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22.05.2005

Neuwahl des Bundestages am 18. September dieses Jahres?

Die Sensation des Tages gab es nicht – wie von einigen Wählern erhofft – um 18 Uhr mit der ersten Prognose zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, sondern wenig später auf Bundesebene: Nicht einmal eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale stellte der SPD-Parteivorsitzende Franz Müntefering überraschend Bundestagswahlen im Herbst 2005 in Aussicht – ein Jahr vor Ablauf der Legislaturperiode.

Nun ist im Grundgesetz bewusst kein Selbstauflösungsrecht des Deutschen Bundestages vorgesehen. Und auch Franz Müntefering bzw. Bundeskanzler Gerhard Schröder können aus gutem Grund nicht einfach eine Neuwahl einleiten. Diese kann nur über den Umweg der Vertrauensfrage in Artikel 68 Grundgesetz (GG) erreicht werden, der verfassungsrechtlich umstritten ist.

Verfahren

Dabei findet mindestens 48 Stunden nach Antrag des Bundeskanzlers an den Bundestag, ihm das Vertrauen auszusprechen, eine Abstimmung im Plenum statt. Versagt ihm das Parlament das Vertrauen, kann der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen. Entscheidet sich der Bundespräsident für eine Auflösung, muss dies nach Artikel 68 Abs. 1 Satz 1 GG „binnen einundzwanzig Tagen“ geschehen. Er kann den Vorschlag allerdings auch ablehnen, wobei die Entscheidung in seinem pflichtgemäßen Ermessen liegt. Damit kommt Bundespräsident Horst Köhler die entscheidende Rolle bei diesem Verfahren zu.

Bisherige Vertrauensfragen zur Auflösung des Bundestages

Die Vertrauensfrage mit dem Ziel der Auflösung des Parlaments (unechte Vertrauensfrage) wurde bisher erst zweimal – in diesem Sinne – erfolgreich gestellt:

  1. Am 22. September 1972 von Willy Brandt (SPD), was zur Auflösung des Bundestags am 23. September durch Bundespräsident Gustav Heinemann sowie zu Neuwahlen am 19. November 1972 führte und
  2. am 17. Dezember 1982 von Helmut Kohl (CDU), woraufhin Bundespräsident Karl Carstens am 7. Januar 1983 (dem letzten Tag der 21 Tage-Frist des Artikel 68 Abs. 1 Satz 1 GG) den Bundestag auflöste und den Termin für die Neuwahl auf den 6. März 1983 festlegte.
Bisher gingen nach den beiden Auflösungen des Bundestages die vor der Wahl regierungstragenden Parteien gestärkt aus den Neuwahlen hervor.

Möglicher Wahltermin

Zeitlich ist der von Gerhard Schröder ins Auge gefasste Termin im Herbst dieses Jahres kein Problem. Zwar vergehen bei ordentlichen Wahlterminen von der Festlegung des Wahltages durch den Bundespräsidenten gemäß § 16 Satz 1 Bundeswahlgesetz (der ihm gewöhnlich von der Bundesregierung empfohlen wird) bis zur Wahl eigentlich sechs bis zehn Monate und auch die Fristen des Bundeswahlgesetzes (bspw. die Beteiligungsanzeige nicht in Parlamenten vertretener Parteien spätestens 90 Tage vor der Wahl gemäß § 18 Abs. 2 Satz 2 BWahlG) ließen eine so kurzfristige Bundestagswahl nur knapp zu.

Jedoch sieht das Grundgesetz in Art. 39 Abs. 1 Satz 1 für den seltenen Fall der Bundestagsauflösung eine zwingende kürzere Frist vor: „Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.“ Deshalb ermöglicht § 52 Abs. 3 BWahlG dem Bundesministerium des Innern, „die in dem Bundeswahlgesetz und in der Bundeswahlordnung bestimmten Fristen und Termine durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates abzukürzen“.

Aus organisatorischen Gründen (Ferientermine der Länder), die auch den ordentlichen Wahltermin der Bundestagswahl 2006 auf den 24. September 2006 eingeengt hätten, kommen für einen Wahltermin im Herbst dieses Jahres (metereologisch gesehen) nur der 18. bzw. der 25. September in Frage.

Wahrscheinliches Szenario wäre daher die Abstimmung im Plenum über die 48 Stunden vorher gestellte Vertrauensfrage vom Mittwoch, den 29. Juni, bis Freitag, den 1. Juli in der letzten planmäßigen Sitzungswoche des 15. Deutschen Bundestages vor der Sommerpause. Dann könnte der Bundespräsident – soweit er sich dafür entscheidet – unter voller Ausnutzung der Frist von 21 Tagen in Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG – je nach Abstimmungsdatum – vom 20. bis zum 22. Juli den Bundestag auflösen und den Tag der Neuwahl festlegen. Dabei läge von den möglichen Wahlterminen nur der 18. September 2005 in der von Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG geforderten Frist und wäre somit die wahrscheinlichste Variante, wenn an den Wahlen im Herbst 2005 festgehalten wird. Natürlich könnte es auch Sondersitzungen des Bundestages in der Sommerpause und eine Festlegung des Wahltermins mit einer kürzeren Frist als die 60 Tage geben, allerdings würde dies den mit der Wahldurchführung beauftragten Behörden und auch der Wahlkampfplanung der Parteien selbst Schwierigkeiten bereiten.

Anhängige Wahlprüfungsbeschwerden

Noch eine weitere wahlrechtliche Folge würde der vorgezogene Urnengang mit sich bringen. Beim Bundesverfassungsgericht sind 32 Monate nach der Bundestagswahl 2002 noch immer Wahlprüfungsbeschwerden gegen die Bundestagsbeschlüsse über die Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahl des 15. Deutschen Bundestags anhängig. Darunter auch zwei Beschwerden (2 BvC 6/04, 2 BvC 11/04), die mit dem Ziel der Klärung der Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten sowie der Freiheit des Gesetzgebers bei der Wahl des Sitzzuteilungsverfahrens auch mit der Unterstützung von vielen Wahlrecht.de-Lesern erhoben wurden. Momentan liegen diese Beschwerden Bundestag, Bundesrat, Bundeskanzleramt, Bundeswahlleiter und den im Bundestag vertretenen Parteien mit der Möglichkeit zur Äußerung vor.

Sollte die weitere Bearbeitung im bisherigen Tempo fortgesetzt werden, ist nicht mit einer Entscheidung vor dem vorzeitigen Ablauf der Legislaturperiode des derzeitigen Bundestags zu rechnen. Damit würden sich die Beschwerden erledigen, auch wenn sie begründet gewesen wären. Gerade für die folgende Wahl ist aber in diesen Punkten Rechtsklarheit notwendig und wichtig. Es wäre daher zu hoffen, dass dies der Zweite Senat in Karlsruhe genauso sieht.

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von Matthias Cantow (letzte Aktualisierung: 23.05.2005)