Bundesverfassungsgericht

[Wahlprüfung]

Berichterstatterschreiben vom 16. Juni 2000

2 BvC 1/99

 

„Negatives Stimmgewicht – Unmittelbarkeit“


Entscheidung, Entscheidungen 2000–heute

[Seite 1] Ihre Beschwerde gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 30. September 1999

Sehr geehrter Herr Z...,
es bestehen Bedenken gegen die Erfolgsaussichten Ihrer o.a. Wahlprüfungsbeschwerde. 1
Für Bundestagswahlen folgt aus Art. 38 Abs. 3 GG, dass die Festlegung des Wahlverfahrens Sache des Gesetzgebers ist. Im Wahlprüfungsverfahren nach Art. 41 Abs. 2 GG i.V.m. § 48 BVerfGG kontrolliert das Bundesverfassungsgericht die zutreffende Anwendung und die Verfassungsmäßigkeit der in Kraft befindlichen Vorschriften des Wahlrechts (vgl. BVerfGE 16, 130 <136>; 21, 200 <204>; 59, 119 <124>; 95, 408 <420>). Die Prüfung erstreckt sich auf die substantiiert geltend gemachten Verstöße bei der Vorbereitung und der Durchführung der Wahl bis hin zur Feststellung des Wahlergebnisses (vgl. BVerfGE 40, 11 <30>; 66, 369 <379 f.>; 89, 243 <240 f.>). Materielle Relevanz gewinnen grundsätzlich nur gerügte Wahlfehler, die die gesetzmäßige Zusammensetzung des Deutschen Bundestages, also die konkrete Mandatsverteilung beeinflussen können (BVerfGE 79, 173 ; 85, 148 ; 89, 243 <254>; 89, 291 <304>). 2
Einen Verstoß gegen Wahlrechtsgrundsätze haben Sie nicht dargelegt. Soweit Sie sich gegen das Proportionalverfahren nach Hare-Niemeyer für die Unterverteilung der Landeslistenmandate wenden, ist auf die dazu ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen. Danach ist das Verteilungsverfahren nach Hare-Niemeyer als zur Wahrung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit verfassungskonform zu beurteilen (vgl. BVerfGE 79, 165 [sic!] <171>). Der von [Seite 2] Ihnen weiterhin beanstandete Umstand, dass einer Partei auf der Grundlage des geltenden Rechts und unabhängig von der Frage möglicher Überhangmandate gerade deshalb mehr Sitze zuzuteilen sein können, weil sie in bestimmten Ländern weniger Stimmen erhalten habe, ist in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 19. November 1996 im Verfahren 2 BvF 1/95 erörtert worden (vgl. BVerfGE 95, 335 <346>). Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung dieses Verfahrens ausdrücklich festgestellt (BVerfGE 95, 335 <362>): 3
Das geltende Bundeswahlgesetz Gewähr leistet, dass jeder Wähler mit seiner Erst- und Zweitstimme und deren Zusammenwirken die gleiche rechtliche Möglichkeit hat, auf das Wahlergebnis Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfGE 11, 351 <360>).
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Im Hinblick auf die von Ihnen geltend gemachte Erfolgswertgleichheit aller Stimmen hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung in Kenntnis des von Ihnen beanstandeten Effekts eines negativen Erfolgswerts darüber hinaus festgestellt (BVerfGE 95, 335 <358>): 5
Mit der Entscheidung des Gesetzgebers, die Hälfte der Abgeordneten in den Wahlkreisen, die andere Hälfte über Parteilisten – und zwar vorgeschaltet vor den Verhältnisausgleich – wählen zu lassen, kommt der verfassungsrechtlichen Erfolgswertgleichheit aller Stimmen nur eine von vornherein begrenzte Tragweite zu. Die Rechtfertigung dieser differenzierten Regelung ergibt sich aus der Entscheidung des Gesetzgebers für eine personalisierte Verhältniswahl mit ihrem besonderen Anliegen, durch die Wahl der Wahlkreiskandidaten eine engere persönliche Beziehung zumindest der Hälfte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages in ihrem Wahlkreis zu gewährleisten.
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Soweit Sie eine unangemessen lange Dauer des Einspruchsverfahrens rügen, kann dahin gestellt bleiben, ob der Deutsche Bundestag dem Anliegen des Wahlprüfungsverfahrens nach alsbaldiger und verbindlicher Klärung (vgl. BVerfGE 21, 359 <361 f.>; 85, 148) ausreichend Rechnung getragen hat. Mängel im Verfahren des Bundestages können für die Beschwerde nur beachtlich sein, wenn sie der Entscheidung des Bundestages die Grundlage entziehen (vgl. BVerfGE 89, 243 <249>). Eine solche Konstellation ist bei der zeitlichen Gestaltung des Einspruchsverfahrens hier ersichtlich nicht gegeben. 7
Ich gebe Ihnen Gelegenheit zu prüfen, ob die Beschwerde aufrechterhalten bleiben soll. Binnen eines Monats nach Zustellung dieses Schreibens haben Sie die Möglichkeit, zu den dargelegten Bedenken Stellung zu nehmen. 8
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Jentsch
Bundesverfassungsrichter

 


Matthias Cantow