Nachrichten

[Archiv 2002]

[Aktuelle Meldungen]

18.12.2002

Richtermehrheit erklärt Zuwanderungsgesetz für verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat die Stimmabgabe Brandenburgs bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz als uneinheitlich gewertet. Damit ist das Zuwanderungsgesetz nicht verfassungsgemäß zustandegekommen und somit nichtig.

Die Entscheidung wurde mit Richtermehrheit getroffen. Das genaue Stimmenverhältnis wird im Urteil jedoch nicht mitgeteilt. Da die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolf der Entscheidung eine abweichende Meinung hinzugefügt haben, wurde das Urteil folglich entweder mit 6:2 oder mit 5:3 Stimmen gefällt.

Die Richtermehrheit begründete ihre Entscheidung im wesentlichen damit, daß der Bundesratspräsident Wowereit nicht berechtigt gewesen sei, nach der ersten (uneinheitlichen) Stimmabgabe noch einmal nachzufragen. Es habe nämlich ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht bestanden, und nach den gesamten Umständen sei auch nicht zu erwarten gewesen, daß ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde. Doch selbst wenn man annehme, Wowereit habe nachfragen dürfen, hätte er diese Nachfrage nicht allein an den Ministerpräsidenten Stolpe richten dürfen, sondern erneut das Land Brandenburg zur Stimmabgabe aufrufen müssen. Zumindest hätte er auch Schönbohm die Gelegenheit geben müssen, sich zu äußern.

Die von der SPD nominierten Richterinnen Lerke Osterloh und Gertrude Lübbe-Wolff räumten in ihrem abweichenden Votum ebenfalls ein, daß Wowereit seine Nachfragen nicht nur an den Ministerpräsidenten Stolpe habe richten dürfen. Dieser Rechtsfehler sei jedoch nicht evident, da Wowereit sich auf namhafte Staatsrechtler sowie auf den Präzedenzfall aus dem Jahre 1949 habe berufen können. Nur evidente Verfahrensverstöße seien jedoch beachtlich. Außerdem habe Schönbohm trotz der fehlerhaften Formulierung Wowereits die Möglichkeit gehabt, das Fortbestehen seiner ablehnenden Stimmabgabe zu erklären. Dies sei jedoch nicht in der gebotenen Weise geschehen, da die Worte "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident" keine Stimmabgabe, sondern lediglich eine Auffassungskundgabe darstelle.

Osterloh und Lübbe-Wolff vertreten im übrigen die Ansicht, bei einer uneinheitlichen Stimmabgabe liege gar keine wirksame (aber ungültige) Stimmabgabe vor, da nach Art. 51 Abs. 2 Satz 3 GG Stimmen nur einheitlich abgegeben werden "können" (nicht: "dürfen"). Wowereit sei daher zur Nachfrage verpflichtet gewesen. Außerdem habe nach der ständigen Praxis des Bundesrats ein Land das Recht, seine Stimmabgabe zu korrigieren, solange die Abstimmung nicht beendet sei. Selbst wenn Wowereits Nachfrage nicht erlaubt gewesen wäre, hätten die Bundesratsmitglieder daher dieses Recht auch auf diese Nachfrage hin in Anspruch nehmen können. Schließlich könne ein Recht nichts durch rechtswidriges Verhalten eines Dritten vernichtet werden.

Die unmittelbar nach der Bundesratsabstimmung noch von zahlreichen Staatsrechtlern vertretene Auffassung, bei einer uneinheitlichen Stimmabgabe sei aufgrund seiner Richtlinienkompetenz die Stimme des Ministerpräsidenten ausschlaggebend, wurde sowohl von der Senatsmehrheit als auch in dem abweichendem Votum abgelehnt.

Das Urteil im Volltext


Kommentar:

Das Urteil ist im Ergebnis zu begrüßen. Zwar ist dem Sondervotum insofern zuzustimmen, als Wowereit das Recht hatte, noch einmal nachzufragen, ob Brandenburg bei dem uneinheitlichen Votum bleibt. Die Auffassung der Senatsmehrheit schränkt den Ermessensspielraum des Sitzungsleiters auf Grundlage der schwammigen Abgrenzung zwischen angeblich klaren und unklaren Fällen unnötig ein.

Gleichwohl hat der Senat recht, wenn er darauf hinweist, daß Wowereit seine Nachfrage nicht allein an Stolpe hätte richten dürfen. Da Schönbohm gar nicht erneut zur Stimmabgabe aufgerufen wurde, konnte aus seinem Verhalten auch nicht geschlossen werden, daß er seine Nein-Stimme zurückziehe.


von Wilko Zicht