Bayerischer Verfassungsgerichtshof

[Wahlprüfung]

Entscheidung vom 18. November 1954

Vf. 93-IV-54

VerfGH 7, 99

„Nichtzuteilung von Direktmandaten“


Entscheidungen 1950–1959

[VerfGH 7, 99 (99)] Entscheidung

des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 18. November 1954
Aktenzeichen: Vf. 93-IV-54  
in der Sache: Meinungsverschiedenheiten zwischen der Minderheit und der Mehrheit des Bayerischen Landtags über die Verfassungsmäßigkeit des § 1 Nr. 30 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid (Landeswahlgesetz) vom 11. August 1954 (GVBl. S. 173).

Entscheidungsformel:

§ 1 Nr. 30 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid (Landeswahlgesetz) vom 11. August 1954 (GVBl. S. 173) — Neufassung des Art. 50 Abs. 2 des Landeswahlgesetzes — ist nicht verfassungsändernd.

Leitsätze:

1. Der Grundsatz des „verbesserten Verhältniswahlrechts“ enthält nicht die Forderung, jeder Stimmkreis müsse unter allen Umständen seinen eigenen Abgeordneten haben. LS 1
2. Die Ausgestaltung des verbesserten Verhältniswahlrechtes überließ die Bayerische Verfassung — abgesehen von den von ihr bereits selbst eingeführten Verbesserungen — dem Gesetzgeber, der hierbei einen gewissen Spielraum hat. Der Gesetzgeber hat unter Beachtung des Zieles einer Verbesserung darüber zu befinden, inwieweit er Bestandteile des Mehrheitswahlrechts in das Verhältniswahlrecht, dessen Grundcharakter er zu wahren hat, einbauen will. LS 2
3. Die mit § 1 Nr. 30 des Zweiten Änderungsgesetzes zum Landeswahlgesetz getroffene Neuregelung hinsichtlich der Behandlung von sogenannten „Überhangmandaten“ drängt zwar die in die vorausgegangenen Fassungen des Landeswahlgesetzes übernommenen Elemente des Mehrheitswahlrechtes zurück, hält sich jedoch innerhalb der Grenzen des Ermessens, das die Verfassung dem Wahlrechtsgesetzgeber eingeräumt hat. LS 3
4. Der Ausgleich von Überschneidungen, die sich aus der Mischung der Systeme des Mehrheits- und des Verhältniswahlrechts ergeben, führt notwendig zur Zurückdrängung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit nach der einen oder anderen Richtung. Hieraus erwachsende Einschränkungen des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit sind durch Art. 14 BV gedeckt. LS 4
Art. 3, 14, 75 Abs. 3, 118 Abs. 1 der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2.12.1946 (GVBl. S. 333);
§§ 2 Nr. 7a, 3 Abs. 2 Nr. 2, 43 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof vom 22.7.1947 (GVBl. S. 147);
Art. 36, 48, 49, 50, 51 des Gesetzes über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid (Landeswahlgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung der Bayer. Staatsregierung vom 11.8.1954 (GVBl. S. 177);
[VerfGH 7, 99 (100)]§ 1 Nr. 29 und 30 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid (Landeswahlgesetz) vom 11.8.1954 (GVBl. S. 173).

Aus den Gründen:

I.

Art. 50 Abs. 2 des Gesetzes über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid (Landeswahlgesetz) — LWG — vom 29.3.1949 (GVBl. S. 69) hatte sowohl in der ursprünglichen Fassung als auch in der Fassung der Bekanntmachung vom 27.9.1950 (GVBl. S. 128) folgenden Wortlaut: 1
„(2) Sind an Wahlkreisvorschlägen bei der Wahl der Stimmkreisbewerber nach Art. 49 mehr Sitze gefallen, als ihnen nach Art. 48 Abs. (2) zustehen, so scheiden bei der Errechnung der Sitze aus den übrigen Wahlkreisvorschlägen in gleicher Zahl die niedrigsten Teilungszahlen aus, die nach Art. 48 Abs. (2) ermittelt worden waren.“
2
Durch § 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 22.12.1952 (GVBl. S. 311) erhielt Art. 50 Abs. 2 LWG folgende Fassung: 3
„(2) In den Stimmkreisen oder Stimmkreisverbänden errungene Sitze verbleiben dem betreffenden Wahlkreisvorschlag auch dann, wenn sie die nach Art. 48 Abs. 2 ermittelte Zahl der Sitze überschreiten. In diesem Falle erhöht sich die Gesamtzahl der Abgeordneten des Landes (Art. 36 Abs. 1) entsprechend.“
4
Auf Grund eines Initiativantrags der Fraktionen der FDP, der BP und des BHE erhielt Art. 50 Abs. 2 durch § 1 Nr. 30 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid vom 11.8.1954 (GVBl. S. 173) gegen die Stimmen der CSU folgende Fassung: 5
„(2) Sind an Wahlkreisvorschläge bei der Wahl der Stimmkreisbewerber nach Art. 49 mehr Sitze gefallen, als ihnen nach Art. 48 Abs. 2 zustehen, so werden die überschießenden Sitze nicht zugeteilt. Die in Betracht kommenden Stimmkreisbewerber scheiden in der Reihenfolge der niedrigsten Stimmenzahlen aus, wobei die Gesamtstimmenzahlen nach Art. 48 maßgeblich sind.“
6

II.

1. Mit Schreiben vom 1.10.1954 stellte die Landtagsfraktion der CSU als Minderheit des Landtags durch ihren Bevollmächtigten, den Abgeordneten Dr. K. F., beim Bayer. Verfassungsgerichtshof den Antrag, 7
„festzustellen, daß § 1 Ziff. 30 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Landeswahlgesetzes — GVBl. S. 173, 183 —, also der neugefaßte Artikel 50 Abs. 2 des Landeswahlgesetzes, der Bayerischen Verfassung widerspricht.“
8
Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt: Art. 50 Abs. 2 Satz 1 und 2 verstoße gegen folgende Bestimmungen der Verfassung: 9
a) gegen die Forderung eines verbesserten Verhältniswahlrechts in Art. 14 BV,
b) gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 118 BV,
c) gegen den besonderen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit nach Art. 14 BV,
d) gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Art. 3 BV).
10
Mit der Forderung nach einer Verbesserung des Verhältniswahlrechts habe der Gesetzgeber in erster Linie, wie auch der Verfassungsgerichtshof schon ausgesprochen habe, den Zweck verfolgt, jedem Stimmkreis eine echte Mehrheitswahl und seinen Abgeordneten zu gewährleisten. Wenn nun in einigen Stimmkreisen die ordnungsgemäß zustande gekommene Wahl des Stimmkreisabgeordneten kassiert und ihnen der Abgeordnete wieder genommen werde, verletze dies die für alle Wähler und Stimmkreise geltende Forderung nach einem verbesserten Verhältniswahlrecht. Die Neuregelung stehe auch in einem unvereinbaren Gegensatz zu Art. 36 LWG, auf dem das Gebäude des Landeswahlrechts beruhe. 11
[VerfGH 7, 99 (101)] Das beanstandete Vorgehen des Gesetzgebers verletze aber auch den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz und das Grundrecht auf gleiche Behandlung aller Wähler des Landes, und zwar bei den Wählern der im Stimmkreis obsiegenden Partei, bei den Gewählten der betroffenen Stimmkreise, bei diesen Stimmkreisen selbst, d. h. bei allen ihren Wahlberechtigten, und bei den höheren regionalen Verbänden der obsiegenden Partei. Den Stimmen der Wähler der betroffenen Stimmkreise müsse der gleiche Erfolgswert gewährleistet werden wie jenen der übrigen Stimmkreise. Es liege zwar im Wesen der Mehrheitswahl, daß innerhalb des Stimmkreises die nicht auf den siegreichen Bewerber entfallenden Stimmen für die Mehrheitswahl ausfielen; daß aber gar keine Stimmen des Stimmkreises bei der Mehrheitswahl zum Zuge kämen, sei eine Durchbrechung des Gleichheitsgrundsatzes und verstoße gegen die rechtsstaatliche Ordnung überhaupt. In der Entscheidung vom 5.4.1952 habe das Bundesverfassungsgericht gleiche Anforderungen an das Gebot der Gleichheit, der Wahlrechtsgleichheit und der Rechtsstaatlichkeit gestellt. Zu beachten sei, daß der im Stimmkreis gewählte Abgeordnete nicht nur Vertrauensmann seiner Partei sei, sondern darüber hinaus als der berufene, ja verpflichtete Sachwalter seines Stimmkreises angesehen werde. Wenn übrigens der Gesetzgeber, was bestritten werde, wirklich gewisse Stimmkreise ihres rechtmäßig im Mehrheitswahlverfahren gewählten heimatlichen Abgeordneten berauben dürfte, so hätte er dies nicht in der rauhen Form des neuen Art. 50 Abs. 2 tun dürfen. Er hätte ein dem Grundsatz der Gerechtigkeit stärker angenähertes Verfahren finden müssen (etwa Ausgleich auf der Landesebene). Das neue Verfahren wirke sich gerade zum Nachteil der Stimmkreise mit geringerer Einwohnerzahl aus. Vorsorglich werde auch diese Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit zum Gegenstand der Anfechtung gemacht. 12
2. Für die Landtagsmehrheit (Fraktionen der SPD, der BP, des BHE und der FDP) stellte der von ihr bevollmächtigte Abgeordnete Dr. A. H. im Schriftsatz vom 26. Oktober 1954 den Antrag, dahin zu entscheiden, daß Art. 50 Abs. 2 LWG in der Fassung des 2. Änderungsgesetzes vom 11. August 1954 nicht verfassungsändernd ist. 13
Zur Begründung führte er im wesentlichen aus: 14
Der Verfassungsgrundsatz des „verbesserten Verhältniswahlrechts“ sei nicht verletzt. Was „verbessertes“ Verhältniswahlrecht sei, bestimme Art. 14 BV selbst. Er schreibe nicht vor, daß jeder Stimmkreis einen Abgeordneten stellen müsse, im Gegenteil, der Verfassunggeber gehe, wie sich aus Art. 14 Abs. 4 BV ergebe, davon aus. daß dies durchaus nicht immer der Fall sei. Es könne daher keine Rede davon sein, daß Art. 50 Abs. 2 in seiner jetzigen Fassung in den in Frage kommenden Stimmkreisen den bereits ordnungsgemäß gewählten Stimmkreisabgeordneten nachträglich „wieder kassieren“ würde. Gewählt sei nur der Abgeordnete, dessen Wahl endgültig, nach Feststellung auch der Ergebnisse des Wahlkreises, festgestellt sei. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz des Art. 118 BV könne nicht verletzt sein, da Art. 14 BV den hier einschlägigen besonderen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit kenne. Gegen diesen Grundsatz, der besagen wolle, daß jeder abgegebenen Stimme der gleiche Zählwert und der gleiche Erfolgswert innewohnen solle, verstoße die angefochtene Gesetzesänderung keineswegs. Diese versuche im Gegenteil, die zu große Abweichung des Erfolgswertes der Stimmen von der mathematischen Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, die bisher durch die Einrichtung der sog. Überhangmandate bestanden habe, zu korrigieren. Die Neufassung des Art. 50 Abs. 2 LWG bedeute demnach nur eine Hinführung des Wahlgesetzes auf die verfassungsmäßig verankerten Wahlrechtsgrundsätze, nicht aber eine Wegführung von diesen Grundsätzen. Jetzt erst sei die Verfassungsmäßigkeit erreicht. Unrichtig sei die Behauptung, daß sich die vom Gesetzgeber verfügte Änderung des Art. 50 Abs. 2 zum Nachteil der Stimmkreise mit geringerer Einwohnerzahl auswirke. Dieser Befürchtung habe der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, daß er die Gesamtstimmenzahlen nach Art. 48 LWG maßgeblich sein lasse. Im übrigen seien Betrachtungen, wie der Gesetzgeber etwas hätte besser ordnen sollen, müßig, da er souverän und als Landeswahlgesetzgeber lediglich an die Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 14 BV gebunden sei. Diese seien aber nicht verletzt; von einem Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit könne daher ebenfalls keine Rede sein. 15
[VerfGH 7, 99 (102)] 3. Die Staatsregierung, der Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde, gab keine Erklärung ab. 16
4. In der mündlichen Verhandlung wiederholten die Bevollmächtigten der Landtagsminderheit und der Landtagsmehrheit ihre Anträge und im wesentlichen die in ihren Schriftsätzen enthaltenen Ausführungen. Der Vertreter der Landtagsminderheit erklärte ergänzend, daß sich die beantragte Feststellung der Verfassungswidrigkeit auch auf § 1 Nr. 29 des Änderungsgesetzes vom 11. August 1954 beziehen solle. 17

III.

1. Nach Art. 75 Abs. 3 BV entscheidet der Bayer. Verfassungsgerichtshof Meinungsverschiedenheiten darüber, ob durch ein Gesetz die Verfassung geändert wird (vgl. auch § 2 Nr. 7 a, § 3 Abs. 2 Nr. 2 und § 43 VfGHG). Wie der Verfassungsgerichtshof schon mehrfach ausgesprochen hat, muß die Meinungsverschiedenheit die zur Anrufung des Verfassungsgerichtshofs berechtigt, zwischen der Einbringung des Gesetzentwurfs und der Schlußabstimmung erkennbar geworden sein (vgl. VGH n. F. 2 II 181/198, 3 II 115/118, 4 II 251/268). 18
Im vorliegenden Falle ist diese Voraussetzung erfüllt, da von Abgeordneten der CSU bereits bei der Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Landeswahlgesetzes im Rechts- und Verfassungsausschuß die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Bestimmung geltend gemacht und hierauf vom Berichterstatter bei Behandlung des Gesetzentwurfs in der Landtagsvollversammlung hingewiesen wurde (vgl. Niederschriften über die 227. und 232. Sitzung des Rechts- und Verfassungsausschusses vom 22.7. und 4.8.1954 S. 13 bezw. S. 1, 4, 8; stenogr. Bericht über die 213. Sitzung des Bayer. Landtags vom 5.8.1954 S. 1959). 19
2. Nach dem Landeswahlgesetz wird die Gesamtzahl der Abgeordneten (204) auf die politischen Parteien und die sonstigen organisierten Wählergruppen nach den Grundsätzen der reinen Verhältniswahl aufgeteilt. Dies ergibt sich aus Art. 48 Abs. 2, wonach innerhalb eines jeden Wahlkreises die zu vergebenden Abgeordnetensitze (Art. 36 Abs. 1, 2) auf die einzelnen Wahlvorschläge nach dem Verhältnis der Gesamtstimmenzahlen unter Zugrundelegung des d’Hondt’schen Verfahrens verteilt werden. Hierbei umfassen die Gesamtstimmenzahlen alle gültigen Stimmen, welche für die einzelnen Wahlvorschläge abgegeben wurden, also sowohl diejenigen, welche auf die Stimmkreisbewerber, als auch diejenigen, welche auf die Bewerber auf der Wahlkreisliste des betreffenden Wahlkreisvorschlags entfielen. Der Grundsatz der reinen Verhältniswahl erleidet insofern eine Ausnahme, als nach Art. 48 Abs. 4 LWG (Art. 14 Abs. 4 BV) Wahlvorschläge, auf die nicht mindestens in einem Wahlkreis 10 vom Hundert der abgegebenen Stimmen fallen, keinen Sitz zugeteilt erhalten und die auf sie entfallenen Stimmen bei der Ermittlung der Sitze ausscheiden. 20
Auf die nach Art. 48 Abs. 2 für jeden Wahlkreisvorschlag ermittelten Sitze werden gemäß Art. 50 Abs. 1 zunächst diejenigen Sitze angerechnet, welche auf die Bewerber entfallen, die nach Art. 49 in den Stimmkreisen (Stimmkreisverbänden) gewählt wurden oder als gewählt gelten. Für die Wahl [VerfGH 7, 99 (103)] in den Stimmkreisen (Stimmkreisverbänden) ist grundsätzlich die relative Mehrheit maßgebend. Die noch offenen Sitze werden dem Wahlkreisvorschlag zur Verteilung an die Bewerber aus der Wahlkreisliste nach der Zahl der auf die Bewerber entfallenen Stimmen zugeteilt. Hierbei werden bei einem Stimmkreisbewerber die Stimmen, die er in seinem Stimmkreis (Stimmkreisverband) erhalten hat und jene, die er auf der Wahlkreisliste erhalten hat, zusammengezählt (Art. 51 Abs. 1 LWG). 21
Es besteht die Möglichkeit, daß einem Wahlkreisvorschlag in den Stimmkreisen (Stimmkreisverbänden) mehr Sitze zugefallen sind, als ihm nach der Verhältnisrechnung des Art. 48 Abs. 2 zustehen würden. In der ursprünglichen Fassung sah Art. 50 Abs. 2 LWG vor, daß in einem solchen Falle die „Mehrsitze“ der betreffenden Partei oder Wählergruppe verbleiben und daß sie bei den übrigen Wahlkreisvorschlägen mit den niedrigsten Teilungszahlen in Abzug gebracht werden. Nach der Fassung, die Art. 50 Abs. 2 durch § 1 des Gesetzes zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 22.12.1952 erhalten hatte, sollten die Mehrsitze gleichfalls den in Frage stehenden Wahlkreisvorschlägen verbleiben. Es sollte jedoch kein Ausgleich zu Lasten der übrigen Wahlkreisvorschläge mit den niedrigsten Teilungszahlen eintreten, vielmehr sollte sich die Gesamtzahl der Abgeordneten des Landes entsprechend erhöhen. Nach der den Gegenstand des anhängigen Verfassungsstreites bildenden Neufassung des Art. 50 Abs. 2 werden die überschießenden Sitze, die sich dadurch ergeben, daß den Wahlkreisvorschlägen bei der Wahl der Stimmkreisbewerber nach Art. 49 mehr Sitze angefallen sind, als ihnen nach Art. 48 Abs. 2 zustehen, nicht zugeteilt. Die Folge ist, daß so viele Stimmkreise (Stimmkreisverbände) keinen Abgeordneten erhalten, als überschießende Sitze angefallen sind. Nach Art. 50 Abs. 2 S. 2 scheiden die Stimmkreisbewerber, in der Reihenfolge der niedrigsten Stimmenzahlen aus, wobei „die Gesamtstimmenzahlen nach Art. 48 maßgeblich sind“. Die Verweisung auf Art. 48 ist mißverständlich (vgl. Feneberg LWG Erläuterungen zu Art. 50). Der Sinn der Vorschrift ist aber — wie auch die Beteiligten im vorliegenden Verfahren nicht bezweifeln — jedenfalls der, daß bei der Ermittlung der niedrigsten Stimmenzahlen die Stimmen, welche der Bewerber im Stimmkreis und auf der Wahlkreisliste erhalten hat, zusammengezählt werden müssen. 22
3. Die Landtagsminderheit hält den Art. 50 Abs. 2 LWG in erster Linie deshalb für verfassungsändernd, weil er gegen den in Art. 14 BV verankerten Grundsatz des verbesserten Verhältniswahlrechts verstoße. Diesen Verstoß erblickt sie darin, daß nach der Neufassung des Art. 50 Abs. 2 LWG nicht mehr jedem Stimmkreis (Stimmkreisverband) „sein“ Abgeordneter gewährleistet sei. 23
Mit der Frage, was unter einem „verbesserten Verhältniswahlrecht“ i. S. der Bayer. Verfassung zu verstehen ist, hat sich der Bayer. Verfassungsgerichtshof bereits in seiner Entscheidung vom 2.12.1949 (GVBl. 1950 S. 1 — VGH n. F. 2 II 181) befaßt. Er hat ausgeführt, daß nach den Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Verfassunggebenden Landesversammlung das Wort „verbessert“ eine Verdeutschung des — zunächst vorgeschlagenen — Wortes „modifiziert“ habe sein sollen und daß sich im übrigen für den Sinn [VerfGH 7, 99 (104)] des Ausdrucks „verbessertes Verhältniswahlrecht“ aus der Entstehungsgeschichte nichts Wesentliches ergebe. Der Verfassungsgerichtshof hat in der bezeichneten Entscheidung weiter die Frage erörtert, ob Art. 50 Abs. 2 LWG in der Fassung vom 29.3.1949 (s. oben 1) dem Landeswahlrecht nicht den Charakter des Verhältniswahlrechts nehme. Er hat diese Frage verneint. Zur Begründung hat er ausgeführt, Art. 14 Abs. 5 BV habe den Gesetzgeber ermächtigt und beauftragt, ergänzende Bestimmungen zu erlassen, vorausgesetzt, daß sie sich im Rahmen der Rechtssätze und Grundgedanken der ermächtigenden Verfassungsnorm und der Gesamtverfassung halten: die Richtung, die der Gesetzgeber dabei zu verfolgen habe, sei von der Bayer. Verfassung mit den Worten „nach einem verbesserten Verhältniswahlrecht“ angegeben. Der Verfassungsgerichtshof ist in der genannten Entscheidung zu dem Ergebnis gelangt, daß Art. 50 Abs. 2 LWG in der damaligen Fassung sich im Rahmen des erteilten Auftrags halte, und hat dabei hervorgehoben, eine „Verbesserung“ des Verhältniswahlrechts liege insbesondere darin, daß nunmehr — durch Hereinnahme von Elementen des Mehrheitswahlrechts — jedem Stimmkreis sein Abgeordneter gewährleistet werde. Er hat festgestellt, daß das Wahlrecht des LWG, auch wenn gewisse Züge des Mehrheitswahlrechts aufgenommen seien, als Ganzes nicht den Charakter des Verhältniswahlrechts eingebüßt habe, hat also die Lösung, für die sich der Gesetzgeber im Jahre 1949 entschieden hatte, als mit der Verfassung vereinbar erklärt. 24
Mit diesen Ausführungen hat der Verfassungsgerichtshof aber keineswegs festgestellt, daß der Weg, der damals gewählt worden ist, der einzige sei, auf dem der Gesetzgeber das Postulat des „verbesserten Verhältniswahlrechts“ erfüllen könne. Er hat insbesondere auch nicht ausgesprochen, daß dieses Postulat den Satz enthalte, jeder Stimmkreis müsse unter allen Umständen seinen eigenen Abgeordneten haben. Ein solcher Satz läßt sich — entgegen der Auffassung der Landtagsminderheit — auch aus der Bayer. Verfassung nicht herleiten. Diese bestimmt lediglich, daß die Abgeordneten nach einem verbesserten Verhältniswahlrecht gewählt werden. Einzelne Verbesserungen (Bildung von Stimmkreisen, 10 % Klausel) hat die Verfassung bereits selbst eingeführt. Die weitere Ausgestaltung des Wahlrechts in dieser Richtung überließ die Verfassung aber dem Gesetzgeber. Dieser hatte also insoweit einen gewissen Spielraum (vgl. dazu Entscheidung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich vom 17. 2. 1930, RGZ Bd. 128 Anhang S. 1/10 sowie BVerfGE 3, 24). Der Gesetzgeber hatte — unter Beachtung des Zieles „Verbesserung“ — darüber zu befinden, inwieweit er Bestandteile des Mehrheitswahlrechts in das Verhältniswahlrecht, dessen Grundcharakter er zu wahren hatte, einbauen wollte. Das Landeswahlgesetz hat in allen Fassungen das Ziel verfolgt, jedem Stimmkreis den in ihm gewählten Abgeordneten zu gewährleisten (s. oben III 2). Hieran hält grundsätzlich auch das LWG in der Fassung vom 11. 8. 1954 fest. Es sieht lediglich in Art. 50 Abs. 2 eine Ausnahme für den Fall vor, daß sich sog. Überhangmandate ergeben, die nunmehr — im Gegensatz zu den früheren Regelungen — wegfallen. Daß es sich hierbei nur um verhältnismäßig seltene Fälle handeln kann, hat der Verfassungsgerichtshof bereits in der Entscheidung [VerfGH 7, 99 (105)] vom 30.5.1952 (VGH n. F. 5 II 125/143) dargelegt. Es trifft demnach zwar zu, daß die Neuregelung von 1954 insoweit Elemente, die die vorhergegangenen Fassungen des Landeswahlgesetzes aus dem Mehrheitswahlrecht übernommen hatten, zurückdrängt, sie hält sich aber in den Grenzen des Ermessens, das die Verfassung dem Wahlrechtsgesetzgeber eingeräumt hatte, Art. 50 Abs. 2 LWG enthält demnach keine Abweichung von dem in Art. 14 Abs. 1 BV festgelegten Grundsatz des verbesserten Verhältniswahlrechts. 25
4. Die Landtagsminderheit macht weiter geltend, daß durch Art. 50 Abs. 2 der Grundsatz der Wahlgleichheit (Art. 14 Abs. 1 BV) und der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 118 Abs. 1 BV) verletzt würden. Auch dieser Auffassung kann nicht beigetreten werden. 26
Der gesamte Wahlvorgang zerfällt nach dem Landeswahlgesetz in 3 Abschnitte:
a) die Aufstellung der Bewerber,
b) die Stimmabgabe,
c) die Auswertung der abgegebenen Stimmen und die Zuteilung der Abgeordnetensitze.
27
Art. 50 Abs. 2 LWG, der sich lediglich mit der „Feststellung des Wahlergebnisses“ befaßt (Überschrift vor Art. 46 ff LWG), ist für die ersten beiden Abschnitte des Wahlvorgangs ohne Bedeutung. Er greift erst ein, wenn nach Auszählung der abgegebenen Stimmen feststeht, daß bei der Wahl der Stimmkreisbewerber an einen Wahlkreisvorschlag mehr Sitze gefallen sind, als ihm auf Grund der Verhältnisrechnung (Art. 48 Abs. 2) zustehen. In einem solchen Fall beeinträchtigt Art. 50 Abs. 2 LWG den Erfolg von in den Stimmkreisen abgegebenen Stimmen, da nach dieser Vorschrift Bewerber, die in ihren Stimmkreisen die meisten Stimmen erhalten hatten und damit nach Art. 49 Abs. 1 an sich gewählt wären, in der Reihenfolge der niedrigsten Gesamtstimmenzahlen auszuscheiden haben. Insoweit ist der Grundsatz der Wahlgleichheit allerdings nicht gewahrt und es bedarf der Prüfung, ob eine solche Abweichung durch die Verfassung gedeckt wird. 28
Bei dieser Prüfung muß zunächst auf die Ausführungen unter III 3 zurückgegriffen werden. Die Verfassung hat, wie dort dargelegt wurde, dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, das grundsätzlich beizubehaltende Verhältniswahlrecht zu verbessern. Das Ziel der Verbesserung konnte nur durch Einfügung bestimmter Funktionen des Mehrheitswahlrechts in das Verhältniswahlsystem, nämlich durch die Wahl der Vertreter der Stimmkreise (Stimmkreisverbände) mittels der Mehrheitswahl, erreicht werden (vgl. die oben angeführte Entscheidung vom 30.5.1952). Bei einer solchen Vermischung von 2 Wahlsystemen müssen sich zwangsläufig Überschneidungen ergeben, wenn nämlich die Wahl, soweit sie nach dem Mehrheitsprinzip erfolgt, einer Partei bereits mehr Sitze einbringt, als ihr auf Grund des für die Endzuteilung maßgebenden Verhältniswahlrechts zukommen. Der Ausgleich, der in einem solchen Falle vorgenommen werden muß. führt notwendig zur Zurückdrängung des Grundsatzes der Wahlgleichheit nach der einen oder anderen Richtung. Dies [VerfGH 7, 99 (106)] hat die Verfassung in Kauf genommen, als sie in Art. 14 BV dem Gesetzgeber den Auftrag erteilte, das Verhältniswahlrecht durch Hereinnahme von Bestandteilen des Mehrheitswahlrechts zu verbessern und ihm hinsichtlich der näheren Ausgestaltung einen Ermessensspielraum einräumte (Art. 14 Abs. 5 BV; vgl. die unter III 3 angeführten Entscheidungen des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Bundesverfassungsgerichts). Diesen Ermessensspielraum hat der Gesetzgeber bei der Neufassung des Art. 50 Abs. 2 LWG durch das Änderungsgesetz vom 11.8.1954 nicht überschritten. Er war auf Grund des ihm von der Verfassung erteilten Auftrags sowohl ermächtigt, den Ausgleich auf Kosten der übrigen Wahlkreisvorschläge vorzunehmen (Art. 50 Abs. 2 i. d. F. von 1949, dessen Vereinbarkeit mit der Bayer. Verfassung der Verfassungsgerichtshof in den Entscheidungen vom 2.12.1949 und 30.5.1952 festgestellt hat), als auch befugt, zum Ausgleich die aus der Stimmkreiswahl sich ergebenden Mandate zu kürzen, wie dies das LWG 1954 vorschreibt. Der von der Landtagsminderheit angegriffene Art. 50 Abs. 2 LWG ist demnach durch Artikel 14 BV gedeckt, soweit ein Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit geltend gemacht wird. 29
Auch Art. 118 Abs. 1 BV ist nicht verletzt. Es mag hier dahinstehen, in welchem Verhältnis der Grundsatz der Wahlgleichheit (Art. 14 Abs. 1 BV) zu dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 118 Abs. 1 BV) steht (vgl. dazu VGH n. F. 5, 73 und BVerfGE 1, 242/247); denn aus den obigen Ausführungen ergibt sich bereits, daß für die getroffene Regelung sachliche Gründe maßgebend waren, der Gesetzgeber bei Erfüllung der ihm übertragenen Aufgabe also keinesfalls willkürlich gehandelt hat. Dies gilt auch für Art. 50 Abs. 2 S. 2 LWG (Reihenfolge des Ausscheidens). Es war durchaus naheliegend, hier die niedrigsten Stimmenzahlen maßgebend sein zu lassen, die der Bewerber im Stimmkreis und auf der Wahlkreisliste zusammen erhalten hat. Die Frage, ob es etwa zweckmäßiger und schonender gewesen wäre, den Ausgleich — wie die Landtagsminderheit meint — auf einer höheren Ebene (Wahlkreis oder Land) vorzuschreiben, hatte der Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen. 30
Daß Art. 3 BV (Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit) durch die angegriffene Vorschrift des LWG nicht verletzt wird, bedarf nach dem oben Ausgeführten keiner weiteren Erörterung. 31
Es war somit festzustellen, daß § 1 Nr. 30 des Zweiten Änderungsgesetzes vom 11.8.1954, der den Art. 50 Abs. 2 LWG neu faßt, nicht verfassungsändernd ist. Daraus ergibt sich ohne weiteres, daß auch § 1 Nr. 29 a. a. O., der lediglich die Worte „vorbehaltlich Art. 50 Abs. 2“ in Art. 49 Abs. 1 LWG einfügt, keine Verfassungsänderung enthält; einer ausdrücklichen Feststellung im Entscheidungssatz bedürfte es insoweit nicht. 32

 


Matthias Cantow