist form- und fristgerecht beim Deutschen Bundestag eingegangen. Er ist zulässig, jedoch offensichtlich unbegründet. 8
Zu erinnern ist zunächst daran, dass sich der Wahlprüfungsausschuss und der Deutsche Bundestag in ständiger Praxis nicht als berufen ansehen, die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsvorschriften, hier der den Effekt negativer Stimmengewichte nicht ausschließenden Regelungen, festzustellen. Diese Kontrolle ist stets – so zuletzt in der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 6. Juni 2003 – Bundestagsdrucksache 15/1150 – dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten worden. Unbeschadet dessen werden aber schon die verfassungsrechtlichen Einwände nicht geteilt. 9
Wie schon zu Einsprüchen gegen die Bundestagswahl 1998 festgestellt, ist der mögliche Effekt eines negativen Erfolgswerts bei gewissen Zweitstimmenkonstellationen mit der Existenz von Überhangmandaten im Rahmen der gesetzlichen Regelung verbunden (vgl. Bundestagsdrucksache 14/1560, S. 177, 185). Bereits in diesen Wahlprüfungsentscheidungen ist auch angemerkt, dass das Bundesverfassungsgericht in Kenntnis möglicher negativer Stimmeffekte die das Entstehen von Überhangmandaten ermöglichenden Wahlrechtsbestimmungen für verfassungsgemäß erklärt hat. Der angesprochene Effekt war als „inkonsequente Ausgestaltung“ von der Antragstellerin des Organstreits vorgetragen und in der mündlichen Verhandlung vom Bundeswahlleiter als möglich bezeichnet worden (BVerfGE 95, 335 <343><346>). 10
Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht die gegen die vorgenannten Wahlprüfungsentscheidungen eingelegten Beschwerden jeweils mit Beschluss vom 22. Januar 2001 (2 BvC 1/99 und 5/99) verworfen und nur ausgeführt, dass sie aus den durch ein Berichterstatterschreiben mitgeteilten Erwägungen offensichtlich unbegründet seien. Im Berichterstatterschreiben wird laut Schreiber (Handbuch des Wahlrechts, 7. Auflage, § 6 Rn. 6b) darauf verwiesen, dass mit der Entscheidung des Gesetzgebers für eine personalisierte Verhältniswahl der Erfolgswertgleichheit aller Stimmen nur eine von vornherein begrenzte Tragweite zukomme, so dass der beanstandete Effekt eines negativen Erfolgswertes der Wählerstimmen, zu dem das Berechnungsverfahren Hare/Niemeyer führe, nicht die Verfassungswidrigkeit der geltenden Regelung bewirken könne. 11
Auch die von der Einspruchsführerin genannte Möglichkeit, dass im ungünstigsten Fall der beschriebene Effekt für die Bildung der Mehrheit oder Minderheit im Bundestag ausschlaggebend sein könnte, und der Hinweis auf „Tipps“ zur richtigen Stimmabgabe können nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Dem Gesetzgeber ist in der Verfassungsrechtsprechung ein Gestaltungsspielraum bei der Festlegung des Wahlsystems einschließlich der Entscheidung für ein bestimmtes Berechnungsverfahren eingeräumt worden (vgl. z. B. BVerfGE 79, 169 <171>). Dies impliziert die Möglichkeit, dass in Grenzfällen alternativ denkbare Ausgestaltungen und z. B. Berechnungsverfahren nicht nur zu unterschiedlichen Resultaten führen, sondern sogar hinsichtlich der Mehrheitsbildung voneinander abweichen können. Auch gewisse Empfehlungen zur „richtigen“ Stimmabgabe machen die hierfür geeigneten Regelungen grundsätzlich nicht verfassungswidrig. So hat der Wahlprüfungsausschuss mit Blick auf das Stimmensplitting in der 13. Wahlperiode ausdrückliche oder stillschweigende Wahlabsprachen über „Leihstimmen“ grundsätzlich als zulässig angesehen (vgl. Bundestagsdrucksache 13/3928, Anlage 22, S. 54 f.). Für verfassungsrechtliche Bedenken, die bei Vorliegen eines Mißbrauchs der rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten entstehen könnten, wurde im Hinblick auf die seinerzeitige Rüge, CDU-Politiker hätten zur Abgabe der Zweitstimme für die FDP aufgefordert, kein ersichtlicher Anhaltspunkt erkannt. 12

 


Matthias Cantow