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01.06.2007

CDU verliert Bundestagsmandat

Mit dem heutigen Tag tritt Matthias Wissmann (CDU) seine neue Tätigkeit als Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) an. Wissmann kündigte an, gleichzeitig mit Beginn der Ausübung dieser Funktion sein Bundestagsmandat niederzulegen. Da er auf Vorschlag der CDU im Wahlkreis 166 – Ludwigsburg (Baden-Württemberg) direkt gewählt wurde und die CDU in diesem Bundesland einen Überhang an Direktmandaten hat, kann ihm niemand von der Landesliste in das Mandat folgen und der Sitz fällt ersatzlos weg.

Ausgangslage: Überhangmandate für CDU und SPD zur Bundestagswahl 2005

Bei der Wahl zum 16. Bundestag am 18. September 2005 und der Nachwahl in Dresden am 2. Oktober 2005 erzielten CDU und CSU einen Zweitstimmenvorsprung gegenüber der SPD von rund 436.000 Stimmen. Bei einem durchschnittlichen Vertretungsgewicht von rund 76.000 Stimmen (bei der grundsätzlichen Sitzzahl von 598 Mandaten) wären das rund sechs Mandate Vorsprung vor den Sozialdemokraten. Die SPD erhielt aber neun Überhangmandate, während die Union „nur“ sieben Überhangmandate erreichte, so dass die Differenz der Mandatszahlen beider Fraktionen (Union: 226 – SPD: 222) zu Beginn der Wahlperiode nur vier Mandate betrug.

Bundestags-
fraktion
Zweit-
stimmen
Man-
date
Davon Über-
hangmandate
SPD 16.194.665 222 9
CDU/CSU 16.631.049 226 7
Davon:      
  CDU 13.136.740 180 7
  CSU 3.494.309 46  

Zudem trat am 14. Dezember 2006 der im sächsischen Wahlkreis 156 Kamenz – Hoyerswerda – Großenhain für die CDU in den Bundestag gewählte Abgeordnete Henry Nitzsche aus seiner Partei und damit aus der CDU/CSU-Fraktion aus und sitzt seitdem als Fraktionsloser im Parlament. Damit verringerte sich der Mandatsvorsprung der Unionsfraktion auf drei Mandate (225:222).

Kein Nachrücken in Überhangmandate

Aufgrund des Nachrücker-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1998 (BVerfGE 97, 317) darf kein Landeslistenkandidat in das Mandat eines ausscheidenden Wahlkreisabgeordneten nachrücken, solange dessen Partei in diesem Land mehr Direktmandate hat, als ihr nach dem Proporz zustehen. Dies führt seit der Bundestagswahl 1998 regelmäßig zu einer sinkenden Sitzzahl von Bundestagsfraktionen mit Überhangmandaten während der Wahlperiode. Nun könnte man vermuten, dass die Sitzverluste umso wahrscheinlicher werden, je größer die Zahl der Überhangmandate einer Fraktion ist. Doch das ist eine verkürzte Betrachtung, denn obwohl die SPD mehr Überhangmandate (und diese auch noch in mehr Bundesländern) als die CDU erhielt, hat sie in ihren Überhangländern nur 30 Mandate während die CDU in ihren Überhangländern (nach Nitzsches Parteiaustritt) zur Zeit 46 Mandate besetzt. So müssen die Sozialdemokraten tendenziell nicht stärker von der Reduzierung der Mandate betroffen sein, als die Union.

Stand: 7. Oktober 2005 (Endgültiges amtliches Ergebnis)
Bundesland Partei Über-
hang
Direkt-
mandate
Proporz-
anspruch
HamburgSPD165
BrandenburgSPD3107
SaarlandSPD143
Sachsen-AnhaltSPD4106
SummeSPD93021
 
Baden-WürttembergCDU33330
SachsenCDU41410
SummeCDU74740

Verlust der relativen Unionsmehrheit möglich?

Schon nach der Nominierung des baden-württembergischen MdB Ingo Wellenreuther (CDU) Ende Oktober des letzten Jahres als Kandidat zur Oberbürgermeisterwahl in Mannheim am 17. Juni 2007 gab es erste Nachrechnungen zur „Unionsmehrheit“ im Bundestag. Zwar ist der Wahlausgang ungewiss, doch kündigte Wellenreuther für den Fall seines Wahlsieges den Verzicht auf sein Bundestagsmandat an. Das Bekanntwerden des Wechsels von Matthias Wissmann an die VDA-Spitze und seiner Erklärung, dann ebenso auf sein Bundestagsmandat zu verzichten, führte zu einer wahren Flut an Berichten in den Medien (selbst Bericht aus Berlin berichtete): Eine Annäherung der Sitzzahlen der Koalitionsfraktionen auf 223:222 scheint möglich.

Dabei sind die Auswirkungen des Abschmelzens der Mandate bei Weitem nicht so gravierend, wie in der vergangenen Wahlperiode. Damals berichtete Wahlrecht.de über das mögliche Ausscheiden des SPD-Abgeordneten Christoph Matschie und die so gefährdete Kanzlermehrheit (nur interessierte das zu der Zeit gerade mal eine einzige Nachrichtenagentur). Der Tod von Anke Hartnagel reduzierte die Koalitionsmehrheit weiter. Dies stellte auch nach Ansicht des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder die Handlungsfähigkeit der Regierungsmehrheit in Frage.

Welche „Mehrheiten“ sind damit überhaupt gefährdet?

Die aktuellen Änderungen wären dagegen vor allem gefühlter Natur. Selbst wenn die CDU/CSU nach Wissmanns Verzicht und bei einem – nur eventuellen – Wahlsieg Wellenreuthers noch zwei weitere Sitze verlieren und mit 221 Abgeordneten dann einen Sitz weniger als die SPD hätte, gäbe es in dieser Wahlperiode kaum konkrete Auswirkungen:

Wissmann und Wellenreuther könnten ihre Bundestagsmandate einfach behalten

Es gibt keine Inkompatibilitätsregelung, die einen Verzicht auf den Bundestagssitz erzwingen würde. So bewältigt Friedrich Merz überaus erfolgreich eine Reihe von Nebentätigkeiten in der freien Wirtschaft. Auch ein Oberbürgermeister in Baden-Württemberg kann weiter Abgeordneter im Bundestag oder im Landtag sein. So sitzen im Landtag Baden-Württembergs die Oberbürgermeister Klaus Tappeser (Rottenburg am Neckar), Rainer Prewo (Nagold) und Michael Theurer (Horb am Neckar), und auch Boris Palmer hat nach seiner Wahl zum Oberbürgermeister von Tübingen für eine Übergangszeit sein Landtagsmandat weiter aktiv ausgeübt (Landtag Abschied.pdf).

Das Problem schwindender Mehrheiten und Lösungsmöglichkeiten

Dessen ungeachtet können schwindende Mehrheiten während der Wahlperiode – wie beim 15. Bundestag – durchaus Auswirkungen auf die Regierungsfähigkeit Deutschlands und damit zu einem Problem werden. Dies ließe sich aber durch einfache Regelungen im Wahlsystem lösen:

  1. Eine Kompensationslösung zur Vermeidung interner Überhangmandate und negativer Stimmgewichte. Überhangmandate würden dann faktisch nicht mehr auftreten.
  2. Der Ausgleich von interner Überhangmandate durch Zuteilung von Ausgleichsmandaten an die übrigen Listen.
    Nach Ansicht vieler Rechtswissenschaftler ist eine der beiden Lösungen auch zwingend, zuletzt schloss sich die CDU, die 1994 noch von Überhangmandaten profitierte, dieser Ansicht in einer Stellungnahme zu seit Jahren beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Wahlprüfungsbeschwerden zur Bundestagswahl 2002 an.
  3. Einen völlig anderen Ansatz zeigt der Entwurf des Bundesrates für eine Änderung des Bundeswahlgesetzes. Neben den Kandidaten für einen Wahlkreis soll auch ein Ersatzbewerber aufgestellt werden. Dieser könnte dann auch in den Überhang nachrücken und würde ein Abschmelzen eines Überhangs unwahrscheinlicher machen (vgl. Meldung vom 12. Februar 2006 – Bundesratsinitiative zu Nachrückpraxis ...). Dadurch würde aber auch eine etwaige, verfassungsrechtlich umstrittene Mehrheitsumkehr durch Überhangmandate gefestigt werden.

Namen und Wahlkreise der Überhänger im 16. Bundestag mit Stand vom 31. Mai 2007

Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die Gefahr in den einzelnen Überhang-Bundesländern, als Abgeordnete/r ohne Nachrücker/in ausscheiden zu müssen. Bei diesen Abgeordneten der CDU und SPD ist daher besonders auf steile Karrieremöglichkeiten ausserhalb der Bundespolitik und gefährliche Hobbys zu achten. Bei einem eventuellen vorzeitigen Ausscheiden des fraktionslosen Abgeordneten Henry Nitzsche verringert sich zwar auch die Zahl der gesetzlichen Mitglieder des 16. Deutschen Bundestages, da auch hier niemand nachrückt. Andererseits würde sich der Überhang der CDU in Sachsen damit auf drei Mandate reduzieren, ohne dass die Union ein Fraktionsmitglied verlöre. Würden vor Nitzsche vier sächsische CDU-Abgeordnete ihr Mandat abgeben, zöge für ihn wieder ein CDU-Listenkandidat in den Bundestag.

Partei Lfd.
Nr.
Name des/der Abgeordneten Bundesland Über-
hang *
Wk-
Nr.
Wahlkreisname
* Überhang der Direktmandate im Bundesland gegenüber dem Proporzanspruch der Landesliste der Partei
** FL = fraktionslos, über Kreiswahlvorschlag der CDU gewählt
SPD1Kahrs, JohannesHamburg119Hamburg-Mitte
SPD2Scholz, OlafHamburg120Hamburg-Altona
SPD3Annen, NielsHamburg121Hamburg-Eimsbüttel
SPD4Carstensen, ChristianHamburg122Hamburg-Nord
SPD5Runde, OrtwinHamburg123Hamburg-Wandsbek
SPD6Klose, Hans-UlrichHamburg124Hamburg-Bergedorf – Harburg
SPD7Bahr, ErnstBrandenburg356Prignitz – Ostprignitz-Ruppin – Havelland I
SPD8Meckel, Johannes-MarkusBrandenburg357Uckermark – Barnim I
SPD9Krüger-Leißner, AngelikaBrandenburg358Oberhavel – Havelland II
SPD10Bierwirth, PetraBrandenburg359Märkisch-Oderland – Barnim II
SPD11Spielmann, MargritBrandenburg360Brandenburg an der Havel – Potsdam-
Mittelmark I – Havelland III – Teltow-Fläming I
SPD12Wicklein, AndreaBrandenburg361Potsdam – Potsdam-Mittelmark II –
Teltow-Fläming II
SPD13Danckert, PeterBrandenburg362Dahme-Spreewald – Teltow-Fläming III
– Oberspreewald-Lausitz I
SPD14Vogelsänger, JörgBrandenburg363Frankfurt (Oder) – Oder-Spree
SPD15Reiche, SteffenBrandenburg364Cottbus – Spree-Neiße
SPD16Hilsberg, StephanBrandenburg365Elbe-Elster – Oberspreewald-Lausitz II
SPD17Mühlstein, MarkoSachsen-Anhalt466Altmark
SPD18Wolff, WaltraudSachsen-Anhalt467Elbe-Havel-Gebiet
SPD19Steppuhn, AndreasSachsen-Anhalt468Harz
SPD20Küster, UweSachsen-Anhalt469Magdeburg
SPD21Kasparick, UlrichSachsen-Anhalt470Börde
SPD22Wistuba, EngelbertSachsen-Anhalt471Anhalt
SPD23Hübner, KlaasSachsen-Anhalt472Bernburg – Bitterfeld – Saalkreis
SPD24Riemann-Hanewinckel, ChristelSachsen-Anhalt473Halle
SPD25Reichel, MaikSachsen-Anhalt474Burgenland
SPD26Schmidt, SilviaSachsen-Anhalt475Mansfelder Land
SPD27Ferner, ElkeSaarland1296Saarbrücken
SPD28Schreiner, OttmarSaarland1297Saarlouis
SPD29Tabillion, RainerSaarland1298St. Wendel
SPD30Klug, AstridSaarland1299Homburg
CDU1Kolbe, ManfredSachsen4152Delitzsch – Torgau-Oschatz – Riesa
CDU2Brähmig, KlausSachsen4153Sächsische Schweiz – Weißeritzkreis
CDU3Landgraf, KatharinaSachsen4155Leipziger Land – Muldentalkreis
CDU4Kretschmer, MichaelSachsen4157Löbau-Zittau – Görlitz – Niesky
CDU5Michalk, MariaSachsen4158Bautzen – Weißwasser
CDU6Lämmel, Andreas Sachsen4160Dresden I
CDU7Vaatz, ArnoldSachsen4161Dresden II – Meißen I
CDU8Bellmann, VeronikaSachsen4162Freiberg – Mittlerer Erzgebirgskreis
CDU9Jahr, PeterSachsen4163Döbeln – Mittweida – Meißen II
CDU10Wanderwitz, MarcoSachsen4165Chemnitzer Land – Stollberg
CDU11Baumann, GünterSachsen4166Annaberg – Aue-Schwarzenberg
CDU12Luther, MichaelSachsen4167Zwickauer Land – Zwickau
CDU13Hochbaum, RobertSachsen4168Vogtland – Plauen
CDU14Krummacher, Johann-HenrichBaden-Württemberg3259Stuttgart I
CDU15Binninger, ClemensBaden-Württemberg3261Böblingen
CDU16Grübel, MarkusBaden-Württemberg3262Esslingen
CDU17Hennrich, MichaelBaden-Württemberg3263Nürtingen
CDU18Riegert, KlausBaden-Württemberg3264Göppingen
CDU19Pfeiffer, JoachimBaden-Württemberg3265Waiblingen
CDU20Wissmann, MatthiasBaden-Württemberg3266Ludwigsburg
CDU21Gienger, EberhardBaden-Württemberg3267Neckar-Zaber
CDU22Strobl, ThomasBaden-Württemberg3268Heilbronn
CDU23von Stetten, ChristianBaden-Württemberg3269Schwäbisch Hall – Hohenlohe
CDU24Barthle, NorbertBaden-Württemberg3270Backnang – Schwäbisch Gmünd
CDU25Brunnhuber, GeorgBaden-Württemberg3271Aalen – Heidenheim
CDU26Wellenreuther, IngoBaden-Württemberg3272Karlsruhe-Stadt
CDU27Fischer, AxelBaden-Württemberg3273Karlsruhe-Land
CDU28Götz, PeterBaden-Württemberg3274Rastatt
CDU29Lamers, KarlBaden-Württemberg3275Heidelberg
CDU30Segner, KurtBaden-Württemberg3277Odenwald – Tauber
CDU31Schmidbauer, BerndBaden-Württemberg3278Rhein-Neckar
CDU32Gutting, OlavBaden-Württemberg3279Bruchsal – Schwetzingen
CDU33Krichbaum, GuntherBaden-Württemberg3280Pforzheim
CDU34Fuchtel, Hans-JoachimBaden-Württemberg3281Calw
CDU35Weiß, PeterBaden-Württemberg3284Emmendingen – Lahr
CDU36Schäuble, WolfgangBaden-Württemberg3285Offenburg
CDU37Kauder, VolkerBaden-Württemberg3286Rottweil – Tuttlingen
CDU38Kauder, SiegfriedBaden-Württemberg3287Schwarzwald-Baar
CDU39Jung, AndreasBaden-Württemberg3288Konstanz
CDU40Dörflinger, ThomasBaden-Württemberg3289Waldshut
CDU41Beck, Ernst-ReinhardBaden-Württemberg3290Reutlingen
CDU42Widmann-Mauz, AnnetteBaden-Württemberg3291Tübingen
CDU43Schavan, AnnetteBaden-Württemberg3292Ulm
CDU44Romer, FranzBaden-Württemberg3293Biberach
CDU45Schockenhoff, AndreasBaden-Württemberg3294Ravensburg – Bodensee
CDU46Bareiß, ThomasBaden-Württemberg3295Zollernalb – Sigmaringen
FL **47Nitzsche, HenrySachsen4156Kamenz – Hoyerswerda – Großenhain

von Martin Fehndrich und Matthias Cantow (28.05.2007, letzte Aktualisierung am 02.06.2007)