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30.11.2012

Zum Wahlrechtsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 2012

Gericht verwirft neues Wahlgesetz

Auch das Bundeswahlgesetzes in der Fassung von Dezember 2011 ist verfassungswidrig und unsere Verfassungsbeschwerde hat in allen wesentlichen Punkten recht bekommen (Urteil im Volltext).

  1. Negatives Stimmgewicht (NStG) bleibt verfassungswidrig.
  2. Das Wahlsystem ist grundsätzlich ein Verhälniswahlsystem, so daß Überhangmandate nicht unbegrenzt auftreten dürfen.
  3. Der neue Absatz 2a in §6 BWahlG, der Zusatzsitze nach konstruierten „Reststimmen“ vorsah, ist nichtig.
Da allerdings auch merkwürdig bis unerfreuliches im Urteil steht, hier nun – ein paar Monate nach Verkündung – einige Bemerkungen und kurze Feststellungen zu der Entscheidung über unsere Verfassungsbeschwerde.

Negatives Stimmgewicht bleibt unzulässig

Daß die Ausweitung und Nichtbeseitigung des negativen Stimmgewichts keinen Bestand haben würde, war nach dem Urteil (BVerfGE 121, 266) vom 3. Juli 2008 zum negativen Stimmgewicht nicht besonders überraschend. Es gibt keine Abkehr von dieser Entscheidung, sondern eine Bestätigung und Bekräftigung.

Die Koalition argumentierte mit einer eigenwilligen Neudefinition für negatives Stimmgewicht. Die Stimme eines zusätzlichen Wählers bedeutete demnach nicht mehr „mehr Stimmen“ für die von diesem gewählte Partei. In der Folge dieser Neudefinition wäre auch das Standardbeispiel, die Nachwahl 2005 in Dresden, kein Beispiel von negativem Stimmgewicht mehr gewesen. Eine Sichtweise, die auch beim Bundesverfassungsgericht auf Unverständnis stieß und explizit verworfen wurde. Technisch erklärt das Gericht den ersten Satz in §6 BWahlG, die Verteilung der Sitze auf die Bundesländer, für nichtig, womit das Bundeswahlgesetz keine wirksame Regelung der Sitzzuteilung mehr darstellt.

Überhangmandate – Höchstgrenze 15

Damit sind auch konkret diese Überhangmandate im Wahlgesetz von 2011 verfassungswidrig. Das Gericht beschränkt sich bei seiner Argumentation aber nicht auf das negative Stimmgewicht, es setzt dem Prinzip Überhangmandate eine Höchstgrenze. Zukünftig dürfen es nicht mehr als 15 Überhangmandate sein, die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion nötigen Sitzzahl. Das ist die Abwägung zwischen Verhältniswahl einerseits und Personalisierung andererseits. Andere Fragen zu Überhangmandaten bleiben unbeantwortet. Die klare Vorgabe, um die Thomas Oppermann (SPD) in der Verhandlung gebeten hatte, gab es nicht. Auch kein Wort zum Druck zur strategischen Kandidatur, den Volker Beck (Grüne) beseitigt haben möchte. Kein Wort zum Zwang zum Stimmensplitting durch die sonst wertlose Zweitstimme für überhängende Landeslisten, kein Wort zu dem föderalen Ungleichgewicht, das entsteht, weil in kleinen Ländern Überhangmandate öfter und mit größerem Anteil entstehen, als in großen Ländern (wie NRW, wo bisher keine Bundestagswahl zu einem Überhangmandate führte). Kein Wort zu Ausgleichsmandaten, die nicht nur das Parlament vergrößern, sondern auch unvermeidlich zu relativem Negativem Stimmgewicht führen können. Die Festlegung einer maximalen Obergrenze von 15 Überhangmandaten erscheint angesichts der Vielzahl anderer offener Fragen zu Überhangmandaten ziemlich unmotiviert und ist, da mehr Hürde aufgebaut als eingerissen wurden, faktisch eine Entscheidung gegen Überhangmandate.

Zusatzmandate nach „positiven Reststimmen“ – nichtig

Explizit wurde der §6 Absatz 2a, der aus positiven Rundungsresten „Reststimmen“ und daraus Zusatzmandate ermittelte, verworfen. Die Vergabe der Zusatzsitze verstößt gegen das Prinzip der Wahlgleichheit und Chancengleichheit. Da es auch das damit verfolgte Ziel der Angleichung von Erfolgswertunterschieden nicht erreicht, landet dieses Reststimmenkonzept hoffentlich im großen Eimer unsinniger Wahlrechtsideen.

Relativierungen und Nichterfolge

Das waren auch schon die „Erfolge“, die bis auf die konkreten Aussagen und Nichtaussagen zu Überhangmandaten, nicht besonders überraschend sind. Im Urteil finden sich allerdings auch einige Entscheidungen und Aussagen, die für die Wähler eher unerfreulich, also keine „Erfolge“ sind.

Mehrheitswahlrecht

Auch in seiner Inkonsequenz bleibt das Gericht konsequent. Mehrheits- oder Grabenwahlrecht sind zulässig und eine Einteilung des Wahlgebiets in unverbundene Teilwahlgebiete ist auch dann zulässig, wenn dies zu einer größeren Sperrwirkung als 5% führt.

Kein Anforderung an Normenklarheit

Im Gegensatz zum Gesetzgebungsauftrag im Urteil von 2008 (BVerfGE 121, 266 <316>), das kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht auf eine normenklare und verständliche Grundlage zu stellen, stellt das Gericht hier nun keine Anforderungen an Normenklarheit mehr. Von Verfassung wegen reicht es, wenn statt des Gesetzestextes eine Erläuterung in einer Gesetzesbegründung oder einem Kommentar Hinweise zur Auslegung bietet. Dem in der Gesetzesform so nicht anwendbaren Absatz 2a, wird dadurch noch ausreichend Normenklarheit attestiert. Einen Gefallen tut sich das Gericht damit sicher nicht, neben dem nun noch niedrigeren Anreiz lesbare Gesetzestexte zu produzieren, kann dies auch Klagen allein mit dem Ziel der Normklarstellung durch das Bundesverfassungsgericht provozieren.

Ein Widerspruch zur vorherigen Rechtsprechung ist die Entscheidung trotzdem nicht. Verständliche Gesetzestexte sind eben nur wünschenswert, aber nicht verfassungsrechtlich geboten.

Mehrheitsklausel (Neuinterpretation statt Negatives Stimmgewicht)

Die Formulierung in der neuen Mehrheitsklausel (Absatz 3) führt zu neuem negativem Stimmgewicht, die das Bundesverfassungsgericht nun durch eine andere Interpretation des Gesetzestextes vermeidet. Diese Interpretation vermeidet aber nicht nur negatives Stimmgewicht, sondern garantiert nun auch nicht mehr in allen Fällen eine Mehrheit für die Mehrheitspartei (auch nicht mehr bei ähnlichen Formulierungen z.B. für Landtagswahlen in Bayern).

Bei künftigen (und bestehenden) Mehrheitsklauseln wird daher zu prüfen sein, ob der Wortlaut sowohl zur Intention des Gesetzgebers als auch zur Interpretation des Verfassungsgerichts paßt.

Negatives Stimmgewicht durch Listenerschöpfung

Mathematisch falsch ist dann die Aussage in RN158/159, § 6 Abs. 4 Satz 4 könne nicht zu NStG führen (Man nehme an, die FDP hätte in Mecklenburg-Vorpommern nur einen Kandidaten aufgestellt. Hätten dann 15.000 der Nichtwähler dort der FDP ihre Stimme gegeben, hätte die FDP einen Sitz mehr in Mecklenburg-Vorpommern und einen weniger in Sachsen. Der Sitz in Sachsen wäre echt weg, der neu Sitz für Mecklenburg-Vorpommern bliebe aber wegen der angenommenen Listenerschöpfung unbesetzt, so daß die 15.000 zusätzlichen FDP Wähler der Partei unterm Strich zum Verlust eines Sitz geführt hätten.) Hier hatten wir keine Berechnungen vorgelegt, sondern allein den Entstehensmechanismus analog zum negativem Stimmgewicht durch Überhangmandate beschrieben. Eine direkte Auswirkung hat dieser Teil des Urteils zum Glück nicht, denn Absatz 1 Satz 1 wurde schon wegen des negativen Stimmgewichts durch Überhangmandate vom Verfassungsgericht gestrichen. Allerdings sollte man bei einer Neuregelung darauf achten, kein neues NStG zu erzeugen.

Irreführender Hinweis auf Wahlsystem von 1953

Wenig hilfreich ist dagegen der Hinweis auf das Wahlsystem von 1953 (echt getrennte Länder, also nach fester Bezugsgröße wie Bevölkerung oder Wahlberechtigte). Durch diese nicht gerade minimalinvasive Änderung könnte man wohl das negative Stimmgewicht (durch Überhangmandate, Listentrennung und Listenerschöpfung) in den Griff bekommen. Eine daran anschließende Ausgleichsmandatsregelung wird kaum ohne weiteres Ungemach machbar sein. Auch die Überhangdeckelung zwängte nach der teuer erkauften Ländertrennung wieder zu einer Verbindung der Listen der überhängenden Parteien mit dem Risiko NStG.

Überhangmandate. Ausgleichen oder Streichen?

Wenn es bei den Einmandatswahlkreisen bleibt – und nichts deutet eine für 2013 kaum noch realisierbare Abkehr an – muß der Gesetzgeber sich entscheiden. Streichen oder Ausgleichen der Überhangmandate. Das ist der Preis dieser personalisierten Verhältniswahl, bei der man mehrere unvereinbare Ziele gleichzeitig verfolgt. Für die nur durch eine Landesverrechnung entstehenden „internen“ Überhangmandate stellt sich zusätzlich noch die Frage, wieweit eine interne Verrechnung erfolgen soll.

Dilemma Nachrücken in nur teilweise ausgeglichene Überhangmandate

Ein weiteres Dilemma erwartet den Gesetzgeber, wenn er versucht einen Teil der Überhangmandate zu retten. Denn Teilausgleich (also z.B. dem Ausgleich von nur einem von 16 Überhangmandaten) ist mit einem Dilemma bei der Nachrückregelung verbunden. In nur spärlich ausgeglichenem Überhang sollte man nach der Nachrückerentscheidung (BVerfGE 97, 317) kaum nachrücken dürfen. Allerdings wäre ein Nichtnachrücken bei verbleibenden Ausgleichsmandaten eine Art negatives Stimmgewicht. Eine Neuberechnung mit Streichen auch der Ausgleichsmandate würde zu Sitzen auf Abruf führen und kann auch kaum gewünscht sein.

Fazit

Eine schnelle Entscheidung. Sieben Wochen nach der mündlichen Verhandlung. Dafür ohne Einsetzung oder auch nur Beschreibung einer Übergangsregelung. Damit liegt der Ball wieder wo er hingehört. Beim Bundestag. Bleibt zu hoffen, daß nun eine Lösung anders als beim hingeschluderten Gesetz des letzten Jahres erarbeitet wird. Diesmal nicht in Hinterzimmern, sondern sachgerecht, unter Einbeziehung von Experten, möglichst gemeinsam und transparent.

Zu einer möglichen Zwischenlösung für die Bundestagswahl 2013 weist die durch Peifer et. al. vorgeschlagene Direktmandatsorientierte Proporzanpassung . Der darin vorgeschlagene Aufschlagsfaktor von 10% kann als Kompromiss zwischen Aufblähen des Bundestages und der Möglichkeit eines „Steinbrucheffekts“ auch kleiner gewählt werden.

Für die Zeit nach 2013 ist aber ein Verfahren ohne Überhang- und Ausgleichsmandate wünschenswert. Die Zeiten mit nur zwei dominierenden Parteien, in denen sich das „bewährte Wahlsystem“ bewähren konnte sind inzwischen vergangen. Es wäre gut, wenn sich eine Kommission einmal grundsätzlich mit dem Thema Wahlrecht auseinandersetzen würde.


von Martin Fehndrich (30.11.2012, letzte Aktualisierung: 30.11.2012, letzte Aktualisierung der Links: 30.11.2012)