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18.01.2011

Rückblick 2010 …

Für ein Online-Medium ist es bei einem Jahresrückblick immer recht einfach festzustellen, welche Themen seine Leser in den letzten zwölf Monaten bewegten – ein Blick auf die Zugriffsstatistik des Servers genügt: War im letzten Jahr die große Nachfrage nach Informationen zur einzigen Wahl eines deutschen Parlaments in 2010 – der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen – vorhersehbar, kamen die Wahl eines neuen Bundespräsidenten und das sehr frühe, bereits ab Ende September sichtbare Interesse an den bevorstehenden Landtagswahlen überraschend. Wir werfen noch einmal einen Blick – vor allem aus dem thematischen Blickwinkel dieser Website – auf diese und andere, nicht so stark im Licht der Öffentlichkeit stehende, aber nicht minder wichtige Ereignisse des vergangenen Jahres, bevor wir wieder einen Ausblick auf das begonnene Jahr wagen.

Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen

Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai 2010 führte aus wahlmathematischer Sicht zu einer kleinen Überraschung: Wegen einer doppelten Punktladung beim Wahlergebnis gab es erstmals seit 1980 keine Überhangmandate. Bedingung für diese Konstellation ist, dass die großen Parteien sich die Wahlkreise proportional zu ihrem Zweitstimmenanteil aufteilen und ihr gemeinsamer Sitzanspruch nicht unter die kritische Schwelle von 70,7 % (dem grundsätzlichen Direktmandatsanteil) fällt. Tatsächlich erhielt die CDU nur 5.882 Zweitstimmen mehr als die SPD und die Direktmandate verteilen sich im Verhältnis 67:61 zugunsten der CDU. Schon 288 Erststimmen mehr für CDU im Wahlkreis Aachen I hätten damit zu einem CDU-Überhangmandat geführt.

Probleme bei der Auszählung gab es in Köln, anscheinend wegen der Rückkehr zum Stimmzettel, nachdem die Stadt die zuvor jahrelang eingesetzten Wahlcomputer nicht mehr verwenden durfte. Die dadurch bedingte Verzögerungen am Wahlabend zeigten wieder einmal, dass die für ARD und ZDF arbeitenden Umfrageinstitute den im Internet verfügbaren Daten stark hinterherhinken, je näher das vorläufige amtliche Endergebnis rückt. So konnten wir bereits die für die Regierungsbildung wichtige Tatsache vermelden, dass die CDU knapp vor der SPD wieder stärkste Partei werden würde, ehe die Fernsehzuschauer in Ungewissheit (ARD) oder mit falschen Zahlen (ZDF) ins Bett geschickt wurden. Allerdings musste man sich die Wahlergebnisse mühsam auf den Internetseiten der Kommunen zusammensuchen, da die Landeswahlleiterin sich nicht in der Lage sah, auf ihrer Internetseite Zwischenergebnisse zu publizieren. Schade, dass ausgerechnet das größte Bundesland keinen zeitgemäßen Wahlinformationsservice zu bieten hat.

In Dortmund fiel eine ungewöhnlich hohe Zahl ungültiger Zweitstimmen auf (7.930, entspricht 3,4 %, landesweiter Durchschnitt: 1,4 %). Wahrscheinliche Ursache war die auf den Dortmunder Stimmzetteln sehr kleine Schriftgröße der Parteikurznamen bei den Zweitstimmen, möglicherweise verstärkt durch die gleichzeitige Wiederholung der Oberbürgermeisterwahl.

Interessant sind im neuen Landtag auch die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse: Weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb haben eine absolute Mehrheit. Im Gegensatz zu Hessen reicht in Nordrhein-Westfalen aber auch eine relative Mehrheit zur Regierungsbildung. Hannelore Kraft wurde so auch mit 90 Stimmen (bei 181 Sitzen) am 14. Juli zur ersten Ministerpräsidentin des Landes gewählt und muss sich nun für ihre Minderheitsregierung die Mehrheiten regelmäßig suchen. Dazu muss – bei Anwesenheit aller Abgeordneten – mindestens ein Abgeordneter der Opposition mit der rot-grünen Koalition stimmen oder zwei dürfen nicht gegen sie stimmen. Seit dem 1. November ist Hannelore Kraft die erste Präsidentin des Bundesrates.

Bundespräsidentenwahl

Eine große Überraschung war der Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler am 31. Mai. Für uns leider in doppelter Hinsicht, da unsere Hochrechnung der Zusammensetzung der nächsten Bundesversammmlung – angesichts unserer Erwartung, dass der aktuelle Bundestag nicht Teil einer Bundesversammlung sein werde – nicht auf aktuellem Stand war. Nach einigem Rechnen während unzähliger Medien-Anfragen konnten wir dann am Nachmittag eine aktualisierte Hochrechnung präsentieren, die es in viele Zeitungen und auch ins Fernsehen schaffte (bspw. hier im ZDF ab 13:30 min).

Durch den sofortigen Rücktritt stand die Bundesrepublik das erste Mal seit der ersten Präsidentenwahl 1949 ohne einen gewählten Bundespräsidenten da. Dessen Befugnisse nahm in dieser Zeit Bremens Senatspräsident Jens Böhrnsen als Bundesratspräsident wahr.

Die Nominierung des Rostockers Joachim Gauck als Präsidentschaftskandidaten durch SPD und Grüne führte trotz (oder gerade wegen?) des rechnerischen Vorsprungs des Kandidaten von Union und FDP, Christian Wulff, zu einem erheblichen Interesse am Wahlverfahren, selbst an den Wahlen der Mitglieder der Bundesversammlung in den Landtagen, die sonst kaum Beachtung finden. So waren die Wahlleute-Wahlen in Sachsen und Bremen, die Wulffs Vorsprung verkürzten, Gegenstand vieler Meldungen. In zehn Bundesländern wurde allerdings ein gemeinsamer Wahlvorschlag „gewählt“, der Abweichungen des Ergebnisses von den Fraktionsstärken in den Landtagen von vornherein verhinderte und rechtlich umstritten ist.

An dem als Wahltag vom Bundestagspräsidenten bestimmten 30. Juni – dem letzten Tag der vom Grundgesetz gesetzten Frist – wurde Christian Wulff nach einer langen Sitzung der 14. Bundesversammlung im dritten Wahlgang mit absoluter Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt. Amtsbeginn war diesmal die Annahme der Wahl und nicht das Ende der Amtszeit des bisherigen Präsidenten.

Rechtsprechung

Wahlprüfung der Europawahl und der Bundestagswahl 2009

Der Wahlprüfungsausschuss des 17. Deutschen Bundestags stand im abgelaufenen Jahr vor der Herausforderung, sowohl die Einsprüche gegen die Europawahl 2009 als auch gegen die kurz danach stattgefundene Bundestagswahl abarbeiten zu müssen. Die 54 Einsprüche gegen die Europawahl wurden in zwei Etappen (1, 2) zurückgewiesen. Auch zur Bundestagswahl hat der Bundestag bisher in zwei Schüben (1, 2) Einsprüche entschieden, 90 der insgesamt 163 eingegangen Wahleinsprüche sind hier aber immer noch anhängig.

Unter den Einsprüchen zur Europawahl, gegen deren Zurückweisung nun beim Bundesverfassungsgericht Wahlprüfungsbeschwerden erhoben wurden, befinden sich einige interessante Themen wie die Fünfprozenthürde, die Wahl mit geschlossenen Listen und die Briefwahl. Zur Bundestagswahl ist eine Wahlprüfungsbeschwerde wegen der umstrittenen Nichtanerkennung der politischen Vereinigung DIE PARTEI als Partei durch den Bundeswahlausschuss anhängig.

Wahlprüfung Landesebene

In Schleswig-Holstein tauchten die von der Partei DIE LINKE vermissten Zweitstimmen in Husum in einer Nachzählung durch den Landeswahlausschuss Anfang des Jahres auf. Die Neufeststellung des Wahlergebnisses reduzierte die Mehrheit der Regierungskoalition auf einen Sitz, die FDP verlor ein Mandat an DIE LINKE.

Die Hoffnung der Oppositionsparteien, durch eine Veränderung der umstrittenen Verteilung der Ausgleichsmandate die schwarz-gelbe Mehrheit vollends zu brechen, erfüllte sich hingegen nicht. Immerhin stellte das Verfassungsgericht in seinen Urteilen vom 30. August die Verfassungswidrigkeit des geltenden Wahlrechts fest und gab dem Landtag auf, bis zum 31. Mai 2011 das Landtagswahlrecht zu reformieren und bis zum 30. September 2012 eine Neuwahl herbeizuführen.

Im Saarland ragte auf dem Stimmzettel der Landtagswahl 2009 – besonders im Wahlkreis Neunkirchen – der Orientierungspfeil für das Stimmkreuz in das Feld der CDU. Ein entsprechender Einspruch, der eine Beeinflussungsgefahr sieht, ist noch in der parlamentarischen Prüfung. Am 7. Dezember fand hierzu eine Anhörung von Sachverständigen statt. Auch die weiteren Wahleinsprüche, die sich u. a. gegen die Kandidatenaufstellung bei der Partei DIE LINKE richten, sind noch nicht entschieden. Die Prüfung der Einsprüche im Saarland dauert damit ähnlich lange, wie die der noch im Bundestag anhängigen Einsprüche zur Bundestagswahl 2009 – bereits mehr als ein Jahr.

Normenkontrolle in Bremen

Der Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen stufte die Bremische Reihung im neuen personalisierten Wahlsystem als verfassungsgemäß ein und erteilte damit nach der gescheiterten Wiedereinführung der Fünfprozenthürde in Bremerhaven auch dem zweiten Versuch der Bremer SPD, das im Volksbegehren vorgesehene neue Wahlrecht zu konterkarieren, eine Absage. Es ging im Kern um die Frage, ob die Sitze von Personen, die sowohl aufgrund ihres Listenplatzes als auch aufgrund ihrer Stimmenzahl gewählt wären, vom Listenwahl-Kontingent oder vom Personenwahl-Kontingent abgezogen werden.

Die Bremische Reihung sieht vor, dass zunächst das Listenwahl-Kontingent bedient wird, so dass mehr Sitze übrig bleiben, die anschließend in der Reihenfolge der Stimmenzahlen verteilt werden können. Die Niedersächsische Reihung, die seit langem im niedersächsischen Kommunalwahlrecht gilt, verfährt hingegen in umgekehrter Reihenfolge. Dadurch tendiert dort insbesondere in den größeren Städten die Mandatsrelevanz der Personenstimmen gegen Null.

Kommunale Wahlprüfungen in Nordrhein-Westfalen

Zu den falsch berechneten Sitzverteilungen in einigen Räten gab es Klagen betroffener Wählergruppen aus Aachen, Erkelenz und Dortmund. Das Verwaltungsgericht Aachen verhandelte zu Aachen und Erkelenz gemeinsam und wies die Argumentation der Räte, also des NRW-Innenministeriums zurück und gab den Klägern Recht. Die Räte haben inzwischen gegen die Urteile Berufung beim Oberverwaltungsgericht in Münster eingelegt, die Entscheidung darüber ist im Laufe des Jahres 2011 zu erwarten. Bereits bestätigt hat das Oberverwaltungsgericht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Aachen, dass ein zu früh – d. h. vor der formellen Bekanntgabe des amtlichen Endergebnisses – eingelegter Einspruch unzulässig sei, jedenfalls im besonders formstrengen Nordrhein-Westfalen (15 A 1612/10).

Zum Parallelfall in Dortmund gibt es noch keine gerichtliche Entscheidung. Auch die Klagen gegen die Wiederholungswahl des Rates und der Bezirksversammlungen sind noch nicht entschieden. Stattgefunden hat dagegen die Wiederholung der Oberbürgermeisterwahl und einer Bezirksversammlung in Brakel am Tag der Landtagswahl. Auch in Telgte fand an diesem Tag eine Bürgermeisterwahl statt, nachdem die ursprüngliche Wahl wegen unsachgemäßer Behandlung von Wahlbriefen – sie wurden vor der Auszählung geschreddert – wiederholt werden musste und bei der ersten Wiederholungswahl der einzige Kandidat das erforderliche 25 %-Quorum nicht erreicht hat.

Wechsel im Bundesverfassungsgericht

Die Richter Siegfried Broß (auf Vorschlag der CDU/CSU gewählt) und Lerke Osterloh (SPD-Vorschlag) sind aus dem unter anderem für Wahlrecht zuständigen Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts ausgeschieden. Für sie wurden Monika Hermanns (SPD-Vorschlag) und Peter Huber (CDU/CSU-Vorschlag) gewählt. Letzterer ist kein Unbekannter, Huber vertrat die CDU im Verfahren zum negativen Stimmgewicht in Karlsruhe und war Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, bringt also seine eigenen Erfahrungen zu Wahlrecht im Allgemeinen und Überhangmandaten im Speziellen mit. Neuer Berichterstatter für Wahlrechtsverfahren ist Michael Gerhardt (SPD-Vorschlag) als Nachfolger für Rudolf Mellinghoff (CDU/CDU-Vorschlag), der die steuerrechtlichen Themen aus dem Dezernat von Lerke Osterloh übernimmt und dem nachgesagt wird, im Laufe des Jahres zum Bundesfinanzhof als dessen neuer Präsident zu wechseln. In jedem Fall frei wird Ende des Jahres die Richterstelle von Udo Di Fabio (CDU/CSU-Vorschlag). Als Favorit für dessen Nachfolge gilt derzeit Peter Müller (CDU), Ministerpräsident des Saarlandes.

In den Verfahren über die Wahlprüfungsbeschwerden zur Europawahl wird noch Mellinghoff als Berichterstatter fungieren, während die nach dem 14. November 2010 eingehenden Wahlprüfungsbeschwerden gegen die Bundestagswahl auf dem Schreibtisch von Gerhardt landen werden. Dies gilt auch für die zu erwartenden Verfassungsbeschwerden gegen das Änderungsgesetz in Sachen negatives Stimmgewicht.

Gesetzgebung

Bundestag

Auch zweieinhalb Jahre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht liegt noch immer kein Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen zur Reform des Bundestagswahlrechts vor, es laufen nur informelle Verhandlungen zwischen den Bundestagsfraktionen. CDU/CSU und FDP schlagen vor, zum Wahlsystem der Bundestagswahl 1953 zurückzukehren, indem die Bundesländer wieder zu abgeschlossenen Wahlgebieten gemacht werden. Die SPD fordert zusätzlich Ausgleichsmandate. Mehr dazu in unserer Meldung vom 3. Januar 2011.

Mecklenburg-Vorpommern

Mecklenburg-Vorpommern hat als erstes Flächenland den Versuch gewagt, Landtags- und Kommunalwahlen in einem einzigen Wahlgesetz zu vereinen. Handwerklich ist kein großer Wurf gelungen. So hat man vergessen, bei ausscheidenden Wahlkreisabgeordneten das Nachrücken aus der Landesliste der Partei zu regeln. Dem neuen Wortlaut nach blieben diese Sitze künftig unbesetzt. Bei der Ausgleichsmandatsregelung bleibt weiterhin unklar, wie zu verfahren ist, wenn bei der Aufstockung des Landtags das Alabama-Paradoxon beim verwendeten Verfahren nach Hare/Niemeyer auftritt.

Ein Antrag von DIE LINKE, das Wahlalter auch für Landtagswahlen auf 16 Jahre zu senken, wurde von den anderen Fraktionen – bei Enthaltung der FDP – abgelehnt.

Berlin

In Berlin wurde ebenfalls die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre diskutiert. Dafür waren DIE LINKE und die Grünen, sogar ein SPD-Parteitag sprach mit deutlicher Mehrheit dafür aus. In der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus endete die Abstimmung hingegen mit 19:19, somit bleibt es vorerst beim Wahlalter 18.

Stichwahl und kommunale Sperrklausel in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen

Während nach Thüringen nun auch Nordrhein-Westfalen aufgrund der neuen Mehrheitsverhältnisse die Abschaffung der Stichwahl wieder rückgängig machen will, werden in Niedersachsen die Bürgermeister und Landräte bis auf weiteres ohne Stichwahl gewählt. Intelligente Kompromisslösungen wie die absolute Mehrheitswahl mit Rangfolgenstimmgebung wurden auch in Niedersachsen nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.

Die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen kündigte auch an, erneut die Wiedereinführung einer kommunalen Sperrklausel zu prüfen. Ob ihr dazu neue Argumente einfallen werden, die nicht schon vom Verfassungsgerichtshof zurückgewiesen wurden, darf bezweifelt werden.

Wahlcomputer

Inzwischen herrscht in allen deutschen Innenministerien Einigkeit darüber, dass kein verfassungsrechtlicher Weg zur Wiederzulassung von Wahlcomputern erkennbar ist (Besprechungsprotokoll). Eine gegen die Verwendung von Wahlcomputern bei der Kommunalwahl 2008 in Cottbus gerichtete Klage endete mit einem gerichtlichen Vergleich auf Kosten der Stadt Cottbus. Im April erschien eine Sicherheitsstudie zu indischen Wahlcomputern, die einige Sicherheitslücken beschrieb. Die Behörden in Indien zeigten sich etwas nachtragend: Ein Autor der Studie wurde im Sommer verhaftet, den anderen beiden wurde eine Wiedereinreise verweigert. Nachdem auf den in Deutschland gebräuchlichen Nedap-Wahlcomputern bereits erfolgreich Schach gespielt wurde, haben amerikanische Studenten auf einem Sequoia AVC Edge-Wahlcomputer sogar das klassische Arcade-Spiel Pacman installiert.

Ein verwandtes Thema ist die Internetwahl. In Österreich muss sich der Verfassungsgerichtshof mit der Verfassungsmäßigkeit des E-Votings bei den (nichtstaatlichen) Hochschulwahlen 2009 befassen. In der Schweiz experimentieren einige Kantone schon länger mit Internetwahlen. Für die Wahlen im nächsten Jahr wird in Zürich das Experiment allerdings gestoppt. In Winterthur gab es Probleme, ein Write-In-Feld auf dem Stimmzettel in die Software zu übernehmen bzw. die Angaben auszuwerten. Eine wirklich überzeugende Lösung steht noch aus.

Transparenz

Die sich aus der Öffentlichkeit einer Wahl ergebende Transparenz ist ein wichtige Voraussetzung demokratischer Wahlen. Das Gebot einer transparenten Wahl hat letztlich zum praktischen Aus von Wahlcomputern in Deutschland geführt und könnte ein unüberwindliches Hindernis für die Einführung neuer Geräte sein. Allerdings gibt es in anderen Bereichen immer noch Intransparenzen. Ein Beispiel ist die Neuauszählung bei offensichtlichen oder wenigstens sehr naheliegenden Fehlern bei der Ermittlung des Wahlergebnisses. Zwar haben Stimmzettel aus Papier den Vorteil, dass man sie nachzählen und nachprüfen kann. Für eine solche Nachzählung sind die Hürden aber so hoch, dass sie praktisch fast nie stattfinden. Dies durfte im vergangenen Jahr die Piratenpartei in Nordrhein-Westfalen erfahren, bei der es in vielen Wahllokalen zu Auszähl- bzw. Zuordnungsfehlern in den Wahlniederschriften gekommen ist, die man durch eine einfache Nachzählung hätte berichtigen können.

Neu ausgezählt wurde dagegen im Rahmen der Wahlprüfung der Landtagswahl in Schleswig-Holstein bei einem absehbaren und mandatsrelevanten Auszählfehler in einem Husumer Wahllokal, was zu einer Sitzverschiebung von der FDP zur Partei DIE LINKE geführt hat. Hier war der mögliche Zählfehler erst nach Feststellung des Wahlergebnisses durch den Kreiswahlausschuss aufgefallen (für den Kreiswahlleiter hatte sich trotz wahlordnungswidrig ausgefüllter Wahlniederschrift bei deren Prüfung kein Anlass zu Bedenken ergeben), was die Anforderungen an das, eine Nachzählung begründende Vorbringen eines Wahlberechtigten erheblich erhöht – ein „abweichendes“ Ergebnis einer Partei oder die behauptete Mandatsrelevanz allein genügen nach herrschender Meinung nicht.

Die Transparenz gebietet daher auch die zentrale (und selbstverständlich kostenfreie) Veröffentlichung der Wahlergebnisse des gesamten Wahlgebietes bis auf Wahlbezirksebene in elektronisch einfach zu verarbeitender Form, damit jeder Wähler oder Interessierte das Ergebnis seines bzw. jeden beliebigen Wahlbezirks erfahren kann. Nur so könnten offensichtliche oder mögliche Fehler wie zu Lasten der PIRATEN in Nordrhein-Westfalen oder der LINKEN in Schleswig-Holstein direkt und vor Feststellung des Endergebnisses gefunden werden. Aber selbst bei den so wichtigen Bundestagswahlen ist das – obwohl schon seit Jahren technisch möglich – noch nicht verwirklicht: So gibt es beim Bundeswahlleiter erst lange nach Ende der Einspruchsfrist die Ergebnisse der Bundestagswahl 2009 nach Wahlbezirken und zudem nur gegen Geld.

Und noch ein Beispiel für ein Transparenz-Defizit: So wird die Dokumentation möglicher Wahlfehler selbst in leeren Wahllokalen verhindert (während in Wahlkabinen gerichtete Überwachungskameras vom nordrhein-westfälischen Landtag hingenommen werden).

Wahlen im Ausland

In Großbritannien gibt es erstmals seit Jahrzehnten wieder ein hung parliament, bei der keine Partei die absolute Mehrheit der Sitze erhielt.

In Belgien führte die Kontroverse um den Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde im Frühjahr zu einer Regierungskrise mit anschließender Neuwahl.

Bei der Landtagswahl im Burgenland (Österreich) schaffte die Liste Burgenland das Kunststück, im amtlichen Endergebnis eine halbe Stimme über der 4 %-Hürde zu liegen.

In Alaska wurde die US-Senatorin Lisa Murkowski nicht von ihrer Partei erneut nominiert und kandidierte in Folge als Write-In-Kandidatin. Sie wurde wiedergewählt, obwohl die Wähler ihren Namen per Hand nachtragen mussten. Der Alaska Supreme Court entschied kurz vor Weihnachten letztlich zu Murkowskis Gunsten und akzeptierte auch Stimmzettel als gültig, auf denen ihr Name nicht ganz korrekt geschrieben wurde.

 

… und Ausblick auf das Jahr 2011

Superlandtagswahljahr 2011

Im Gegensatz zum Vorjahr steht 2011 eine ganze Reihe von Landtagswahlen an: Am 20. Februar beginnt Hamburg mit einer vorgezogenen Bürgerschaftswahl, am 20. März wird in Sachsen-Anhalt und am 27. März in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewählt, bevor am 22. Mai auch in Bremen die Mitglieder der Bürgerschaft per Urnengang neu bestimmt werden. In der zweiten Jahreshälfte wählen dann die Bürger (voraussichtlich) am 4. September in Mecklenburg-Vorpommern und am 18. September in Berlin. Insgesamt sind mehr als 18 Millionen Wahlberechtigte zur Wahl ihrer Landesparlamente aufgerufen, es können aber noch weitere hinzukommen: So besteht in Schleswig-Holstein die SPD, die für eine auch von CDU und FDP beabsichtigte Änderung der Landesverfassung unentbehrlich ist, auf einen Wahltermin am 13. November 2011, während die Regierungskoalition den Urnengang erst im Spätsommer 2012 anstrebt. Und auch in Nordrhein-Westfalen wird eine Neuwahl in Betracht gezogen.

Desweiteren finden Kommunalwahlen in Hessen (27. März), Bremen (22. Mai), Niedersachsen (11. September) und Mecklenburg-Vorpommern (am 4. September, nur die Kreistage) statt. Da in Niedersachsen bei den Bürgermeisterwahlen die Stichwahlen abgeschafft wurden, wird es interessant, ob die geringen relativen Mehrheiten von einigen Bürgermeistern in Nordrhein-Westfalen (bis unter 30 %) hier noch unterboten werden.

In Hamburg und Bremen gilt bundesweit erstmals ein Landtagswahlrecht, bei dem die für die Sitzverteilung zwischen den Parteien entscheidenden (jeweils fünf) Stimmen kumuliert und panaschiert werden können. Dementsprechend wird es bis zu einem vorläufigen amtlichen Endergebnis einige Tage dauern, zumal gleichzeitig mit der Bürgerschaft auch die Bezirksversammlungen (Hamburg) bzw. die Beiräte (Bremen) und die Stadtverordnetenversammlung (Bremerhaven) gewählt werden. Die Landeswahlleiter gehen dabei unterschiedliche Wege, um dennoch bereits in der Wahlnacht ein aussagekräftiges Ergebnis präsentieren zu können. In Hamburg sollen direkt im Wahllokal die Stimmzettelhefte mit den Landesstimmen in einem vereinfachten Verfahren ausgezählt werden, wobei nur die Zuordnung der Stimmen zur jeweiligen Landesliste festgehalten wird, nicht jedoch die gewählte Personen. Auf diese Weise ergibt sich bereits in der Wahlnacht ein vollständiges Ergebnis für die Sitzverteilung auf die Parteien, allerdings müssen alle Stimmzettelhefte in den folgenden Tagen erneut und diesmal „richtig“ ausgezählt werden. In Bremen werden hingegen alle Stimmzettelhefte nach Schließung der Wahllokale ins Auszählzentrum transportiert. Dort beginnt dann noch am Wahlabend die mehrtägige Auszählung. Anfangen werden die Auszählwahlvorstände mit zuvor vom Landeswahlleiter festgelegten Wahlbezirken, die zusammen statistisch gesehen repräsentativ für die Stadt Bremen sein sollen. Auf diese Weise erhofft man sich noch in der Wahlnacht ein Teilergebnis, das sehr dicht am Gesamtergebnis liegen wird. Im Wahlbereich Bremerhaven stehen wesentlich weniger Kandidaten zur Wahl, daher wird dort bereits in der Wahlnacht ein vorläufiges amtliches Endergebnis der Bürgerschaftswahl erwartet.

Bei den anderen Landtagswahlen kann es Probleme mit Überhangmandaten und der Zuteilung der Ausgleichsmandate geben. Insbesondere in Berlin ist die Verteilung der Ausgleichsmandate immer noch nicht sauber geregelt. Nach den letzten beiden Wahlen hatte der Verfassungsgerichtshof die Regelungen jeweils anders interpretiert als der Landeswahlleiter.

In Baden-Württemberg könnten sich bei einem sehr knappen Wahlausgang etwaige Überhangmandate für die CDU als wahlentscheidend herausstellen, da die Ausgleichsmandate nicht auf Landesebene, sondern in den vier Regierungsbezirken zugeteilt werden, wobei das letzte Mandat jeweils die überhängende Partei erhält. Die dadurch entstehende Bevorteilung der Überhang-Partei fällt allerdings deutlich geringer aus als bei früheren Jahren, weil für die Sitzverteilung erstmals Sainte-Laguë statt d’Hondt gilt. Erfahrungsgemäß gewinnt die baden-württembergische CDU ihre Überhangmandate zudem vor allem in Regierungsbezirken, in denen sie unterdurchschnittlich stark abschneidet. Weil das Stimmengewicht in diesen Bezirken aufgrund der Aufstockung der Sitzzahl (durch Überhang- und Ausgleichsmandate) ebenfalls angehoben wird, wirkt dies dem CDU-Vorteil des jeweils letzten Sitzes entgegen. Außerdem neu: Die Zweitmandate werden erstmals nicht mehr in der Reihenfolge der absoluten Stimmenzahlen verteilt, sondern nach dem relativen Stimmenanteil bezogen auf die gültigen Stimmen im Wahlkreis insgesamt.

Für alle Bundesländer gilt: Wenn Überhangmandate auftreten, ist jeweils mit einer noch größeren Zahl an Ausgleichsmandaten zu rechnen, da die größte Partei nach aktuellen Umfragen jeweils zwischen 30 % und 40 %, wenigstens deutlich unter 50 % liegen dürfte.

Wahlrechtsreformen

Im Jahr 2011 laufen zwei wichtige, von Verfassungsgerichten im Rahmen der Wahlprüfung gesetzte Fristen an den Gesetzgeber aus: In Schleswig-Holstein endet die Frist des Landesverfassungsgerichts für eine Reform des Landeswahlgesetzes am 31. Mai 2011, die Frist des Bundesverfassungsgerichts für ein verfassungsgemäßes Bundeswahlgesetz endet einen Monat später am 30. Juni 2011.

In Schleswig-Holstein gibt es drei Vorschläge, die weiterhin ein Zweistimmenwahlrecht mit Einmandatswahlkreisen vorsehen und sich im Wesentlichen in der Anzahl der Wahlkreise und damit der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Überhangmandaten unterscheiden. Dazu findet am 9. Februar 2011 eine Anhörung von Sachverständigen vor dem Innen- und Rechtsausschuss des Landtags statt. CDU, FDP und SPD möchten die Zahl der Wahlkreise nur geringfügig von 40 auf 35 reduzieren. Da dies nicht den Vorgaben des Landesverfassungsgerichts entspricht, soll zusätzlich die Zahl der Abgeordneten aus der Verfassung gestrichen werden. Die SPD will dieser Verfassungsänderung aber nur zustimmen, wenn die nächste Wahl nicht erst – wie vom Gericht als spätester Termin vorgegeben – im September 2012 stattfindet, sondern bereits am 13. November 2011. GRÜNE, DIE LINKE und SSW fordern eine wesentlich drastischere Reduzierung der Wahlkreise und lehnen eine Verfassungsänderung ab.

Bis zum Auslaufen der Dreijahresfrist des Bundesverfassungsgerichts an den Deutschen Bundestag, den verfassungswidrigen Zustand im Bundeswahlgesetz zu beseitigen, sind es jetzt noch weniger als sechs Monate. Bis auf ein Papier des SPD-Abgeordneten Jakob Maria Mierscheid liegt bisher kein konkreter Vorschlag offen auf dem Tisch. Noch 2009 hatte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Diskussion um eine Reform vor einem „Schweinsgalopp“ gewarnt und stattdessen dafür plädiert, noch einmal mit dem verfassungswidrigen Gesetz wählen zu lassen. Jetzt ist die Zeit noch knapper.

Abgesehen vom Gesetzentwurf der Grünen aus der letzten Legislaturperiode gibt es lediglich unscharfe Andeutungen seitens der Koalitionsparteien, aber keinen vorzeigbaren Entwurf. Die sparsam gestreuten Informationen weisen auf eine strikte Ländertrennung wie beim Gesetz für die Wahl zum 2. Deutschen Bundestag im Jahre 1953 hin. Dies ginge dann mit dem Wunsch konform, Überhangmandate in der bisherigen Anzahl zu erhalten und nur das negative Stimmgewicht zu vermeiden. Bei Umsetzung eines solchen Ansatzes wären Verfassungsbeschwerden zu erwarten, die dann jeder Wahlberechtigte beim Bundesverfassungsgericht erheben kann (direkt und ohne notwendige 100 Beitrittserklärungen wie bei einer Wahlprüfungsbeschwerde).

In Großbritannien findet am 5. Mai eine Volksabstimmung über die Frage statt, ob das relative Mehrheitswahlrecht ersetzt werden soll durch ein absolutes Mehrheitswahlrecht mit Rangfolgenstimmgebung (alternative vote). Die Abstimmung ist ein Zugeständnis der Konservativen an ihren neuen Koalitionspartner, den Liberaldemokraten, die freilich eigentlich ein Verhältniswahlrecht bevorzugen. Bei Erfolg der Reform wird in Zukunft wenigstens die Hälfte der Stimmen Einfluss auf die Sitzverteilung haben.

Rechtsprechung

Wahlprüfung der Europawahl und der Bundestagswahl 2009

Der Bundestag wird in diesem Jahr die Prüfung der Bundestagswahl 2009 beenden. Von Interesse ist hier unter anderem, ob auch der Bundestag kein Problem mit in Wahlkabinen zeigende Kameras (WP 103/09) sieht. Desweiteren ist auch für diese Wahl noch ein Einspruch gegen die geltende Ausgestaltung der Briefwahl anhängig.

Das Bundesverfassungsgericht wird sich 2011 voraussichtlich mit folgenden Themen der Wahlprüfung auseinandersetzen:

Nach dem Tempo des Bundesverfassungsgerichts bei der Einholung von Stellungnahmen anderer Verfassungsorgane in den Verfahren zur Sperrklausel und der Listenwahl zu urteilen, sind erste inhaltliche Entscheidungen zu den Wahlprüfungsbeschwerden voraussichtlich bereits in diesem Jahr zu erwarten.

Kommunale Wahlprüfungen in Nordrhein-Westfalen

In Nordrhein-Westfalen wird das Oberverwaltungsgericht Münster voraussichtlich in diesem Jahr die Berufungsverfahren zur Sitzverteilung der Räte in Aachen und Erkelenz entscheiden, beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen steht eine erstinstanzliche Entscheidung zur Kommunalwahl in Dortmund an.

Dank an unsere Leser und alle Helfer

Für das – für ein Jahr mit nur wenigen Wahlen erstaunlich große – Interesse an Wahlrecht.de möchten wir uns bei allen Lesern bedanken und wir wünschen Ihnen noch ein frohes 2011! Unser besonderer Dank gilt erneut den Lesern, die uns auf interessante Meldungen und Fakten sowie neue Wahlumfragen hinwiesen oder uns fehlende Umfragewerte aus lokalen Zeitungen zusandten, sowie den Mitarbeitern von Umfrageinstituten, Medien, Behörden und Parteien, die uns – teilweise schon seit vielen Jahren – bei fehlenden Zahlen und Informationen halfen.

Wie 2010 werden wir – neben unserem schon länger gewohnten Angebot – auch in diesem Jahr wieder kurze, aber dafür aktuelle Informationen auch außerhalb von Wahlrecht.de liefern, was im vergangenen Jahr sehr positiv aufgenommen wurde, wie man an der überraschend schnell steigenden Zahl von Lesern bei facebook und bei Twitter erkennen kann.

Bei den Wahlumfragen haben wir begonnen, auch in Online-Panels durchgeführte Wahlumfragen zu dokumentieren, die von Mitgliedern der entsprechenden Fachverbände durchgeführt werden und eine Repräsentativität behaupten. Wegen der auch in diesem Jahr vielen Zuschriften der Hinweis: Für alle Umfragen gilt, dass wir diese nicht selbst durchführen, sondern nur dokumentieren. Erhalten wir eine Aufschlüsselung der sonstigen Parteien, führen wir diese immer auf.


von Martin Fehndrich, Matthias Cantow und Wilko Zicht (18.01.2011)