Nachrichten

[Aktuelle Meldungen]

31.12.2008

Rückblick 2008 ...

Für das Jahr 2008 waren zwar eine Reihe von Wahlen und wahlrechtlich bedeutsamen Ereignisse zu erwarten – was kam, sprengte dann doch unsere Erwartungen. Gleich mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und einiger Landesverfassungsgerichte machten aus dem Jahr vor dem Superwahljahr 2009 ein Superwahlrechtsjahr 2008. Allein beim Bundesverfassungsgericht wurden zwei Wahlprüfungsverfahren mündlich verhandelt, in den 56 Jahren davor geschah das insgesamt lediglich ein einziges Mal.

Wahlrecht – Wahlprüfungs-, Organstreit- und Normenkontrollverfahren

Bundesverfassungsgericht urteilt – negatives Stimmgewicht verfassungswidrig

Fast zehn Jahre nach den ersten, von uns eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Regelungen im Bundeswahlgesetz zu den internen Überhangmandaten, befasste sich das Bundesverfassungsgericht endlich mit diesem Problem. Die Wahlprüfung der Bundestagswahl 2005 war bereits unser dritter Anlauf, und so waren wir ein wenig überrascht, als wir erfuhren, dass auch mündlich verhandelt werden sollte. Die Verhandlung gab uns Gelegenheit, die Aufmerksamkeit der Medien auf dieses nur scheinbare Randthema zu lenken, auch wenn vielen Journalisten die Tragweite der Problematik (vor allem hinsichtlich der möglichen Auswirkungen auf die Mandatsverteilung) immer noch nicht bewusst ist. Der Zweite Senat kam dann – für uns nicht überraschend – im Urteil vom 3. Juli (2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07) zu dem Schluss, dass das negative Stimmgewicht gegen die Wahlgrundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl verstößt und damit verfassungswidrig ist. Angesichts der zehnjährigen Vorgeschichte parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Verfahren erstaunte uns allein die lange Frist zur Behebung der Verfassungswidrigkeit bis nach der Bundestagswahl 2009, die Karlsruhe dem Gesetzgeber gab. Ein Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde vom Bundestag bisher nicht in Angriff genommen.

Einsatz von Wahlcomputern

Auch in den Verfahren wegen des Einsatzes von Wahlcomputern bei der Bundestagswahl vor drei Jahren gab es Bewegung, hier wurde ebenfalls bei zwei Wahlprüfungsbeschwerden mündlich verhandelt. Die Fragen der Richter waren sehr kritisch, wozu wohl obendrein die im Vorfeld beobachteten Probleme beim Wahlcomputereinsatz zur hessischen Landtagswahl sowie den Kommunalwahlen in Hessen und Brandenburg – bei Lokalpolitikern gelagerte Wahlcomputer und lange Warteschlangen – beitrugen. Wir gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht im demnächst verkündeten Urteil strenge Maßstäbe für eine Wahl mit elektronischen Wahlgeräten aufstellen wird, wobei noch offen ist, ob die gesamte Wahlhandlung (also vom Blick in die leere Urne, über die Stimmabgabe bis zur Auszählung) weiterhin beobachtbar oder lediglich nachprüfbar sein muss. Beides wird durch die momentan eingesetzten Wahlcomputer nicht gewährleistet, so dass deren Verwendung im vergangenen Jahr voraussichtlich die letzte war.

Eine Beobachtbarkeit ist auch beim digitalen Wahlstift nicht gegeben, dessen Einsatz zur Bürgerschaftswahl in Hamburg im Februar 2008 geplant war. Nachdem der CCC im vergangenen Jahr einige Sicherheitsmängel aufgezeigt hat und die notwendige Zertifizierung sich verzögerte (erfolgte erst im Juni 2008), wurde auf herkömmliche Weise gewählt und ausgezählt.

Bürgerschaftswahl 2007 in Bremen

In Bremen fehlte einer Wählervereinigung bei der Bürgerschaftswahl 2007 eine einzige Stimme zum Einzug in die Bremische Bürgerschaft. Die Wahlprüfung deckte schon im Vorjahr eine Reihe von Wahlfehlern auf. Letztendlich setzte der Staatsgerichtshof eine umstrittene Neuwahl in einem Wahllokal in Bremerhaven an, die der Wählervereinigung Bürger in Wut den Einzug in die Bürgerschaft bescherte.

Kommunale Sperrklauseln

Nachdem das Bundesverfassungsgericht (letztmalig in seiner Eigenschaft als „Landesverfassungsgericht“) die Fünf-Prozent-Hürde im Kommunalwahlgesetz von Schleswig-Holstein für verfassungswidrig erklärt hat, urteilte der Thüringer Verfassungsgerichtshof, der nach einigem Hin und Her im Vorfeld auf die Entscheidung in Karlsruhe gewartet hatte, zur kommunalen Fünf-Prozent-Hürde des Landes ebenso. In der Folge strichen auch Rheinland-Pfalz und das Saarland solche Klauseln aus ihren Kommunalwahlgesetzen.

Einen anfangs umgekehrten Weg ging das Land Nordrhein-Westfalen: Trotz zwei früherer und entgegenstehender Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes wurde Ende 2007 eine kommunale Ein-Sitz-Sperrklausel ohne die erforderliche, nachvollziehbare Begründung eingeführt und im Dezember erwartungsgemäß vom Verfassungsgerichtshof gekippt.

Wahlprüfungen der Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein

Wozu unklar formulierte Wahlgesetze führen können, konnte man bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein sehen. In mehreren Kommunen und Kreistagen ist die Berechnung der Ausgleichsmandate wegen einer verschieden auslegbaren Regelung streitig. In der Folge wurde beispielsweise in Kiel anders ausgeglichen als in Bad Segeberg und gleich mehrere Wahlprüfungsverfahren sind nun vor dem Verwaltungsgericht in Schleswig anhängig. Immerhin hat der Gesetzgeber eine Nachbesserung angekündigt. Dieselbe unklare Formulierung, findet sich in den Landeswahlgesetzen Schleswig-Holsteins und Mecklenburg-Vorpommerns.

Dagegen muss Nordrhein-Westfalen weiterhin mit unklaren und widersprüchlichen Regelungen für die Ausgleichsmandate auskommen, aber das ist ja nicht so schlimm, meistens kommt ja doch dasselbe heraus ... (vgl. Zitat des Innenministers)

Wahlrecht – Gesetzesänderungen 2008

Bundes- und Europawahlgesetz

Im Januar wurden das Bundes- und das Europawahlgesetz geändert. Unter anderem wurden die Hürden für die Briefwahl abgeschafft. Jeder darf nun, ohne besondere Gründe dafür zu haben, per Briefwahl wählen. Ein weiterer kleiner Erfolg unserer Bemühungen seit dem Jahr 1998: Das Sitzzuteilungsverfahren wurde auf Sainte-Laguë umgestellt. In Folge der Diskussion um die Aufstellung sog. „verdeckt-gemeinsamer Listen“ zur Bundestagswahl 2005 (Linkspartei/WASG bzw. NPD/DVU) dürfen Parteien keine Personen mehr aufstellen, die Mitglied in einer anderen Partei sind. Wer in mehr als einer Partei Mitglied ist, ist daher in seinem passiven Wahlrecht empfindlich eingeschränkt und kann nur noch als unabhängiger Einzelkandidat antreten. Bei der Europawahl gilt dies sogar nicht nur für die Mitgliedschaft in Parteien, sondern auch in „sonstigen auf Teilnahme an der politischen Willensbildung und Mitwirkung in Volksvertretungen ausgerichteten Vereinigungen“. Da zudem die Möglichkeit einer Einzelkandidatur bei der Europawahl nicht besteht, wurde den betroffenen Personen hier das passive Wahlrecht faktisch vollständig entzogen.

Nordrhein-Westfalen

In Nordrhein-Westfalen sammelte der Verein Mehr Demokratie mehr als 70.000 Unterschriften und brachte seinen Entwurf für ein Kommunalwahlgesetz mit der Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens nach süddeutschem Vorbild in das Gesetzgebungsverfahren ein. Die Abgeordneten lehnen den Entwurf mit dem Bild der „Küchentischwahl“ bei der bedenklichen Briefwahl ab, auch wenn Mehr Demokratie zeigen konnte, dass sich kein Zusammenhang eines solchen Wahlrechts mit der Zahl der Briefwähler herstellen lässt.

Wahlen 2008

Landtagswahlen

Ende Januar fanden Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen statt. In Hamburg wurde im Februar die Bürgerschaft gewählt. Nach zwei Änderungen der Bürgerschaft am volksbeschlossenen Wahlgesetz war die mandatsrelevante Auswirkung der Wählerstimmen auf die Auswahl erfolgreicher Kandidaten erwartungsgemäß äußerst gering und beschränkte sich auf drei der insgesamt 121 Sitze.

Interessant aus wahlrechtlicher Sicht auch die Landtagswahl in Bayern im Oktober: Die bisher absolute Mehrheiten gewohnte CSU erreichte wegen ihres „schlechten“ Wahlergebnisses Überhangmandate, die anderen Parteien erstmals Ausgleichsmandate.

Wahl des US-Präsidenten

Die Präsidentschaftswahl der USA ergab eine klare Mehrheit für Barack Obama, der am 20. Januar 2009 der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein wird. Eine kleine Wahlrechtsbesonderheit: Im Gegensatz zu den anderen Bundesstaaten werden in Nebraska und Maine nur zwei Wahlmänner nach der Regel the winner takes all gewählt, die anderen Wahlmänner (2 in Maine, 3 in Nebraska) mit relativer Mehrheitswahl in den Einerwahlkreisen zur Wahl des Repräsentantenhauses gewählt. In Nebraska konnten die Demokratische Partei diesmal einen der drei Wahlkreise gewinnen, was erstmals dazu führte, dass die Wahlmänner dieses Staates aus zwei Parteien kommen.

... und Ausblick auf das Jahr 2009

Superwahljahr 2009

Das neue Jahr beginnt wie das alte – mit einer Landtagswahl in Hessen am 18. Januar. Wahlcomputer werden nicht eingesetzt, denn kurz vor oder nach der Wahl wird auch mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen „Wahlcomputer“ gerechnet.

Die Hessenwahl wird auch die letzte Landtagswahl mit Einfluss auf die Zusammensetzung der nächsten Bundesversammlung. Danach wählen die Länder ihre Vertreter für die 13. Bundesversammlung, die am 23. Mai zur Wahl des Bundespräsidenten (oder Bundespräsidentin) zusammentritt.

Ein kleiner Superwahltag wird der 7. Juni sein. An diesem Tag findet in Deutschland die Europawahl 2009 statt. In Deutschland werden noch einmal 99 Abgeordnete gewählt. Sollte vor der nächsten Europawahl 2014 der EU-Reformvertrag von Lissabon in Kraft treten, verkleinert sich das EU-Parlament mit Beginn der folgenden Wahlperiode und Deutschland wählt nur noch 96 Abgeordnete.

Neben der Europawahl finden am 7. Juni Kommunalwahlen in acht Bundesländern statt (in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen). Aus den acht Bundesländern könnten jedoch noch sieben werden: In Nordrhein-Westfalen wurde der Wahltermin fünf Monate vor das Ende der Amtsperiode der derzeitigen Räte und Bürgermeister gesetzt und die Oppositionsfraktionen haben den Verfassungsgerichtshof in Münster angerufen. Auch muss das Kommunalwahlgesetz noch um die verfassungswidrige Sperrklausel bereinigt werden. Für die Wahl der Verwaltungschefs wurde die Stichwahl abgeschafft und die relative Mehrheitswahl (ohne Stichwahl) eingeführt. Die ersten wahlsystembedingten Kungelrunden zur Bestimmung der Bürgermeisterkandidaten und Kandidaturverzichte haben begonnen. Trotzdem sind wir gespannt, wie viele „Zufallsbürgermeister“ es geben wird und welcher Bürgermeister den geringsten aller Stimmanteile erhalten wird.

Am 30. August finden Landtagswahlen im Saarland, Sachsen und Thüringen statt. Eine fünfte Landtagswahl (in Brandenburg) wird voraussichtlich am Tag der Bundestagswahl am 27. September stattfinden wird.

Unklar ist noch, wie das Wahlgesetz zur Bundestagswahl 2009 am 27. September aussehen wird. Wir befürchten, dass auch der nächste Bundestag verfassungswidrig gewählt wird. Die GRÜNEN haben zwar einen Gesetzentwurf zur Beseitigung des negativen Stimmgewichts angekündigt, ihm werden jedoch keine Chancen eingeräumt.

Wahlrecht – Gerichtliche Entscheidungen 2009

Ein weiteres Urteil zur kommunalen Fünfprozenthürde wird voraussichtlich der bremische Staatsgerichtshof sprechen. In dem Zwei-Städte-Staat plant der Landtag die Wiedereinführung der per Volksbegehren abgeschafften Sperrklausel bei der Wahl zur Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung, will sich dabei aber durch ein Gutachten des Staatsgerichtshofs absichern.

Für 2009 erwarten wir einen Abschluss der Wahlprüfungen zur Bundestagswahl 2005 (Themenliste aus 2005), aber auch der noch offenen Verfahren der Wahlprüfung der Bundestagswahl 2002. Neu auf den Karlsruher Prüfstand könnte noch vor der Wahl die Regelung kommen, wonach die Parteien keine Kandidaten mehr aufstellen dürfen, die (auch) Mitglied in einer anderen Partei sind.

Wahlrecht – Gesetzesänderungen 2009

Wenn sich in Hamburg beim Volksbegehren vom 23. Januar bis 12. Februar 2009 mehr als rund 62.000 Wahlberechtigte eintragen, können die Hanseaten am Tag der Bundestagswahl auch in einem Volksentscheid über ein neues Bürgerschaftswahlgesetz abstimmen. Damit könnten sie dem Wähler wieder den Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Bürgerschaft geben, für den sich das Volk 2004 schon einmal entschieden hatte, der aber von der Bürgerschaftsmehrheit in zwei Gesetzesänderungen fast vollständig beschnitten wurde. Diesmal wäre auch die Erfolgsaussicht größer, mit einem geänderten Wahlrecht wirklich wählen zu können, da sich die schwarz-grüne Koalition darauf geeinigt hat, Abstimmungsergebnisse zu respektieren und Gesetze vor einer Anwendung nicht wieder zu ändern.

In Berlin wurden für ein 2009 geplantes Volksbegehren für ein neues, stark personalisiertes Wahlrecht mehr als 20.000 Unterschriften gesammelt. Ein Teil des Wahlrechtsvorschlags befindet sich in der parlamentarischen Prüfung, über einen verfassungsrechtlich streitigen Teil wird der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin entscheiden. Die Initiatoren peilen auch hier einen Volksentscheid am Tag der Bundestagswahl an.

Wahlrechtsänderungen in Folge der Wahlprüfung zur Bundestagswahl 2005 erwarten wir trotz des dringenden Bedarfs in Sachen des negativen Stimmgewichts und der Überhangmandate nicht. Da bei dem derzeitigen verfassungswidrigen Wahlsystem Stimmen für einige Parteien schädlich sind, sind wir gespannt auf den Wahlkampf. Ohne schnelle Änderung des Bundeswahlgesetzes könnte es für die Bundestagswahl 2009 bedeuten, dass viele Kandidaten nur um die Erststimme werben werden und die Zweitstimme verschmähen, viele Wähler entsprechend ihre Stimme abgeben und mehr Überhangmandate entstehen, als je zuvor (Folgen des negativen Stimmgewichts für die Bundestagswahl 2009). Damit sich Wähler (und Kandidaten) auf die widersinnigen Eigenschaften des Wahlrechts einstellen können, werden wir (wie zuvor 2002 und 2005) mit unseren Tipps zur Bundestagswahl 2009 informieren und helfen.

Dank an unsere Leser und alle Helfer

Für das Interesse an Wahlrecht.de möchten wir uns bei allen Lesern bedanken und wir wünschen Ihnen ein unverwirrtes und frohes Jahr 2009! Unser besondere Dank gilt erneut den Lesern, die uns auf neue Wahlumfragen hinwiesen oder uns die Umfragen oder fehlende Umfragewerte aus lokalen Zeitungen zusandten, sowie den Mitarbeitern der Umfrageinstitute und Medien, die uns bei fehlenden Zahlen halfen.


von Martin Fehndrich, Matthias Cantow und Wilko Zicht (31.12.2008, letzte Aktualisierung am 04.01.2009, letzte Aktualisierung der Links am 31.05.2009)