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20.06.2011

Wahlrechtsreform: Debatte zu Gesetzentwürfen von SPD und der LINKEN


Aufzeichnung der Debatte über Gesetzentwürfe zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und Plenarprotokoll der 111. Sitzung des 17. Deutschen Bundestages vom 26. Mai 2011 (Dauer 1:43:04 h)

Knapp zwei Wochen vor dem Auslaufen der Dreijahresfrist, die das Bundes­verfassungsgericht dem Gesetzgeber am 3. Juli 2008 zur Beseitigung des negativen Stimm­gewichts im Bundeswahl­gesetz gesetzt hat, gibt es immer noch keinen Gesetz­entwurf der Koalitions­parteien. Auch von den vor Pfingsten angesetzten Gesprächen zwischen den Fraktions­chefs Volker Kauder (CDU/CSU) und Rainer Brüderle (FDP) wurde keine Einigung bekannt. So wurden bisher lediglich in der Bundestags­debatte am 26. Mai 2011 – in der eigentlich die Gesetz­entwürfe der SPD- bzw. der LINKEN beraten werden sollten – ein paar Überlegungen aus der koalitions­internen Diskussion öffentlich angedeutet.

Gesetzentwürfe der Oppositionsparteien

Nach der Bundestagsfraktion der Grünen, deren Entwurf bereits im März in der ersten Lesung war, haben auch die beiden anderen Oppositions­fraktionen jeweils eigene Gesetzentwürfe vorgelegt, die Ende Mai beraten wurden. Die SPD (BT-Drs. 17/5895) schlägt vor, für Überhangmandate Ausgleichsmandate zu verteilen. Da diese den Bundestag erheblich aufblähen können, soll im Gegenzug „nach den Erfahrungen mit der nächsten Bundestagwahl“ die Zahl der Wahlkreise reduziert werden. Der Vorschlag kann in der vorliegenden Form zwar Verzerrungen durch Überhangmandate verhindern, aber negatives Stimmgewicht nicht vollständig beseitigen (im Gesetzentwurf „seltene und unvermeidliche Ausnahmefälle“), was seitens der Koalition heftig kritisiert wurde.

Die Fraktion DIE LINKE (BT-Drs. 17/5896) schlägt – neben weitergehenden Reformvorschlägen (bspw. Abschaffung der Sperrklausel, Erweiterung des aktiven/passiven Wahlrechts, Rechtsschutz vor der Wahl und Verbot von Wahlcomputern), für deren Darstellung hier aus thematischen Gründen kein Platz ist – zur Behandlung von Überhang­mandaten einen Mix aus dem Ansatz der Grünen und dem der SPD vor: Interne Überhang­mandate sollen intern verrechnet werden, für externe Überhang­mandate soll es Ausgleichs­mandate geben, was für jedes weitere Überhangmandat einer 6,5 %-Regional-/Klein­partei (wie etwa 2009 der CSU) zu rund 15 zusätzlichen Mandaten führen würde.

Pläne der Koalition

Hauptkritikpunkt der Opposition und damit auch das beherrschende Thema der Debatte war allerdings das Fehlen eines Entwurfs der Koalitionsfraktionen. Die Redner von Union und FDP stellten daraufhin erstmals öffentlich – wenn auch nur in groben Zügen – mehrere Modelle vor. Auch wenn es dabei sichtliche Probleme mit dem Verständnis der Ursache des negativen Stimmgewichts gab, in allen Modellen war der Wunsch der Koalition an einer unverändert hohen Zahl an Überhangmandaten erkennbar. Stefan Ruppert (FDP) führte drei Modelle an:

  1. Vollständige Trennung des Wahlgebietes wie zur Bundestagswahl 1953
    Hierbei würde jedes Bundesland vor der Wahl ein festes Kontingent der 598 Sitze erhalten (beispielsweise nach Zahl der deutschen Bevölkerung oder der Wahlberechtigten). Dieser Vorschlag würde das negative Stimmgewicht vermeiden, aber zu einer Reihe neuer Probleme führen (siehe auch die Meldung „Bundestagsfraktionen verhandeln über 1953er-Wahlrecht und Ausgleichsmandate“).
     
  2. Oberverteilung auf Länder/Unterverteilung auf Landeslisten
    Ein Vorschlag, der nichts an der Ursache des negativen Stimmgewichts ändert, dieses aber auch ohne Überhangmandate ermöglicht (vgl. unsere Analyse) und eine Reihe weiterer Probleme aufweist (bspw. die faktisch völlig wertlosen Stimmen für Landeslisten kleiner Parteien ohne Chance auf ein eigenes Mandat in einem Land).
     
  3. Teilweise Trennung der Landeslisten
    Hier würde beim Auftreten von Überhangmandaten die Berechnung wiederholt, allerdings würden Landeslisten mit Überhangmandaten zwangsweise aus dem Listenverbund ihrer Partei gelöst und schon in der Oberverteilung in Konkurrenz zu ihrer und den anderen Parteien stehen. Auch dieser Vorschlag ändert nichts am prinzipiellen Mechanismus des negativen Stimmgewichts (zur Wirkungslosigkeit der ganzen Variationen der Listenverbindung) und ermöglicht negatives Stimmgewicht nun auch für Parteien ohne Überhangmandate. Hier gilt in ähnlicher Weise das Beispiel mit den Zahlen der Nachwahl in Dresden im Jahr 2005: Mit 2.000 Zweitstimmen mehr in Sachsen erhielte die CDU bei diesem Wahlsystem einen Sitz weniger.

Nicht so konkret blieb der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Günter Krings (CDU), der Modelle zur „Trennung von Landeslisten“ befürwortet und eine mögliche Lösung „in der Streichung eines einzelnen Paragrafen“ sieht (gemeint ist vermutlich § 7 BWahlG). Darüberhinaus deutet er die oben genannten ersten beiden Modelle an.

Zum besseren Verständnis dieser und anderer Modelle ist die Analyse von Ulrich Wiesner mit vielen berechneten und grafisch aufbereiteten Beispielen zu empfehlen.

Widersprüche und Fehler in den „Analysen“ der Koalition

Interessant sind die Analysen der Koalitionäre, die sich nicht nur gegenseitig widersprechen, sondern auch nur teilweise mit den eigenen vorgestellten Modellen in Einklang stehen. Völlig daneben liegt Unions-Fraktionsvize Günter Krings mit seiner Analyse:

„dass die Überhangmandate überhaupt nicht das Problem sind“ und „Das Problem ist die Verbindung von Landeslisten. Die Lösung muss in der grundsätzlichen Trennung der Landeslisten bestehen.“

Beides ist falsch: Änderungen des Rundungsablaufs und bei den Listenverbindungen können ohne Eingriff in den Entstehungsmechanismus für (interne) Überhangmandate negatives Stimmgewicht nicht beseitigen (vgl. „Trennung der Landeslisten beseitigt negatives Stimmgewicht nicht“). Dagegen verlässt er mit dem Ländertrennungsmodell („die Mandate nach Bevölkerungsanteilen verteilen“) den Bereich der bloßen Listentrennung.

Richtig ist hingegen Rupperts Aussage, dass „Wenn wir Wahlgebiete trennen, dann begegnen wir dem Problem des negativen Stimmgewichts direkt“ – auch wenn eine strikte Tennung nicht unbedingt nötig ist. Wahlgebiete werden aber weder in Modell 2 (Vertauschen der Reihenfolge der Zuteilung an Parteien und Länder) noch in Modell 3 (teilweisen Trennung der Landeslisten) getrennt, so dass negatives Stimmgewicht weiterhin auftritt.

Negatives Stimmgewicht – was nicht passt, wird passend geredet

Immerhin erkennt Ruppert, dass das negative Stimmgewicht nicht beseitigt wird, verniedlicht es aber als „kleines Restrisiko“ und Krings nennt es „Restwirkungen“. Nach dieser Argumentation bestünde – angesichts der bei den vorgestellten Modellen 2 und 3 grundsätzlich fehlenden Auswirkungen auf das negative Stimmgewicht – gar keine Notwendigkeit, überhaupt etwas zu ändern. Aber bereits vor drei Jahren wurde vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem angeblich kleinen Effekt argumentiert, den das Gericht im Urteil deutlich widerlegte. Patrick Sensburg (CDU) will dagegen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sogar herauslesen können, „dass eine Lösung in Reinform vielleicht gar nicht möglich ist“. Die Bereitschaft, negatives Stimmgewicht auch weiterhin zuzulassen, deckt sich mit einer Andeutung von Hans-Peter Uhl (CSU) in der Debatte im März 2011, nach der das negative Stimmgewicht „vielleicht nicht vollständig, aber zu großen Teilen“ ausgeglichen werden sollte.

Verfassungsrechtlich umstrittene Überhangmandate

Die anderen Redner der Koalition betonten, dass nicht die Überhangmandate als solche, sondern nur das negative Stimmgewicht verfassungswidrig sei, und deuteten an, dass sie Überhangmandate vollständig erhalten wollen.

Dabei sind Überhangmandate ohne Ausgleich oder interne Verrechnung auch – bzw. gerade – nach der Karlsruher 4:4-Entscheidung vom April 1997 verfassungsrechtlich stark umstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage zuletzt in mehreren, erst nach dem Urteil zum negativen Stimmgewicht entschiedenen Beschlüssen (etwa 2 BvC 6/04) ausdrücklich offen gelassen. Genau aus diesen Verfahren ist uns die einzige juristische Stellungnahme einer Partei zu Überhangmandaten bekannt: Volker Kauder bezeichnet darin im Namen der CDU gegenüber dem Bundesverfassungsgericht die Überhangmandate als verfassungsrechtlich „bedenklich“ und aus demokratischer Sicht für „keineswegs wünschenswert“.

Ausgerechnet der Unterzeichner dieser klaren und rechtlich fundierten Kritik an den Überhangmandaten versucht in diesen Tagen als Unions-Fraktionschef bei den Gesprächen mit Rainer Brüderle die Verzerrung des Wählerwillens durch Überhangmandate zu erhalten und riskiert damit sehenden Auges erneut die Verfassungswidrigkeit des Bundeswahlgesetzes.


von Martin Fehndrich und Matthias Cantow (20.06.2011)