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30.10.2014

NRW: Sperrklausel-Gutachten für SPD-Fraktion ignoriert entscheidendes Problem

Die SPD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen hat gestern ein Gutachten vorgestellt, das angeblich einen verfassungskonformen Weg aufzeigen soll, für Kommunalwahlen in dem Land eine 3-Prozent-Sperrklausel einzuführen. Seit zwanzig Jahren hadert die SPD mit der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte zu kommunalen Sperrklauseln. Es begann im September 1994, als der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen (VerfGH) den Landtag dazu verdonnerte, nach Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern zu prüfen, ob die damalige Fünfprozenthürde für die Wahl der Gemeinderäte noch aufrechterhalten bleiben könne. Der VerfGH war mit Qualität und Ergebnis dieser Überprüfung nicht zufrieden und erklärte im Juli 1999 die Sperrklausel für Kommunalwahlen in NRW für verfassungswidrig. Damit mochte sich der Landtag nicht abfinden und unternahm vor den Kommunalwahlen 2009 einen neuen Anlauf. Während die SPD schon damals eine 3-Prozent-Klausel forderte, beschloss die damalige Landesregierung aus CDU und FDP eine Ein-Sitz-Hürde, die bei der Sitzverteilung alle Parteien unberücksichtigt lassen sollte, die nicht mindestens einen rechnerischen Sitzanspruch von 1,0 erreichen. Aber auch diese Mini-Sperrklausel wurde vom VerfGH schließlich als verfassungswidrig verworfen.

Anlass für die NRW-SPD, nun dennoch einen neuen Vorstoß zu wagen, ist ein Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofs vom Mai 2013. Darin wird die Dreiprozenthürde, die in der Landesverfassung für die Wahlen zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen vorgesehen ist, für rechtmäßig erklärt. Wenige Monate später reagierte hierauf die Hamburgische Bürgerschaft und beschloss einen Gesetzentwurf, der in die Hamburger Verfassung einen entsprechenden Passus für die dortigen Bezirksversammlungswahlen aufnahm. Das Berliner Urteil hat natürlich auch in anderen Bundesländern jene Parteien aufhorchen lassen, welche sich eine kommunale Sperrklausel zurücksehnen. Schon im August letzten Jahres deutete die SPD an, nach dem Vorbild Berlins eine kommunale Dreiprozenthürde in der nordrhein-westfälischen Landesverfassung verankern zu wollen. Im August dieses Jahres verkündete die SPD-Landtagsfraktion, ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten komme zu dem Ergebnis, dass eine solche Verfassungsänderung rechtlich machbar sei.

Gestern nun hat die SPD-Landtagsfraktion dieses Gutachten in einem Hintergrundgespräch den Medien präsentiert, aber bisher nicht veröffentlicht. Es stammt von Prof. Wolfgang Roth, der für die Sozietät Redeker Sellner Dahs tätig ist.

Um es vorwegzunehmen: Das Gutachten scheitert an dem Anspruch, einen verfassungsrechtlich gangbaren Weg für eine kommunale Dreiprozenthürde in NRW aufzuzeigen, überraschend kläglich. Selbst wenn man böswillig unterstellt, es handle sich um ein sogenanntes Gefälligkeitsgutachten, ist erstaunlich, wie es das entscheidende verfassungsrechtliche Problem schlicht ignoriert. Letztlich läuft die Argumentation des Gutachtens auf die Hoffnung hinaus, das Bundesverfassungsgericht und der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof mögen ihre bisherige Rechtsprechung über Bord werfen.

Die Rechtslage in Sachen kommunaler Sperrklauseln ist aufgrund der zahlreichen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen eigentlich ziemlich klar: Artikel 28 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz schreibt für alle Bundesländer verbindlich vor, dass Kreise und Gemeinden eine Volksvertretung haben müssen, die aus gleichen Wahlen hervorgegangen ist. Eine Sperrklausel stellt einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in diese Wahlgleichheit dar. Als eine hinreichende Rechtfertigung akzeptieren die Verfassungsgerichte dabei aber „nur die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungsorgane“ (BVerfG, 2 BvK 1/07 vom 13. Februar 2008, Absatz-Nr. 125). Das Gutachten gibt diese Rechtsprechung durchaus korrekt wieder:

„Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung genügt eine abstrakte, theoretische Möglichkeit von Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit nicht zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Wahl- und Chancengleichheit. Die „allgemeine und abstrakte Behauptung", ohne Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und Wählergruppen in die Vertretungsorgane erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen erschwert, könne einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit nicht rechtfertigen". Auch die bloße „Erleichterung" oder „Vereinfachung" der Beschlussfassung genüge nicht. Nur die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane könne eine Sperrklausel rechtfertigen. Die Prognose einer Funktionsstörung müsse nachvollziehbar begründet und auf tatsächliche Entwicklungen gerichtet sein, deren Eintritt der Gesetzgeber bei einem Wegfall der Sperrklausel konkret erwartet. Nur die konkrete, durch tatsächliche Anhaltspunkte gestützte und mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Möglichkeit der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung könne die Sperrklausel legitimieren. Der Gesetzgeber ist hiernach zwar nicht daran gehindert, auch konkret absehbare künftige Entwicklungen bereits im Rahmen der ihm aufgegebenen Beobachtung und Bewertung der aktuellen Verhältnisse zu berücksichtigen; maßgebliches Gewicht kann diesen jedoch nur dann zukommen, wenn die weitere Entwicklung aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwärtig verlässlich zu prognostizieren ist. Im Ergebnis läuft dies darauf hinaus, unter dem Funktionsaspekt nur eine nachgewiesene konkrete Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung als ausreichende Rechtfertigung für Sperrklauseln anzusehen.“

Kann nun der Nachweis der konkreten Gefährdung der Funktionsfähigkeit für die Kommunen NRWs geführt werden? Das Gutachten gibt selbst zu: nein, jedenfalls noch nicht.

„Um den Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen davon überzeugen zu können, dass eine Sperrklausel bei Kommunalwahlen zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen erforderlich ist, müsste angesichts dieser Vorgeschichte und angesichts dessen, dass der Verfassungsgerichtshof bereits zweimal die vorgelegten Zahlen als nicht ausreichend angesehen hat, eine solche Argumentation mit konkreten Darstellungen der Arbeitsabläufe untermauert werden. Es müsste für die betroffenen Gemeinderäte und Kreistage konkret dargelegt werden, dass und in welchem Ausmaße die gestiegene Zahl von Einzelmandatsträgern und nicht fraktionsfähigen Kleingruppen die Arbeit des Rates bzw. Kreistages behindert hat, z. B. wegen der Schwierigkeit der Auslagerung eines Teils der Arbeit in Ausschüsse, wegen des Rede- und Antragsrechts im Plenum mit der Folge einer zeitlichen Überanspruchung aller Rats- und Kreistagsmitglieder etc. Es wäre auch darzulegen, dass es sich hierbei nicht um Einzel- und Ausnahmefälle in einzelnen Gemeinden oder Kreistagen handelt, sondern es um ein aus der erhöhten Zahl von Einzelmandatsträgern und nicht fraktionsfähigen Kleingruppen resultierendes typisches Phänomen geht.

Wie bereits im Vorfeld der Kommunalwahlen am 25.05.2014 überwiegend erwartet, ist bei dieser Kommunalwahl die Zersplitterung in den Kreistagen und den Gemeinderäten vor allem großer Städte weiter fortgeschritten und sind dort noch weitere Kleinstparteien und kleine Wählergruppen mit kleinen, nicht fraktionsfähigen Gruppierungen in die Kommunalvertretungen eingezogen. Allerdings dürfte es noch zu früh sein, um bereits gegenwärtig eine hieraus resultierende konkrete Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit der betroffenen Kommunalvertretungen belegen zu können, die die bisherigen sehr hohen Anforderungen des Verfassungsgerichtshofs Nordrhein-Westfalen an den Nachweis von Funktionsbeeinträchtigungen erfüllen könnten. Ob und inwieweit sich in der weiteren kommunalpolitischen Arbeit eine solche Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit ergeben wird, bliebe insofern zu abzuwarten und zu beobachten.“

Doch dieses Nachweises der konkreten Gefährdung der Funktionsfähigkeit bedürfe es gar nicht, meint nun das Gutachten. Denn wenn man die Sperrklausel nicht einfach nur wie bisher ins Wahlgesetz schreibe, sondern direkt in die Landesverfassung, dann reiche bereits eine abstrakte Gefährdung. Das Gutachten beruft sich hierbei auf den Berliner Verfassungsgerichtshof:

„Wie bereits dargestellt, hat der Verfassungsgerichtshof Berlin, obgleich er früher mit einer ähnlich strengen Rechtsprechung wie der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen einfachgesetzliche Sperrklauseln bei Kommunalwahlen als verfassungswidrig erachtet hat, akzeptiert, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber keinen ebensolchen qualifizierten Begründungs- oder Prognosepflichten unterliegt, sondern es zur Begründung genügt, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber eine Sperrklausel einführen will, um bereits abstrakte Gefahren für die Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretung abzuwehren.

Wenn sich der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen dieser überzeugenden Rechtsprechung anschließt, würde es ausreichen, wäre aber auch erforderlich, zur Begründung der Verfassungsänderung darzulegen, wie sich der Wegfall der Sperrklausel bei den Kommunalwahlen ausgewirkt hat und wie sich dies – im Sinne einer abstrakten Gefahr – nachteilig auf die Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen ausgewirkt hat.“

Tatsächlich haben die Berliner Verfassungsrichter – mit einer Mehrheit von 8:1 Stimmen – diese Auffassung für die Dreiprozenthürde bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen vertreten (Seite 14 f.). Allerdings verschweigt das Gutachten den entscheidenden Grund hierfür: Die Berliner Bezirke sind nämlich gar keine „Gemeinden“ im Sinne von Art. 28 GG, so dass auch der dort vorgeschriebene Grundsatz der Wahlgleichheit nicht zwingend einzuhalten ist (Seite 15 f.). Bei Wahlen für Vertretungs­organe in den Berliner Bezirke sind daher lediglich die Vorgaben der Berliner Landesverfassung zu berücksichtigen – und eine dieser Vorgaben ist gerade die Dreiprozenthürde. Gleiches gilt für Hamburg: Auch die dortigen Bezirke sind keine Gemeinden, für die das Gebot der Wahlgleichheit nach Art. 28 GG gilt. Daher konnte die Hamburgische Bürgerschaft es den Berlinern nachmachen, ohne offen Verfassungsbruch zu begehen.

In Nordrhein-Westfalen gilt diese Verfassungsrechtslage nur für die Bezirksvertretungen, die in den kreisfreien Städten für jeden Stadtbezirk gewählt werden. Auch sie sind keine Gemeindeparlamente im Sinne des Grundgesetzes. Theoretisch hätte der nordrhein-westfälische Landtag die Möglichkeit, in die Landesverfassung eine Sperrklausel für die Bezirksvertretungen zu verankern, bei der die Chancen gut stehen, dass der VerfGH sie akzeptieren würde. Allzu viel Sinn würde das allerdings nicht ergeben, da die Bezirksvertretungen ohnehin nur zwischen 11 und 19 Mitgliedern groß sind, so dass die natürliche Sperrwirkung selbst im Extremfall nicht weit unter drei Prozent liegt.

Aber um die Bezirksvertretungen geht es der SPD auch gar nicht, sondern sie will eine Dreiprozenthürde für die Stadt- und Gemeinderäte. Für die Gemeindeparlamente in NRW gilt aber die Wahlgleichheit nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG. Und selbstverständlich kann das Land Nordrhein-Westfalen keine Vorschriften des Grundgesetzes außer Kraft setzen, indem es einfach das Gegenteil in seine Landesverfassung schreibt.

Diese Rechtslage dürfte in den Bundesländern allgemein bekannt sein. Aus diesem Grund hat bisher kein einziges Bundesland versucht hat, den „Berliner Weg“ auch für vollwertige Gemeindevertretungen zu beschreiten (mit Ausnahme der Stadtbürgerschaft in Bremen, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, da sie einer staatsorganisatorischen Besonderheit geschuldet ist). Man sollte meinen, das Gutachten würde besonders hohen argumentativen Aufwand betreiben, dieses entscheidende verfassungsrechtliche Problem für das Vorhaben der NRW-SPD aus dem Weg zu räumen. Umso erstaunter stellt man fest, dass sich nur rund zwei Seiten des über hundertseitigen Gutachtens dieser Problematik widmen. Dabei räumt das Gutachten zunächst ein, dass auch bei einer Änderung der Landesverfassung Art. 28 GG zu beachten ist:

„Jedenfalls gilt aber Art. 28 Abs. 1 GG bundesverfassungsrechtlich auch für den Landesverfassungsgesetzgeber und ist damit unmittelbar geltender Prüfungsmaßstab nicht nur für einfache Landesgesetze, sondern auch für die Landesverfassungen. Deshalb ist unabhängig von der Frage, ob die in Art. 28 Abs. 1 GG statuierten Grundsätze auch landesverfassungsrechtlich gelten, jedenfalls wegen seiner bundesverfassungsrechtlichen Geltung zu prüfen, ob die verfassungsrechtliche Einführung einer 3-%-Sperrklausel bei Kommunalwahlen gegen Art. 28 Abs. 1 und 2 GG verstoßen könnte.“

Nach der eingangs erwähnten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus der Wahlgleichheit gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG insbesondere, dass der Gesetzgeber eine konkrete Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Kommunalparlamente nachweisen müsste. Doch hierüber geht das Gutachten nun einfach hinweg und betrachtet stattdessen lediglich die sogenannten Homogenitätsvorgaben aus dem ersten Satz von Art. 28 Abs. 1 GG („Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“):

„2. Kein Verstoß gegen Art. 28 Abs. 1 GG

Die dem Landesgesetzgeber vorbehaltenen Regelungen des kommunalen Wahlrechts müssen gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG den Wahlrechtsgrundsätzen der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen gehorchen. Außerdem müssen sie die Homogenitätsvorgaben des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG beachten und damit insbesondere den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes genügen. In diesen Grenzen erlaubt das Grundgesetz allerdings mit Rücksicht auf die grundsätzliche Autonomie der Länder im staatsorganisatorischen Bereich eine im Einzelnen unterschiedliche Ausgestaltung des Wahlsystems und Wahlrechts bei Landtags- und Kommunalwahlen.

Was die „grundsätzlichen" demokratischen Vorgaben „im Sinne dieses Grundgesetzes" für die Verfassungshoheit der Länder beinhalten, ist einzelfallbezogen anhand einer Gesamtinterpretation des Grundgesetzes und seiner Einordnung in die moderne Verfassungsgeschichte zu bestimmen. Hierzu zählen zumindest die Erfordernisse, die für die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes entwickelt worden sind, sowie die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG auf Bundesebene verfassungsfesten Grundsätze, wie sie in Art. 1 und 20 GG niedergelegt sind. Nur was auch für den Bund unabdingbare Grundlage der Art und Form seiner politischen Existenz ist, kann und muss er auch seinen Gliedern vorschreiben. Geschützt ist hiernach ein unantastbarer „Verfassungskern".

Dass eine 5%-Sperrklausel nicht die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt, hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

Zu den auf Bundesebene unabänderbaren Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes gehören die Volkssouveränität und die daraus folgenden Grundsätze der demokratischen Organisation und Legitimation von Staatsgewalt, die sich auf das Staatsvolk zurückführen lassen und grundsätzlich ihm gegenüber verantwortet werden muss. Das erforderliche Legitimationsniveau muss kommunalen Vertretungen wegen Art. 78 Abs. 1 Verf NRW und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG im Wege der Volkswahl vermittelt werden. Es wird nur dann erreicht, wenn das Wahlverfahren denselben demokratischen Grundsätzen genügt, wie sie für die Wahlen zum Bundestag und zu den Landesparlamenten gelten. Hierbei ist das demokratische Prinzip wirksam zur Geltung zu bringen, was wiederum in erster Linie durch Einhaltung der Wahlrechtsgrundsätze geschieht, deren Beachtung den Ländern durch Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG vorgeschrieben ist.

Indessen stehen Sperrklauseln mit den Wahlrechtsgrundsätzen, namentlich dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl und der darin inbegriffenen Erfolgswertgleichheit bei Verhältniswahlen, nicht in einem grundlegenden Widerspruch. Da sowohl die Bundestags- als auch sämtliche Landtagswahlen unter der Geltung einer 5%-Sperrklausel stattfinden, ohne dass hierin ein Verstoß gegen die Grundsätze der Demokratie im Sinne des Grundgesetzes oder eine Verletzung des Wesenskerns der Demokratie gesehen wird, ist auch in Bezug auf Sperrklauseln bei Kommunalwahlen ein solcher Verstoß nicht anzunehmen und deshalb ein Verstoß gegen die Homogenitätsvorgabe des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG zu verneinen.“

Entgegen der Darstellung ganz am Ende des zitierten Abschnitts enthält natürlich nur Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG Homogenitätsvorgaben, während in Satz 2 ja die vom Gutachten klammheimlich über Bord geworfenenen Wahlrechtsgrundsätze stehen. Insofern ist dieser kleine Fehler verräterisch für den argumentativen Trick.

Was das Gutachten zu den Homogenitätsvorgaben schreibt, ist zwar für sich genommen korrekt. Trotzdem sind die Ausführungen in diesem Zusammenhang irreführend, weil die Wahl von Gemeindevertretungen in Nordrhein-Westfalen gerade nicht nur den „Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats“ entsprechen muss, sondern auch dem wesentlich strengeren Grundsatz der gleichen Wahl. Dass der Gutachter dies völlig verkennt oder ignoriert, bringt er an anderer Stelle auf den Punkt:

„Die Einführung einer Sperrklausel für Kommunalwahlen unmittelbar durch verfassungsänderndes Gesetz ändert […] den Prüfungsmaßstab, weil dann entgegen dem bisherigen Prüfungsansatz des Verfassungsgerichtshofs Nordrhein-Westfalen nicht mehr die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Chancengleichheit der Parteien sowie der Wahlrechtsgleichheit als Kontrollmaßstab zur Anwendung kommen können.“

Aufgrund dieses groben Fehlers ist das Gutachten nicht geeignet, die offensichtlichen Bedenken gegen einen erneuten Anlauf für eine kommunale Sperrklausel in Nordrhein-Westfalen auszuräumen. Sollte der Landtag dennoch den Weg über die von der SPD vorgeschlagenen Verfassungsänderung gehen, hätte dies allerdings interessante prozessuale Auswirkungen. Wenn der VerfGH die Sperrklausel für grundgesetzwidrig hält, aber keinen Verstoß gegen die Landesverfassung – insbesondere gegen die Unabänderlichkeitsklausel des Art. 69 Abs. 1 Satz 2 der NRW-Landesverfassung – festzustellen vermag, müsste der VerfGH die Klausel dem Bundesverfassungs­gericht vorlegen (Art. 100 Abs. 1 Satz 2 GG). Aber auch dann, wenn der VerfGH die Dreiprozenthürde für vereinbar mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 28 GG erklären wollte, müsste letztlich Karlsruhe entscheiden. Denn damit würde der VerfGH von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (und mehrerer Landesverfassungsgerichte) abweichen, so dass Art. 100 Abs. 3 GG greift.

So oder so wird die Sache also wohl letztlich vom Zweiten Senat in Karlsruhe entschieden werden. Dieser hatte zwar seine jüngste Rechtsprechung zur kommunalen Fünfprozenthürde noch fast einstimmig (7:1 Stimmen) ausformuliert, aber bezüglich der Dreiprozenthürde im Europawahlgesetz nur noch mit knapper Mehrheit entschieden (5:3 Stimmen). Seit dem letzten Urteil sind zwei Richter, die mutmaßlich die Mehrheitsauffassung des Senats mitgetragen haben, ausgeschieden und durch Nachfolger ersetzt worden. Dass dies zu einer Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung führen könnte, dürfte noch das am ehesten realistische Szenario sein, wie die SPD in NRW ihr Ziel erreichen könnte.


von Wilko Zicht (30.10.2014, letzte Aktualisierung: 02.11.2014, letzte Überprüfung der Links: 30.10.2014)