Nachrichten

[Archiv 2003] [Aktuelle Meldungen]

12.09.2003

Überfraktioneller Antrag auf ein Elternwahlrecht eingebracht

46 Abgeordnete aller Fraktionen haben gestern einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der ein "Wahlrecht von Geburt an" fordert. Dabei sollen aber nicht etwa die Kinder und Jugendlichen ihr Wahlrecht selbst wahrnehmen, sondern es soll "treuhänderisch von den Eltern bzw. Sorgeberechtigten als den gesetzlichen Vertretern ausgeübt" werden.

Die Initiative, die von den beiden FDP-Politikern Klaus Haupt und Hermann Otto Solms ausgeht, und der sich auch Prominenz wie Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) und Vizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) angeschlossen haben, sieht durch die demografische Entwicklung die Zukunft unserer Gesellschaft gefährdet und meint, durch die Wahlrechtsänderung die Neigung der Politik verringern zu können, Lasten auf die nächste Generation zu verlagern.

Das mag in den praktischen Auswirkungen durchaus richtig sein, aber es stellt sich die Frage, ob ein derart zentrales Element unserer Demokratie so einfach zu solchen Zwecken instrumentalisiert werden darf. Diese Problematik ist den Antragstellern offenbar durchaus bewusst, denn sie fordern formal kein Familienwahlrecht, das einfach den Eltern ein höheres Stimmengewicht geben und damit die Gleichheit der Wahl beseitigen würde, sondern argumentieren im Gegenteil damit, dass gerade das fehlende Wahlrecht für Kinder und Jugendliche die Gleichheit der Wahl verletzen würde.

Trotzdem bleibt die Frage, ob es in der Praxis einen Unterschied machen würde, ob die Eltern "treuhänderisch" das Wahlrecht für ihre Kinder ausüben oder ob sie gleich direkt Zusatzstimmen bekommen. Die Antragsteller entziehen sich allerdings jeder praktischen Frage, indem sie nicht selber einen konkreten Gesetzentwurf vorlegen, wie es ihre Aufgabe als Teil der gesetzgebenden Gewalt wäre, sondern einfach die Bundesregierung auffordern, das für sie zu erledigen. So bleibt auch ungeklärt, was passieren soll, wenn sich die Eltern nicht einigen können oder selber gar nicht wahlberechtigt sind, ob das Wahlrecht auch nach der Volljährigkeit wieder an einen Stellvertreter übergehen kann, ob und wie eine Verletzung der treuhänderischen Pflichten einklagbar sein soll, und anderes mehr.

Fraglich ist auch, ob die Betroffenen, denen das Wahlrecht auf dem Papier gegeben wird, ihr "Bedürfnis zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln" (wie es in der Begründung heißt) mit dem Antrag befriedigt sehen. Die KinderRÄchTsZÄnker tun es jedenfalls nicht und fordern stattdessen ein höchstpersönliches Wahlrecht ab der Geburt, das jeder Mensch aktivieren kann, wann er will, indem er im örtlichen Wahlamt vorspricht und sich ins Wählerverzeichnis eintragen lässt. Dazu liegt dem Bundestag momentan auch eine Petition vor.

Das treuhänderische Kinderwahlrecht hat nicht nur Befürworter aus allen Fraktionen, sondern es finden sich auch ausdrückliche Gegner in allen Fraktionen. Bisher haben sich aber nur die Grünen insgesamt mehrheitlich gegen ein stellvertretend ausgeübtes Wahlrecht ausgesprochen. Sie fordern stattdessen seit langem einen früheren Beginn des eigenständigen Wahlrechts.

Generell werden hier mehrere ganz grundsätzliche Fragen des Wahlrechts berührt. Ist das Wahlrecht eine Art Bürgerrecht, das man wie eine Auszeichnung verliehen bekommt, wenn man bestimmte Bedingungen erfüllt, oder ist es ein Grundrecht, dessen Ausübung nur in ganz engen Grenzen verwehrt werden darf? Ist es ein höchstpersönliches Recht, das seinen Sinn verliert, wenn es übertragen wird, oder ist es eine frei handelbare Ware? Ist es ein Mittel zur Durchsetzung von Klientelinteressen oder Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Verantwortung? Ist es überhaupt ein Recht im eigentlichen Sinn oder nur ein relativ beliebig verfügbares Hilfsmittel zur Regierungsbildung?


von Andreas Schneider