13. Deutscher Bundestag

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 30. November 1995

WP 1077/94

BT-Drucks. 13/2800, 53 (Anlage 19)

„Grundmandatsklausel“


Entscheidungen 1990–1999

Beschluß

[BT-Drucks. 13/2800, 53 (53)] In der Wahlanfechtungssache
– WP 1077/94 –
des Herrn Dr. H.,
gegen
die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag am 16. Oktober 1994
hat der Deutsche Bundestag in seiner 74. Sitzung am 30. November 1995 beschlossen:

Entscheidungsformel:

Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen.

Tatbestand:

Mit Schreiben vom 15. November 1994 an die Präsidentin des Deutschen Bundestages hat der Einspruchsführer gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag Einspruch eingelegt. 1
Zur Begründung seines Einspruchs hat der Einspruchsführer vorgetragen, er greife die Verteilung der Sitze auf die Landesliste gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes (BWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Juli 1993 (BGBl. I S. 2059) als verfassungswidrig an, soweit die Sitzverteilung auf der Grundmandatsklausel dieser Vorschrift beruhe, wonach die Sperrklausel des § 6 Abs. 6 Satz 1 erster Halbsatz BWG überwunden werden könne, wenn Parteien in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen hätten. Der Einspruch richte sich nicht gegen die 5 %-Klausel des § 6 Abs. 6 Satz 1 erster Halbsatz BWG, auch nicht gegen die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages, soweit dieser auf der Regelung des § 6 Abs. 5 BWG beruhe, da insoweit diese Regelung zugunsten der Erhaltung von Überhangmandaten als verfassungsgemäß angesehen werden müsse. Selbstverständlich richte sich der Einspruch auch nicht gegen die direkten Wahlen, die auf § 5 Satz 2 BWG beruhten. Er begrenze den Anfechtungsgegenstand ausdrücklich auf die Sitzverteilung, soweit sie auf der Grundmandatsklausel des § 6 Abs. 6 Satz 1 zweiter Halbsatz BWG beruhe. 2
Das Wahlprüfungsverfahren diene dem Schutz des objektiven Wahlrechts. Es sei dazu bestimmt, die richtige Zusammensetzung des Deutschen Bundestages zu gewährleisten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei Gegenstand der Wahlprüfung nicht die Verletzung subjektiver Rechte, sondern die Gültigkeit der Wahl als solche. Gegenstand der Wahlprüfung sei die Gesamtheit der Wahlvorgänge auf Einhaltung des objektiven Rechts, soweit sie die gesetzmäßige Zusammensetzung des Deutschen Bundestages beträfen. Dabei könne inzident auch die Verfassungsmäßigkeit des Wahlgesetzes geprüft werden. 3
Mit dem Einspruch werde nicht geltend gemacht, daß § 6 Abs. 6 Satz 1 zweiter Halbsatz BWG nicht richtig angewandt worden sei. Es werde vielmehr das Ergebnis seiner Anwendung als verfassungswidrig angesehen, da die genannte Vorschrift selbst verfassungswidrig und damit nichtig sei. Obgleich sich ohne eine Aussage über die Verfassungsmäßigkeit der einer Sitzverteilung zugrunde gelegten Vorschriften eine Aussage über die Gültigkeit der Wahlen und die rechtmäßige Sitzverteilung nicht treffen lasse, sei es entgegen der herrschenden Lehre ständige Praxis des Deutschen Bundestages, im Wahlprüfungsverfahren eine Nonnenkontrolle nicht durchzuführen. Durch diese Einschränkung der Prüfungsbefugnis werde aber ein auf die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift des Wahlrechts gestützter Einspruch nicht unzulässig. 4
Die Anwendung der als verfassungswidrig angesehenen Vorschrift des § 6 Abs. 6 Satz 1 zweiter Halbsatz BWG sei auch erheblich. Eine Nichtanwendung dieser Vorschrift ergäbe eine andere Zusammensetzung des Deutschen Bundestages, da sich die Sperrklausel des § 6 Abs. 6 Satz 1 erster Halbsatz BWG uneingeschränkt auswirke. Das ergäbe sich aus folgendem: Der Bundeswahlleiter habe am 2. November 1994 das amtliche Endergebnis der Wahl zum Deutschen Bundestag bekanntgegeben. Danach hätten folgende Parteien die 5 %-Klausel überwinden können: CDU, SPD, F.D.P., CSU und BÜNDNIS 90/DDE GRÜNEN. Die PDS habe 2 066 176 Zweitstimmen erzielt und damit nicht mindestens 5 % der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten, sondern nur 4,4 %. Gleichwohl sei die PDS gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 zweiter Halbsatz BWG bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten mit 30 Sitzen berücksichtigt worden, weil sie in den Wahlkreisen 249 (Berlin-Mitte/Prenzlauer Berg), 258 (Berlin-Friedrichshain/Lichtenberg), 260 (Berlin-Hellersdorf, Marzahn) und 261 (Berlin-Hohen-schönhausen/Pankow-Weißensee) vier Direktmandate [BT-Drucks. 13/2800, 53 (54)] erzielt habe. Es sei unstreitig, daß diese Direktmandate auch bei einer möglichen Verfassungswidrigkeit des § 6 Abs. 6 Satz 1 zweiter Halbsatz BWG erhalten blieben. Bei einer Verfassungswidrigkeit des § 6 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz BWG würden aber 26 Sitze der PDS nicht zufallen. Dieser Wahlfehler sei also von Erheblichkeit für die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages. Die Sitzverteilung müsse dahin geändert werden, daß bei Beibehaltung der Sitzverteilung im übrigen auf die PDS nur vier Sitze entfielen. 5
Zur Begründung der Rechtsansicht, § 6 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz BWG sei verfassungswidrig, hat der Einspruchsführer vorgetragen, das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 29. September 1990 (BVerfGE 82, 339) zwar betont, daß die erste gesamtdeutsche Wahl des Deutschen Bundestages unter besonderen Umständen stattfinde, die eine unveränderte Aufrechterhaltung der herkömmlichen, wahlgebietsbezogenen Sperrklausel von 5 % nicht erlaubten, eine regionale Sperrklausel hingegen verfassungsrechtlich unbedenklich sei. Das Bundesverfassungsgericht habe aber wiederholt betont, daß es mit dieser Entscheidung lediglich die Wahl zum 12. Deutschen Bundestag beurteile und daß die erste gesamtdeutsche Wahl des Deutschen Bundestages unter besonderen, so nicht wiederkehrenden Umständen stattfinde. Das Bundesverfassungsgericht habe ausdrücklich hervorgehoben, daß ein Quorum von 5 % in aller Regel verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn auch vorübergehend davon abgewichen werden könne. Deswegen erscheine eine Begünstigung einer Partei, die nur regionale oder vielmehr nur lokale, nämlich in dem ehemaligen Ostberlin, vier Mandate unmittelbar errungen habe, jedenfalls nicht durch die Gründe zwingend geboten, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 29. September 1990 als Folge der besonderen Umstände der ersten gesamtdeutschen Wahl ins Feld geführt habe. Das Bundesverfassungsgericht habe in der genannten Entscheidung noch einmal die Rechtfertigung dafür formuliert, daß der Erfolgswert der Stimmen durch die Sperrklausel des § 6 Abs. 6 Satz 1 erster Halbsatz BWG unterschiedlich gewertet werden könne. Gehe man von diesem Ziel und dieser Rechtfertigung und davon aus, daß eine kleine Gruppe, die die Bildung einer stabilen Mehrheit erschwere oder verhindere, durch den Schwellenwert von 5 % der Zweitstimmen definiert werde, so sei die Grundmandatsregelung des § 6 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz BWG nicht verfassungsgemäß. Zur näheren Begründung dieser Rechtsauffassung hat sich der Einspruchsführer auf mehrere Autoren in der wissenschaftlichen Literatur berufen und sich deren Meinung zu eigen gemacht. 6
Wegen der Einzelheiten des Vertrags des Einspruchsführers wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen. 7
Der Einspruchsführer hat seine Rechtsauffassung auch in einem wissenschaftlichen Aufsatz unter dem Titel „Die Verfassungswidrigkeit der Grundmandatsklausel“ (§ 6 Abs. 6 des Bundeswahlgesetzes) veröffentlicht (DVBl. 1995, Heft 6, S. 265–273). 8
2. Der Einspruchsführer hat auf eine mündliche Verhandlung gemäß § 6 Abs. 1 i. V. mit § 6 Abs. 4 des Wahlprüfungsgesetzes (WPG) verzichtet. 9

Entscheidungsgründe:

Der Einspruch ist form- und fristgerecht beim Deutschen Bundestag eingegangen; er ist zulässig, jedoch offensichtlich unbegründet. 10
Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes können im Ergebnis keinen Erfolg haben, weil das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung die Regelung des Bundeswahlgesetzes zur Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 6 Satz 1 zweite Alternative BWG) für verfassungsgemäß erklärt hat. Zwar wird in der juristischen Literatur das – neben der 5 %-Klausel –alternative Erfordernis der Erringung von mindestens drei Direktsitzen zum Teil generell, zum Teil für den Fall der Ausnutzung im Rahmen von Wahlabsprachen als gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verstoßend beurteilt und auf die Systemwidrigkeit hingewiesen. Zur Begründung führen die Autoren aus, daß die Grundmandatsklausel das auf Artikel 21 GG beruhende Recht der Parteien auf Gleichbehandlung verletze. Sie führe zu einer extremen Verzerrung der Erfolgswertgleichheit der Stimmen bzw. zu einer einseitigen und ausgeprägten Bevorzugung der Parteien mit lokalem oder regionalem Schwerpunkt. Die Privilegierung kleiner Parteien mit lokalem oder regionalem Schwerpunkt sei aber im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments durch nichts gerechtfertigt (ausführliche Nachweise finden sich bei Wolfgang Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 5. Auflage, Köln 1994, § 6 Rn. 20). 11
In der Anwendung des § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG, wonach bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nur Parteien berücksichtigt werden, die mindestens 5 % der im Wahlgebiet abgegebenen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben, liegt indes kein Wahlfehler. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mit zutreffender und nachvollziehbarer Begründung das alternative Erfordernis der Erringung von mindestens drei Direktmandaten als verfassungsgemäß bewertet (BVerfGE 1, 208 <258 f.>; 4, 31 <40>; 5, 77 <83>; 6, 84 <95 f.>; vgl. auch BVerfGE 16, 130 <137, 140>; 20, 117 f.). 12
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht nie ein Hehl daraus gemacht, daß der dem Gesetzgeber bei der Gestaltung des Verhältniswahlrechts nach dem Grundsatz der gleichen Wahl belassene Ermessensspielraum angesichts des Ausgangspunkts von der demokratischen Gleichberechtigung der Staatsbürger und von der Gleichbewertung der politischen Parteien im System des Grundgesetzes eng bemessen ist (vgl. BVerfGE 1, 249; 4, 382 f.; 6, 94). Das Gericht hegt aber keinen Zweifel daran, daß die Ausübung des gesetzgeberischen Ermessens in diesen [BT-Drucks. 13/2800, 53 (55)] Grenzen strikt zu beachten ist. Das Gericht hat im Rahmen seiner Zuständigkeit keineswegs geprüft, ob die innerhalb dieses Rahmens vom Gesetzgeber gefundene Lösung ihm zweckmäßig oder rechtspolitisch erwünscht erscheint. Es hätte Bestimmungen eines Wahlgesetzes wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit vielmehr auch nur dann für nichtig erklären können, wenn die Regelungen nicht an dem Ziel orientiert gewesen wären, Störungen des Staatslebens zu verhindern, oder wenn sie das Maß des Erforderlichen zur Erreichung dieses Zieles überschritten hätten. 13
Das Bundesverfassungsgericht zögert nicht, in der Verhältniswahl beim Erfolgswert der Stimmen im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes aus vernünftigem Grund begrenzte Differenzierungen als gerechtfertigt zu erachten. Solche Ausnahmen von der absoluten formalen Gleichheit des Erfolgswertes werden durch den allgemeinen Gleichheitssatz gedeckt (BVerfGE 4, 39, 40). Eben deshalb steht es dem Gesetzgeber frei, von einem zulässigen Quorum Ausnahmen zu gestatten und Parteien, die das Quorum nicht erreichen, zur Mandatszuteilung zuzulassen, wenn ein zureichender Grund für diese Sonderbehandlung gegeben ist. Zu solchen Gründen zählte das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 4, 40) die Einigung eines Direktmandates bei Kombination von Mehrheits- und Verhältniswahl sowie größere Stimmenzahl in Teilen des Wahlgebietes. Es unterliegt der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, der für die Verhältniswahl oder für den Verhältnisausgleich ein Quorum vorsieht, ob er zugunsten von Schwerpunktparteien eine Ausnahme vom Quorum zulassen will. Ebenso kann er definieren, welche Gruppierungen er als Schwerpunktpartei ansehen will. Das Bundesverfassungsgericht betont ausdrücklich, daß der Gesetzgeber weitergehend sogar die Möglichkeit hat, neben dem Kriterium des Schwerpunktes oder statt seiner andere Kriterien der „Bedeutsamkeit“ vorzusehen, die zu einer Berücksichtigung bei der Mandatszuteilung führen, obwohl das Quorum nicht erreicht ist. 14
Die Modifizierung der Erfolgswertgleichheit der Stimmen, wie sie in § 6 Abs. 6 Satz 1 zweite Alternative normiert ist, findet auch eine tragfähige Begründung. Sie ist mit dem Grundsatz der gleichen Wahl vereinbar, da sie die notwendige Folge des besonderen Charakters der personalisierten Verhältniswahl ist. Das Bundeswahlgesetz hat vor den Verhältnisausgleich eine Personenwahl nach relativer Mehrheit in den Wahlkreisen gesetzt. Durch die Vorschaltung der Mehrheitswahl soll eine engere persönliche Beziehung des Wahlkreisabgeordneten zu dem Wahlkreis, in dem er gewählt worden ist, geknüpft werden. Der Bundesgesetzgeber hat sich für eine „mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“ entschieden und legt besonderes Gewicht auf die Wahl von Abgeordneten in Wahlkreisen. Der Charakter der Volksvertretung soll auch durch die Anwesenheit von Abgeordneten bestimmt werden, die eine persönliche Beziehung zu ihrem Wahlkreis haben. Diese Beimischung von Elementen des Mehrheits Wahlrechtes rechtfertigt es, bei dem grundsätzlich beschränkten Verhältnisausgleich Parteien, die sich in der Mehrheitswahl im Wahlkreis durchgesetzt haben, gegenüber solchen Parteien zu bevorzugen, die dieses Ziel des Bundeswahlgesetzes nicht erreicht haben (BVerfGE 6, 95, 96). Diese spezifische Intention des Gesetzgebers rechtfertigt es, daß jene Parteien, die drei Direktmandate erzielt haben, unter Außerachtlassung der 5 %-Klausel für parlamentswürdig gehalten werden, weil sie sich in lokalen Schwerpunkten als politisch bedeutsam erwiesen und zugleich in besonderer Weise dem Anliegen der personalisierten Verhältniswahl entsprochen haben. Schon der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in seinem Urteil vom 3. Juni 1954 (BVerfGE 3, 397) ausgeführt, daß es in einem Wahlsystem, das die Wahl in den Wahlkreisen bevorzuge, nur folgerichtig sei, daß eine Schwerpunktpartei auf eine gewisse Stimmenzahl Mandate erhalte, während eine verstreute Partei u. U. auch mit einer erheblich größeren Stimmenzahl leer ausgehe. In seiner Entscheidung (BVerfGE 6, 96) betont das Bundesverfassungsgericht nochmals, daß der Bundesgesetzgeber mit dieser Normierung des Wahlverfahrens die Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit bei der Konkretisierung des Grundsatzes der gleichen Wahl nicht überschritten habe. Die Bevorzugung der Parteien mit drei Direktmandaten beim Verhältniswahlausgleich sei gerade aus den Grundlagen des eigenartig gestalteten Wahlsystems des Bundeswahlgesetzes heraus zu rechtfertigen und verstoße daher nicht gegen den Grundsatz der gleichen Wahl. Ob der Gesetzgeber als Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich ein einziges Direktmandat oder mehrere Direktmandate fordere, unterliege seiner freien Entscheidung. 15
Der Gesetzgeber verfolgt mit der Grundmandatsklausel noch ein weiteres Ziel: Gerade die Kombination von 5 %-Klausel und Grundmandatsklausel verschafft den kleineren Parteien eine größere Chance, da bei dem Gewinn dreier Wahlkreismandate die betreffende Partei nicht nur im dem Lande, in dem sie die Wahlkreise zu erobern vermochte, sondern in sämtlichen Ländern der Bundesrepublik Deutschland an der Mandatszuteilung auf die Landeslisten teilnimmt. Diesen Gesichtspunkt hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 5, 83) als durchaus gerechtfertigt erachtet. Das Bundesverfassungsgericht betont, daß die Grundmandatsklausel die Grenzen, die dem Gesetzgeber durch den Grundsatz der Wahlgleichheit bei der allgemeinen Beschränkung des Verhältnisausgleiches gesetzt sind, eben deshalb nicht überschreitet, weil sie gegenüber dem Erfordernis von 5 % der Gesamtstimmenzahl eine Erleichterung für die kleinen Parteien darstellt (BVerfGE 6, 95). 16
Nicht zuletzt ist das Bundesverfassungsgericht der Auffassung, daß der Grundmandatsklausel die Rechtfertigung aus dem Gesichtspunkt der „Parlamentswürdigkeit“ zuwächst. Auch eine Partei, die nicht im ganzen Land das generelle Quorum zu erreichen vermöchte, erweise eben diese spezifische Parlamentswürdigkeit dadurch, daß sie in der Mehrheitswahl Erfolg habe. Aus der Zulässigkeit der reinen Mehrheitswahl folge, daß ein Wahlgesetz als einzige Bedingung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich einen Erfolg in der Mehrheitswahl fordern darf (BVerfGE 1, 258). Die besondere Dignität, die [BT-Drucks. 13/2800, 53 (56)] jenen Parteien zukommt, die Direktmandate zu gewinnen vermögen, hat das Bundesverfassungsgericht frühzeitig zum Ausdruck gebracht: Es stellte bereits in seinem Urteil vom 5. April 1952 fest, daß Parteien mit kleiner Stimmenzahl dann nicht als Splitterparteien anzusehen seien, wenn sie einen örtlichen Schwerpunkt hätten (BVerfGE 1, 252). 17
Schließlich betont das Bundesverfassungsgericht, daß auch bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen des Wahlgesetzes Gesichtspunkte politischer Opportunität nicht außer acht bleiben dürfen. Die Entscheidungen des Gerichts seien auf politische Realitäten bezogen, und das Gericht dürfe den politischen Raum nicht außer acht lassen, in dem sich seine Entscheidungen auswirkten. Dies bedeute konkret, daß die Wahlrechtsgleichheit im Rahmen des Staatsganzen beurteilt werden müsse (BVerfGE 1, 259). 18
All dies besagt nichts weniger, als daß die bestehende Regelung verfassungskonform ist – die von dem Einspruchsführer gewünschten Regelungen indes ebenfalls verfassungskonform wären. Rechtspolitische Entscheidungen dieser Art sind Angelegenheiten der Zukunft. Für die Beurteilung der Wahlen zum 13. Deutschen Bundestag sind rechtspolitische Wünsche indes unerheblich. Grundlage der Entscheidung über die Begründetheit des Einspruchs ist ausschließlich das geltende Recht. Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht geltende Vorschriften des Bundeswahlgesetzes für nichtig erklären sollte, wirkte diese Entscheidung lediglich ex nunc, keineswegs aber ex tunc. 19
Es trifft zwar zu, daß der Deutsche Bundestag üblicherweise erklärt, eine Überprüfung des Bundeswahlgesetzes auf dessen Verfassungsmäßigkeit lehne er im Wahlprüfungsverfahren ab. Diese Formel, die auch in der Literatur stets wiederholt wird, stellt aber die Praxis des Deutschen Bundestages nicht vollständig dar. Der Wahlprüfungsausschuß hat sich zwar nie verleiten lassen, die Verfassungswidrigkeit seiner Wahlrechtsvorschrift selbst festzustellen oder offen Kritik dieser Art zu bestätigen. Er hat aber ebenfalls in ständiger Übung entweder Vorwürfe der Verfassungswidrigkeit ausdrücklich als unbegründet zurückgewiesen oder sich mit Argumenten zur Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsvorschriften im Sinn der Verteidigung des geltenden Rechts auseinandergesetzt. Würde im Wahlprüfungsverfahren anders entschieden, würden diejenigen Wähler ungerechtfertigt und unverhältnismäßig benachteiligt, die bei der Wahl auf die Gültigkeit der Wahlrechtsvorschriften vertrauen durften und ihre Wahlentscheidung darauf aufgebaut haben. 20
Der Einspruch ist daher gemäß § 6 Abs. 1 a Nr. 3 des Wahlprüfungsgesetzes (WPG) als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen. 21

 


Matthias Cantow