Bundesverfassungsgericht

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 26. August 1961

2 BvR 322/61

BVerfGE 13, 127 = DÖV 1961, 866

„Wahlkreiseinteilung“


Entscheidungen 1960–1969

Leitsatz:

Dadurch, daß im Rahmen der zur Zeit gültigen Wahlkreiseinteilung die auf einen Wahlkreisabgeordneten entfallenden Bevölkerungszahlen in einzelnen Fällen erheblich voneinander abweichen, wird das Gebot des gleichen Erfolgswertes jeder Wählerstimme nicht in strukturwidriger Weise in Frage gestellt. LS 1

[BVerfGE 13, 127 (127)] Beschluß

des Zweiten Senats vom 26. August 1961
 durch den gemäß § 91 a BVerfGG gebildeten Ausschuß
– 2 BvR 322/61 –

in dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde

1. des Schriftstellers R... S..., Berlin-Steglitz
2. des Studenten der Architektur H... M..., Stuttgart W,
gegen
das Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 sowie gegen alle Hoheitsakte, durch die auf Grund dieses Wahlgesetzes die Durchführung der Wahl zum 4. Bundestag angeordnet worden ist.

Entscheidungsformel:

Die Verfassungsbeschwerde vom 18. August 1961 wird gemäß § 91 a Absatz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 243) in der Fassung vom 21. Juli 1956 (BGBl. I S. 662) verworfen.
Damit erledigen sich auch die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung und Bewilligung des Armenrechts.

Gründe:

Die Beschwerdeführer, zwei in der Bundesrepublik wahlberechtigte Bürger, fühlen sich durch die an der Bevölkerungszahl gemessen unterschiedliche Größe der Wahlkreise in ihren Grundrechten aus Art. 3 und Art. 38 GG verletzt. Sie rügen unter Bezugnahme auf den Bericht der Wahlkreiskommission vom 20. Juni 1958 (BT III/1958 Drucks. 677), daß der Gesetzgeber es unterlassen hat, die Wahlkreiseinteilung der seit dem Erlaß des Bundeswahlgesetzes erfolgten Bevölkerungsverschiebung anzupassen. Dadurch werde der Erfolgswert der Wählerstimmen in verfassungswidriger Weise differenziert. Die Beschwerdeführer regen ferner an, die auf den 17. September 1961 festgesetzte Bundestagswahl durch einstweilige Anordnung bis zur Entscheidung über ihre Verfassungsbeschwerde auszusetzen, und bitten um die Gewährung des Armenrechts. 1
Ob die Verfassungsbeschwerde zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt ist, kann offenbleiben, da die Verfassungsbeschwerde jedenfalls offensichtlich unbegründet ist. 2
[BVerfGE 13, 127 (128)] Die Frage, ob eine Ungleichheit in der Wahlkreiseinteilung mit dem Gleichheitssatz vereinbar ist, läßt sich nicht unabhängig von dem jeweiligen Wahlsystem entscheiden. Während erhebliche Größenunterschiede der Wahlkreise im Rahmen der reinen Mehrheitswahl im Einerwahlkreis mit dem Gleichheitssatz unvereinbar sind, spielt die Wahlkreiseinteilung im Rahmen der Verhältniswahl mit überregionaler Reststimmenverwertung keine entscheidende Rolle. 3
Nach Art. 38 Abs. 1 GG werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in „allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ gewählt. Das Bundeswahlgesetz konkretisiert dieses Gebot „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ (§ 1 Abs. 1 BWG). Jeder Wähler hat eine Erststimme für die Wahl eines Abgeordneten im Wahlkreis; gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Eine Zweitstimme kann der Wähler für eine der von den politischen Parteien aufgestellten Landeslisten abgeben. Mehrere Landeslisten derselben politischen Partei können miteinander verbunden werden. Die zur Verfügung stehenden Sitze werden unter Anrechnung der Wahlkreismandate auf die Landeslisten im Verhältnis der Summen der Zweitstimmen im Höchstzahlverfahren d’Hondt verteilt. Auf diese Weise wird unbeschadet der direkten Wahl in Einerwahlkreisen ein grundsätzlich vollständiger Verhältnisausgleich durch überregionale Listen, also eine an dem Gedanken der Verhältniswahl mit vollständiger, die Wahlkreise übergreifender Reststimmenverwertung orientierte Sitzverteilung erreicht. 4
Bei dieser Form der Verhältniswahl wird – wenn man einmal von der heute nicht mehr praktischen Möglichkeit des freien Einzelbewerbers (§ 6 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 21 Abs. 3 BWG) absieht – dem Wähler ein Einfluß darauf, welche der von den Parteien benannten Wahlbewerber zum Zuge kommen, nur im Rahmen der vorgeschalteten Wahlen im Einerwahlkreis eingeräumt, während die Zahl der den an der Wahl beteiligten Parteien insgesamt zuzuteilenden Sitze sich nach dem Verhältnis der [BVerfGE 13, 127 (129)] auf diese Partei entfallenen Zweitstimmen richtet (vgl. dazu im einzelnen BVerfGE 7, 63 ff.). Dadurch, daß bei der Auswahl der Kandidaten Elemente der Mehrheitswahl vorgeschaltet sind, ändert sich der Grundcharakter des Verhältniswahlsystems nicht. Auch bei der sogenannten personalisierten Verhältniswahl kommt der Größe der Wahlkreise eine letztlich entscheidende Bedeutung bei der Verwertung der Stimmen nicht zu. Die Tatsache, daß im Rahmen der zur Zeit gültigen, an vorhandene Verwaltungsgrenzen angelehnten Wahlkreiseinteilung die auf einen Wahlkreisabgeordneten entfallenden Bevölkerungszahlen in einzelnen Fällen erheblich voneinander abweichen, fällt nicht entscheidend ins Gewicht, weil dadurch das Gebot des gleichen Erfolgswertes jeder Wählerstimme als der spezifischen Ausprägung, die die Wahlrechtsgleichheit unter dem Verhältniswahlsystem erfährt (BVerfGE 1, 208 <246 f.>; 6, 84 <90>; 11, 351 <362>), nicht in strukturwidriger Weise in Frage gestellt wird. 5
Es wäre zwar denkbar, daß auch im Rahmen des Bundeswahlgesetzes unter Ausnutzung des Instituts der Überhangmandate (§ 6 Abs. 3 BWG) eine aktive oder passive, mit dem Gleichheitssatz nicht vereinbare Wahlkreisgeometrie betrieben würde. Das wird aber von den Beschwerdeführern selbst nicht behauptet. 6

 


Matthias Cantow