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16.09.2003

Hamburg: Volksbegehren für neues Wahlrecht gestartet

Seit gestern – und noch bis zum 29. September – können sich die Bürger der Hansestadt beim Volksbegehren der Initiative „Mehr Bürgerrechte – Ein neues Wahlrecht für Hamburg“ eintragen, um eine Volksabstimmung über das Hamburger Wahlsystem zu erzwingen. Das Ziel der Bürgerinitiative – die neben vielen gesellschaftlichen Gruppen auch von einer beachtlichen Zahl von Prominenten, wie der Bischöfin Maria Jepsen oder dem Verfassungsrechtler Prof. Hans-Peter Bull (SPD), unterstützt wird – ist die Einführung eines modernen, personalisierten Wahlsystems anstelle der momentanen Einstimmen-Listenwahl.

Wichtigster Punkt des vorgeschlagenen neuen Wahlrechts für die Bürgerschaft ist die Einteilung Hamburgs in 17 Mehrmandatswahlkreise, in denen je nach deren Größe 3 bis 5 Abgeordnete direkt gewählt werden. Dabei hat der Wähler fünf Stimmen, mit denen er durch Kumulieren und/oder Panaschieren stärker auf die Verteilung der Mandate Einfluss nehmen kann. Die Initiative verspricht sich von den Mehrpersonenwahlkreisen wesentlich mehr Wettbewerb zwischen den Kandidaten, als dies bei von Bundestags- und vielen Landtagswahlen bekannten Einmandatswahlkreisen der Fall ist. Diese Rechnung könnte aufgehen: Reine Schaukämpfe, bei denen alle aussichtsreichen Kandidaten über die Landesliste abgesichert sind, gäbe es nicht mehr. Auch die sog. „sicheren“ Wahlkreise, die von einer Partei klar dominiert werden, wären zukünftig noch interessant, weil eben nicht nur ein einziger Sitz zu vergeben ist. Da die Wähler die Auswahl zwischen mehreren Kandidaten einer Partei haben, kann sich kein Kandidat mehr auf dem „Partei-Ticket“ ausruhen, sondern muß für sich persönlich um Stimmen werben. Zudem hätten künftig auch die kleinen Parteien realistische Chancen auf den Gewinn von Wahlkreissitzen.

Zu den regulär 71 Wahlkreismandaten kommen noch 50 weitere über die Landesliste zu wählende Abgeordnete hinzu, bei deren Auswahl ebenfalls fünf Stimmen beliebig eingesetzt werden können. Um allzu große Stimmzettel zu vermeiden, sieht der Gesetzentwurf der Initiative eine Begrenzung auf maximal 60  Kandidaten je Landesliste vor. Die grundsätzliche Verteilung der Bürgerschaftssitze nach dem Stimmenverhältnis der Landeslisten bleibt erhalten und soll nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Lague) erfolgen.

Das personalisierte Wahlsystem wird auch auf die Wahlen zu den Bezirksversammlungen übertragen. Dabei sollen diese zur Stärkung ihrer Eigenständigkeit von der Bürgerschaftswahl getrennt und mit der Europawahl zusammengelegt werden. Die 5-%-Sperrklausel soll nach dem Vorbild des Kommunalwahlrechts in immer mehr Bundesländern – wie etwa seit der letzten Woche in Mecklenburg-Vorpommern – aufgehoben werden.

Ein Erfolg der Initiative würde Hamburg das am stärksten personalisierte Wahlrecht Deutschlands bescheren. In allen Bundesländern, die auf kommunaler Ebene bereits Kumulieren und Panaschieren mit bis zu 93 Stimmen (Frankfurt) zulassen, wird die Stimmenverteilung der Wähler auf die Kandidaten teilweise durch die von den Parteien aufgestellte Listenreihenfolge neutralisiert. Dies geschieht meist durch ein sog. „Listenkreuz“, das zur Folge hat, daß die noch übrigen Stimmen des Wähler an die Kandidaten gemäß ihrer Reihenfolge auf der Liste verteilt werden. Zwar sieht auch der Hamburger Gesetzentwurf die Möglichkeit vor, die Stimmen ohne Kennzeichnung bestimmter Personen nur an die Parteien zu vergeben, doch wirkt sich dies wie eine Enthaltung hinsichtlich der Entscheidung über die personelle Zusammensetzung der Bürgerschaftsfraktionen aus, die allein von den Wählern abhängt, die ihre Kreuzchen hinter den Namen der Kandidaten machen. Trotz des größeren Einflusses für den Wähler dürfte das vorgeschlagene Wahlrecht aufgrund der Beschränkung auf zweimal fünf Stimmen im Vergleich zu den süddeutschen Kommunalwahlgesetzen für die Wählerinnen und Wähler einfach zu handhaben sein.

Um eine Volksabstimmung über das neue Wahlgesetz am Tag der Europawahl zu erreichen, müssen sich innerhalb der Eintragungsfrist mindestens 5 % der Hamburger Wahlberechtigten – das sind 60.375 Bürgerinnen und Bürger – beim Volksbegehren eintragen. Das kann in allen Orts- und Bezirksämtern, an den Ständen der Initiative oder per Briefeintragung erfolgen, für die die Unterlagen auch per E-Mail (z. B. mit dem Online-Formular der Initiative) angefordert werden können. Die Initiative sucht darüber hinaus noch Freiwillige, die beim Sammeln der Unterschriften in der Stadt mithelfen mögen.

Die Initiative und ihre Unterstützer erhoffen sich von dem neuen Wahlrecht eine durchschlagende Belebung der parlamentarischen Demokratie in Hamburg. Bisher gilt in der Hansestadt ein reines Listenwahlrecht ohne Wahlkreise. Das neue Wahlrecht werde dafür sorgen, daß die Abgeordneten  dann nicht mehr in erster Linie auf ihr Ansehen in der Parteiführung bedacht sind, sondern auf ihre Nähe zur Bevölkerung. Mehr Bodenhaftung für die Politiker, mehr Einfluss für die Wähler, mehr innerparteiliche Demokratie und weniger Filz – dies alles werde für eine bessere Politik sorgen und die Politik(er)verdrossenheit der Bevölkerung eindämmen.

Durch den Druck der Bürgerinitiative gibt es nun auch von Seiten der beiden großen Parteien das Bestreben, nach jahrelangen Diskussionen endlich Wahlrechtsänderungen vorzunehmen. So wurde am 3. September in der Bürgerschaft mit den Stimmen der SPD-, CDU-, PRO- und FDP-Fraktion (wobei letztere auch, ebenso wie die GAL, den Vorschlag der Bürgerinitiative unterstützt) der Verfassungsausschuss beauftragt, bis zum 12. November ein Gesetz zu entwerfen, das die Wahl in Einpersonenwahlkreisen ähnlich der Bundestagswahl ermöglicht. Die Vorstellungen über die Zahl der Wahlkreise gehen bei den einzelnen Parteien allerdings noch auseinander, so wünscht sich die SPD 57 Wahlkreise, während die CDU etwa 40 favorisiert. Da nach dem Beschluss jedoch Überhang- und Ausgleichsmandate vermieden werden sollen, spricht einiges für die Vorstellung der CDU. Bei 57 Wahlkreisen hätte es bei der letzten Bürgerschaftswahl sechs Überhang- und acht Ausgleichsmandate gegeben.

Die Initiatoren des Volksbegehrens kritisieren den Vorstoß der Parteien als "Mogelpackung" und beklagen, man wolle ihnen den Wind aus den Segeln nehmen. Bei einem Misserfolg des Volksbegehrens werde der Bürgerschaftsbeschluss im Sande verlaufen. Zudem bedeute eine Übertragung des Bundestagswahlrecht gerade keine nennenswerte Stärkung des Wählereinflusses auf die personelle Zusammensetzung der Bürgerschaft, so dass auch all die damit verbundenen positiven Effekte ausblieben. Im Gegenzug halten Vertreter von CDU und SPD der Initiative vor, ihr Vorschlag sei viel zu kompliziert.


Links:

Initiative „Mehr Bürgerrechte – Ein neues Wahlrecht für Hamburg“

Wortlaut und Begründung des Gesetzentwurfs

Eintragungsliste


von Matthias Cantow und Wilko Zicht