Bundesratsabstimmung [Wahlrechtslexikon]

Aktuell: (Karlsruhe, 23.10.2002) SPD ändert Argumentationslinie vor dem BVerfG

Eine überaschende Wendung gab es bei der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 23.10.2002 in Karlsruhe über die Abstimmung zum Zuwanderungsgesetz im Bundesrat am 22. März 2002. Während bisher die umstrittene Gültigheit der Abstimmung des Landes Brandenburg mit der Richlinenekompetenz des Landeschefs begründet wurde, ist dieses Argument der SPD-Länder vor dem BVerfG nicht mehr aufrechterhalten geworden. Der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe sei von Wowereit nur "aus Gründen der Höflichkeit" angesprochen worden. Schönbohm hätte sein Nein durch Zwischenrufe wiederholen müssen, dieses Unterlassen führe zu einer gültigen Ja Stimmabgabe des Landes Brandenburg.

In der Bundesratsabstimmung zum Zuwanderungsgesetz ist es am 22. März 2002 wegen einer möglicherweise uneinheitlichen Stimmabgabe Brandenburgs zum Eklat gekommen. Die Details der Abstimmung finden sich im Auszug aus dem Stenografischen Bericht.

Wir wollen allerdings darauf hinweisen, daß ...
... die Nachfragen sich ausschließlich an Herrn Stolpe und nicht Schönbohm richteten.
... die von Herrn Wowereit verbreitete Rechtsauffassung sich elementar von denen der Staatsrechtler (Richlinienkompetenzlern) unterscheidet.


Zur rechtlichen Lage gibt es im wesentlichen drei verschiedene Meinungen:

  1. Die Stimmabgabe war uneinheitlich und damit ungültig (Mehrheitsmeinung).
  2. Ministerpräsident Stolpe hat Herrn Schönbohm überstimmt und damit die Stimmen Brandenburgs einheitlich mit Ja abgegeben (Minderheitsmeinung der Richtlinienkompetenzlern).
  3. Herr Schönbohm hat sein Nein nicht wiederholt, so daß Brandenburg einheitlich mit Ja abgestimmt hat (Meinung vom Bundesratspräsidenten Wowereit).

Meinung: Uneinheitliche Stimmabgabe

Die Mehrheitsmeinung, daß die Stimmabgabe uneinheitlich gewesen sei, wird von folgenden Staatrechtlern vertreten:

  • Roman Herzog, Ex-Bundespräsident und Ex-Präsident BVerfG
  • Josef Isensee, Bonn
  • Paul Kirchhof
  • Ernst Benda, Ex-Präsident BVerfG
  • Hans Hugo Klein, Göttingen, Ex-Richter BVerfG
  • Horst Dreier, Würzburg
  • Peter Badura, München
  • Hans Herbert von Arnim, Speyer
  • Jörn Ipsen, Osnabrück
  • Wilhelm Hennis, Freiburg
  • Ingo von Münch, Hamburg

In der Literatur finden sich dazu u. a. folgende Stellen:

Maunz/Dürig-Maunz, Art. 51, Rdnr. 27
von Münch/Kunig-Krebs, Art. 51, Rdnr. 13
Sachs, Art. 51, Rdnr. 15
Jarass/Pieroth, Art. 51, Rdnr. 6
Dreier-Bauer, Art. 51, Rdnr. 22
AK-Jekewitz, Art. 51, Rdnr. 10
Hdb des Staatsrechts-Herzog, § 46, Rdnr. 20
Reuter, Praxishandbuch des Bundesrats, Art. 51, Rdnr. 60
Degenhardt, Staatsrecht, Rdnr. 419
Ipsen, Staatsrecht I, Rdnr. 280
Kratzsch, DÖV 1975, 112
von Mangoldt/Kein/Starck-Korioth, Art. 51, Rdnr. 21

  • Die Stimmen eines Landes können nur einheitlich abgegeben werden. Sind Stimmen nicht einheitlich, dann "können sie auch nicht gezählt werden".
  • Die Bundesratsmitglieder eines Bundeslandes sind gleichberechtigt.
  • Es gibt keine Ermächtigung im Grundgesetz (auch nicht im Bundesrecht oder der Geschäftsordnung), die einem Ministerpräsidenten eine hervorgehobene Rolle unter den Bundesratsmitgliedern eines Bundeslandes zusichern würde. Landesrechtliche Regelungen (d.h. auch Regelungen einer Landesverfassung) stehen hinter Bundesrecht zurück.
  • Ein Bundesratsmitglied kann nicht während einer Bundesratssitzung (insb. nicht während einer Abstimmung) als Landesminister und damit aus dem Bundesrat entlassen werden. Im vorliegenden Fall wurde Herr Schönbohm auch nicht entlassen, so daß er abstimmen konnte.
  • Die landesrechtlichen Vorschriften (Verfassung Brandenburgs, Art. 89 u. 91) ermächtigen den Ministerpräsidenten nicht, seine Minister bei Bundesratsabstimmungen zu überstimmen (unabhängig von dem schon bundesrechtlichen Ausschluß).
  • Dem Bundesratspräsident steht es auch nicht an, zu prüfen, ob der Ministerpräsident des entsprechenden Landes für diesen Fall eine Richlinienkompetenz hat.
Meinung: Richtlininenkompetenz des Ministerpräsidenten

Die Minderheitsmeinung, wonach Herr Stolpe mit seiner Richtlinienkompetenz Schönbohm überstimmt habe:

  • Dieter Dörr, Mainz
  • Christian Pestalozza, Berlin
  • Erhard Denninger, Frankfurt
  • Ernst Gottfried Mahrenholz, Ex-Vizepräsident BVerfG
  • Bodo Pieroth, Münster
  • Klaus Stern
  • Hans Meyer
  • Klaus von Beyme, Heidelberg,
  • Peter Lerche, Berlin
  • Helmut Simon, Ex-Richter BVerfG

In der Literatur wird diese Meinung durch folgende Stellen gestützt:


Stern, Staatsrecht II, S. 137

  • Der Ministerpräsident hat nach der Verfassung Brandenburgs (Art. 89 und 91) Richtlinienkompetenz (Außenvertretung) und spreche deshalb auch im Bundesrat für das Land. (Art. 89 Der Ministerpräsident bestimmt die Richtlinien der Regierungspolitik ... Art. 91 Der Ministerpräsident vertritt das Land nach außen ...)
  • Der Ministerpräsident könnte jederzeit seinen Minister entlassen, womit automatisch die Mitgliedschaft im Bundesrat entfiele.
  • Es gibt einen Präzedenzfall, der sich im Dezember 1949 ereignete. Der Ministerpräsident aus NRW, Arnold, hatte nach einer uneinheitlichen Stimmabgabe seiner Minister abschließend für das Land NRW gestimmt.
  • Im Grundgesetz Art. 51 gibt es eine Trennung von Mitglied und Stimme. Stimmen gehören dem Land und nicht den einzelnen Mitgliedern.
  • Der gebrochene Koalitionsvertrag ist kein juristisch bindender Vertrag, sondern stellt nur eine politische Absichtserklärung dar.
Meinung: Vorliegen einer einheitlichen Stimmabgabe (implizites Schönbohm-Ja)

Eine Außenseitermeinung vertritt der Bundesratspräsident Wowereit, der wegen der fehlenden Wiederholung des Neins eine einheitliche Stimmabgabe erkannt haben will. Diese Meinung wurde allerdings zunächst nur von einem einzigen Staatsrechtler vertreten.

  • Martin Morlok

Auch wenn diese Meinung im Ergebnis zu einem Ja Brandenburgs führt, steht sie doch im Widerspruch zur Meinung Richtlinienkompetenz. Bei Annahme einer Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten, erübrigen sich nach der Stimmabgabe Stolpes alle Stimmversuche des überstimmten Schönbohms.

Allerdings richtete sich die zweite Frage nicht an Herrn Schönbohm, sondern nur an den Ministerpräsidenten Stolpe. Herr Schönbohm hatte damit keine Möglichkeit, seine Stimme (durch Schweigen) in ein Ja zu ändern.



Artikel 89 (Willensbildung)

Der Ministerpräsident bestimmt die Richtlinien der Regierungspolitik und ist dafür dem Landtag verantwortlich. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Minister den ihm anvertrauten Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Landtag.

Artikel 90 (Vorsitz, Beschlußfassung, Geschäftsführung)

(1) Der Ministerpräsident führt den Vorsitz in der Landesregierung. Die Regierung faßt ihre Beschlüsse mit Stimmenmehrheit. Bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Ministerpräsidenten.

(2) Der Ministerpräsident leitet die Geschäfte nach einer von der Landesregierung beschlossenen Geschäftsordnung.

Artikel 91 (Vertretungsbefugnis, Verträge)

(1) Der Ministerpräsident vertritt das Land nach außen. Er kann diese Befugnis auf ein anderes Mitglied der Landesregierung oder auf nachgeordnete Stellen übertragen.

(2) Staatsverträge, insbesondere Verträge, die sich auf Gegenstände der Gesetzgebung beziehen oder Aufwendungen erfordern, für die Haushaltsmittel nicht vorgesehen sind, bedürfen der Zustimmung des Landtages.


Links

Grundgesetz Artikel 51

Geschäftsordnung des Bundesrates

Protokoll der Sitzung

Verfassungs Brandenburgs Art 89, 91 Abs 1

Anatomie einer Abstimmung Spiegel Online sieht 6 Anworten auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Abstimmung

Erklärung von Bundespräsident Johannes Rau zur Ausfertigung des Zuwanderungsgesetzes am 20. Juni 2002 im Schloss Bellevue in Berlin

Forum 1 - Forum 2 Diskussion auf der Internetseite von Wahlrecht.de

von Martin Fehndrich