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Weimar - Scheitern aufgrund von Syste...

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Torsten Schoeneberg
Veröffentlicht am Montag, 14. April 2003 - 22:50 Uhr:   

Eine Lehrmeinung ist heute, daß die Weimarer Republik zwar nicht nur, aber eben auch wegen "struktureller Fehler" gescheitert sei. Das Wahlrecht i.w.S. betreffend seien das gewesen:

1. Das Verhältniswahlrecht, das einer Zersplitterung der Parteienlandschaft Vorschub geleistet habe. Dies habe es erschwert, parlamentarische Mehrheiten zu finden (Partikularisierung).
2. Das Fehlen einer Sperrklausel, was zu 1. noch verstärkend gewirkt habe und außerdem extremistischen Parteien frühzeitig eine parlamentarische Bühne geboten habe (Radikalisierung).
3. Die Direktwahl des Reichspräsidenten, die insbesondere mit Hindenburg zwar einen beliebten, aber "unfähigen" und v.a. "im Grunde systemoppositionellen" Mann in eine mächtige Position gebracht habe.
4. Die plebiszitären Elemente, die (z.B. bei der Volksabstimmung über den Young-Plan) v.a. extremistischen Kreisen die Chance zu populistischen Kampagnen bot.

Zwar wird von den Verfechtern dieser Thesen bejaht, daß noch (viele) weitere Gründe für das "Scheitern" Weimars vorlagen; jedoch werden auch die obigen Punkte hartnäckig vertreten und müssen teilweise zur Begründung heutiger Strukturen herhalten.

Ich persönlich halte die angebrachten Punkte größtenteils für zu kurz gegriffen, falsch oder nicht generalisierbar. Mich würde aber einmal die Meinung der übrigen Forumsteilnehmer interessieren. Vielen Dank dafür schon einmal.
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Martin Fehndrich
Veröffentlicht am Montag, 14. April 2003 - 23:11 Uhr:   

Das mit der Sperrklausel ist in dieser Form ja nicht ganz richtig.
Durch die Einteilung in die Wahlgebiete und die effektive Einsitzhürde gab es zumindest eine lokale Sperrhürde.

So ist bei der ersten Wahl 1924 die USPD mit 0,8% der Stimmen nicht in den Reichstag gekommen, ohne Sperrhürde wären es 4 Sitze gewesen.

http://www.wahlrecht.de/lexikon/weimar.html
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c07
Veröffentlicht am Dienstag, 15. April 2003 - 08:55 Uhr:   

Wenn man diese Argumente mit den "strukturellen Fehlern" konsequent weiterdenkt, muss man zum Schluss kommen, dass die Demokratie an sich ein Fehler war. Richtig ist, dass das strukturelle Eigenschaften sind, die sowohl ihre Vorzüge als auch ihre Nachteile haben. Und diese Abwägung ist nicht statisch, sondern ändert sich mit dem gesellschaftlichen Kontext.

Ob in der damaligen Situation andere Lösungen besser gewesen wären, interessiert mich ziemlich wenig. Entscheidend ist, wie die Abwägung heute ausfällt. Was ich allerdings nicht bezweifle, ist, dass solche Strukturen die politische Entwicklung ganz erheblich beeinflussen und teilweise sogar vorbestimmen können. Deshalb versteh ich ein bisschen die panische Angst mancher, Strukturen zu ändern, die bisher nicht zu Katastrofen geführt haben. Wo es aber nicht gelingt, die Strukturen rechtzeitig an neue Gegebenheiten anzupassen, drohen diese Katastrofen genauso, und eigentlich erwart ich von einem politischen System etwas mehr als nur die Vermeidung von Katastrofen.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Mittwoch, 16. April 2003 - 11:18 Uhr:   

Ich halte die These, die Weimarer Republik sei am Wahlrecht zugrunde gegangen, nicht nur für verkürzt sondern für kompletten Unsinn. Das Wahlrecht ist nicht einmal als eine Ursache unter mehreren anzusehen.

Jede Demokratie setzt ein Minimum an Vernunft beim Wahlvolk voraus. Genau an diesem Minimum an Verstand mangelte es, wenn über die Hälfte Nazis, Kommunisten und andere zweifelhafte Gruppierungen wählte. Wenn die Mehrheit für Extremisten stimmt, ist das durch kein Wahlsystem mehr auszubügeln.

Die These, das Wahlrecht habe den Extremisten durch Fehlen der Sperrklausel frühzeitig eine Bühne gegeben, ist naiv.
Erstens konnten sich die Parteien noch gar nicht medienwirksam im Parlament präsentieren, weil es noch kein Fernsehen gab.
Zweitens machten doch die Anhänger von Extremisten aus ihrer Abneigung gegen den Parlamentarismus keinen Hehl. Das parlamentarische Wirken seiner Partei interessierte die Extremistenwähler nicht im geringsten.
Drittens ist die Argumentation schon deshalb offensichtlich Unsinn, weil Hitler vor den Wahlerfolgen der Nazis gar nicht im Reichstag saß, er wurde ja erst 1932 Deutscher.

Die Mehrheitsverhältnisse im Parlamant wären bei einer Sperrklasusel nicht wesentlich anders gewesen, jedenfalls hätten sich keine neuen Koalitionsmöglichkeiten eröffnet. Hauptursache für die kurze Halbwertszeit der meisten Regierungen war die mangelnde Kompromißfähigkeit und -willigkeit. Auch die letzte parlamentarische Regierung scheiterte 1930 nicht an der mangelnden parlamentarischen Basis, sondern an einem ziemlich nichtigen Streit um ein paar Zehntel Prozentpunkte Beitag zur Arbeitlosenversicherung.

Sicher kein besseres Resultat hätte ein Mehrheitswahlrecht gebracht, Hitler wäre eher schneller an die Macht gekommen. Bei der Wahl im Juli 32 hätte die NSDAP bei Mehrheitswahl vermutlich die absolute Mandatsmehrheit erreicht. Im überwiegend katholischen Drittel Deutschlands lag zwar meist Zentrum bzw. BVP vorne, im Rest von Deutschland aber war fast flächendeckend die NSDAP stärkste Partei, abgesehen von einigen KPD-Hochburgen. Alle anderen Parteien hätten keine kaum Sitze bekommen.
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Torsten Schoeneberg
Veröffentlicht am Freitag, 18. April 2003 - 19:03 Uhr:   

Zunächst Danke für die ersten Meinungen. Ich spiele jetzt mal den advocatus diaboli und versuche auf Kritik an den o.g. Thesen zu antworten.


Zunächst einmal ist erstaunlicherweise niemand auf die Punkte 3 und 4 (Direktwahl des Reichspräsidenten und plebiszitäre Elemente) eingegangen.

Die Direktwahl des Präsidenten brachte 1924 den "Volkshelden" Hindenburg in eine Machtposition, der er nicht gewachsen war, was zumindest nicht dem Erhalt der Demokratie gedient hat. 1932 schließlich konnte Hitler als Kandidat einen populistischen Wahlkampf ohnegleichen ("Unsere letzte Hoffnung: Hitler") führen, der auch seine Bekanntschaft steigerte. Bei den folgenden Reichstagswahlen im selben Jahr konnte die NSDAP ihren Stimmenanteil von 18,3% auf 37,4% mehr als verdoppeln.
Ähnliches gilt für die Plebiszite: 1929 konnten die Rechten einen Volksentscheid gegen den Young-Plan auf den Weg bringen. Auch wenn er scheiterte, sicherte die Propaganda (v.a. der Hugenberg-Presse) den Rechten doch große Aufmerksamkeit und Zustimmung bis in die bürgerliche Mitte hinein. Im selben Jahr kam es zu den ersten großen Wahlerfolgen der NSDAP.


Verhältniswahlrecht und keine (bzw. niedrige faktische) Sperrklausel:

Zum Einwand von Th. Frings (Bühne für Extremisten): Es gab aber durchaus Zeitungen, und diese wurden auch gelesen. Und gerade in etwas simpleren links- und rechtsgerichteten Blättern wurde sicherlich sowohl über die Nazis als auch insbesondere über die Kommunisten berichtet. Besonders letztere hatten sicherlich einige feurige Redner im Parlament, deren Reden dann im Radio übertragen oder in den linken Zeitungen abgedruckt wurden. Sicherlich war diese Propaganda weniger wirkungsreich als die oben beschriebene bei Volksbegehren/-entscheiden. Aber vorhanden war sie schon, ich vermute nur eher bei den Linksextremen.

Zum Mehrheitswahlrecht: Es kommt ja nicht darauf an, wie die Wahlen 1932/33 bei Mehrheitswahlrecht ausgesehen hätten. Sondern ob in den Zwanzigern durch dieses Wahlrecht stabile Regierungen geschaffen worden wären, die es zur Entwicklung der 30er gar nicht erst hätten kommen lassen. Ich habe hier leider nur ungenaue Zahlen, aber nach denen schätze ich z.B. bei der Wahl 1928 durchaus auf eine deutliche Mehrheit für SPD und Zentrum/BVP, vielleicht sogar SPD alleine. Daneben gab es nur wenige kommunistische Hochburgen sowie einige DNVPler östlich der Elbe. Wenn es wirklich Mehrheitswahlrecht gegeben hätte, wären durch taktische Wahlaufrufe vielleicht sogar noch klarere Mehrheiten zustandegekommen. Das echte Wahlergebnis von 1928 brachte stattdessen eine wacklige Koalition von SPD, Zentrum, DDP und DVP hervor, die schließlich an den von Th. Frings erwähnten Unstimmigkeiten scheiterte (übrigens weil die SPD wg. Gewerkschaftsdruck keiner Kürzung der Arbeitslosengelder zustimmen konnte, nachdem alle anderen einem Kompromiß zugestimmt hatten).
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Samstag, 19. April 2003 - 15:16 Uhr:   

Ich habe schon früher einmal ausgeführt, dass das romanische Wahlrecht bei der Wahl des Reichspräsidenten den Untergang der Weimarer Demokratie befördert hat. Hätte es 1924 das absolute Mehrheitswahlrecht gegeben, wie es heute etwa in Frankreich, Rußland oder Polen bei Präsidentschaftswahlen praktiziert wird, hätte der kommunistische Kandidat Thälmann ausscheiden müssen, Hindenburg wäre vermutlich nicht Reichspräsident geworden, er hätte dann auch schon im 1. Wahlgang als Kandidat der Rechtsparteien von BVP bis NSDAP antreten müssen. Vermutlich wäre dann Marx vom Zentrum Reichspräsident geworden. Natürlich soll der Historiker nie mit "Was wäre wenn" argumentieren, aber...

Entscheidend für die verfassungspolitischen Aspekte des Unterganges in Weimar war jedoch der "Notstandsartikel" 48 WRV in Verbindung mit Art. 25 WRV, der vorsah, den Landtag innerhalb der Legislaturperiode aufzulösen. "Widersprach" der Reichstag Notverordnungen, die nach Art. 48 WRV erlassen wurden, konnte ihn der Reichspräsident nach Art. 25 auflösen. Der Reichstag durfte zwar niemals aus "demselben" Grunde aufgelöst werden; doch das war für Hans-Otto Meissner, den Juristen und das Chamäleon im Reichspräsidentenpalais nie ein Problem.

Entscheidend waren jedoch mentale Gründe: "Weimar" wurde nie akzeptiert, Hindenburg wurde von der Bevölkerung als "Ersatzkaiser" angesehen und sah sich selber so - und seine Regierungschefs als untergeordnete "Diener", die seinen Anweisungen zu gehorchen hätten. Spätestens ab 1930 war Weimar keine parlamentarisch-präsidielle Regierungsform mehr, sondern ein Präsidialregime. Verfassungsrechtliche Fragen dürften zwar zum Untergang Weimars beigetragen haben, jedoch nur zum kleinen Teil.
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Torsten Schoeneberg
Veröffentlicht am Sonntag, 20. April 2003 - 00:31 Uhr:   

@ Bernhard Nowak

Den berühmt-berüchtigten Artikel 48 habe ich absichtlich herausgelassen, da er kaum etwas mit Wahlrecht zu tun hat. Außerdem weise ich darauf hin, daß entgegen weit verbreiteter Meinungen natürlich auch das Grundgesetz einen Gesetzgebungsnotstand vorsieht (z.B. Art. 81, insbes. in Verbindung mit Artikel 68), der aber zugegebenermaßen durch strengere Beschränkungen eingegrenzt wird.

Zum Präsidenten: Auch beim absoluten Mehrheitswahlrecht wäre es fraglich, ob jemand anderes als Hindenburg gewählt worden wäre. Hindenburg hatte ca. 1 Million Stimmen Vorsprung, und die KPD hätte sicherlich nicht zur Wahl des Zentrumskandidaten aufgerufen (vermutlich nicht einmal eines SPDlers). Wenn dagegen der Präsident von einem Gremium ähnlich der Bundesversammlung gewählt worden wäre, wäre 1925 zumindest eine relative Mehrheit für einen SPD-Zentrum/BVP-DDP(-DVP)-Kandidaten drin gewesen.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Sonntag, 20. April 2003 - 09:43 Uhr:   

@Torsten: Zum Art. 48: dieser hat nichts mit Wahlrecht zu tun, wohl aber der Art 48 in Verbindung mit Art. 25 WRV. Dauernde Auflösungen eines Parlamentes tragen zu Unsicherheit bei und führen nicht zu demokratischer Stabilität. Es hat - mit Ausnahme der kurzlebigen großen Koalition unter Hermann Müller-Franken 1928-1930 doch nur Minderheitsregierungen gegeben !!!!

Ich sehe dies bei den Reichspräsidentenwahlen 1925 anders: sicherlich hätte die KPD nicht zu einer Wahl von Marx aufgerufen. Dennoch hätten meines Erachtens Wähler der KPD in Marx ein "geringeres Übel" gesehen als im "Junker" Hindenburg und ohne eine "Alternative" Thälmann dann - wenn sie zur Wahl gegangen wären, eher für Marx plädiert. So kam es ja auch 1932: als Hindenburg im 1. Wahlgang 1932 knapp - um 0,4% die absolute Mehrheit verfehlte, erhielt er im 2. Wahlgang mit 53.6% exakt 3% mehr - die drei Prozent, die im 2. Wahlgang dem kommunistischen Kandidaten - erneut Thälmann - fehlten.

Wie gesagt, dies bleibt spekulativ, die Geschichte ist anders verlaufen. Ich glaube jedoch, gerade die Umstände der ersten Wahl Hindenburgs im April 1925 zeigen, wie wichtig auch "Wahlrecht" sein kann.

Zum Problem Weimar: Karl-Dietrich Bracher hat in seiner berühmten Studie: "Die Auflösung der Weimarer Republik" als einer der ersten darauf aufmerksam gemacht, dass die Parteien sich als reine Interessenverbände und nicht als Vertreter des Volkes verstanden haben. Daraus resultierte ein Mangel an Kompromißfähigkeit. Dieser Mangel an Kompromißfähigkeit - und weniger das Wahlrecht - haben zum Untergang Weimars beigetragen. Es gab eben nicht 3-5 Parteien, wie in Bonn/Berlin im Parlament, sondern über 30 !!!!! Diese Zersplitterung spiegelt die Zerrissenheit einer Gesellschaft wieder und kann mit "Wahlrecht" kaum ausgeglichen werden.

Nichtsdestotrotz erscheint es mir möglich, dass sich bei einem mehrheitsbildenden Wahlsystem in den 1920-ger Jahren weniger Parteien hätten bilden können. Aber mit Ausbruch der Wirtschaftskrise 1929 war dies wieder vorbei.
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Torsten Schoeneberg
Veröffentlicht am Montag, 21. April 2003 - 00:41 Uhr:   

@ Bernhard Nowak:

Die KPD(-Führung) hat 1925 zumindest öffentlich erklärt, daß sie in Marx eben kein "geringeres Übel" als in Hindenburg sehen konnte. Ob einige ihrer Wähler das anders gesehen hätten, ist nicht zu sagen.
Bei der Wahl 1932 sehe ich Hindenburgs Erfolg eher darin begründet, daß die DNVP ihren Kandidaten zurückzog und es ihren Wählern frei stellte, wen sie wählten - so daß sie sich gleichmäßig zwischen Hindenburg und Hitler aufteilten.

Zur Zersplitterung: Die Frage ist ja eben, ob das Verhältniswahlrecht die Partikularisierung begünstigte (halte ich für weit hergeholt) oder zumindest nicht aufhalten konnte (eher wahrscheinlich). Bei einem Mehrheitswahlrecht wären die kleineren Parteien ja gezwungen gewesen, in den großen "aufzugehen", also Kompromisse zu schließen.
(Damit hängt natürlich die Glaubensfrage zusammen, ob eine Partei überhaupt dazu da ist, das ganze Volk zu vertreten oder "nur" eine Interessensgruppe.) Hätte das Mehrheitswahlrecht Weimar also in den 20ern stabilisieren können?
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c07
Veröffentlicht am Montag, 21. April 2003 - 00:59 Uhr:   

Torsten:
> Bei einem Mehrheitswahlrecht wären die kleineren Parteien ja gezwungen
> gewesen, in den großen "aufzugehen", also Kompromisse zu schließen.

Nein. Ein Mehrheitswahlrecht zwingt die Wähler, kleine Parteien zu meiden. Insofern hat es ziemlich totalitäre Züge.
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Torsten Schoeneberg
Veröffentlicht am Montag, 21. April 2003 - 19:36 Uhr:   

"Totalitär" ist aber ein hartes Wort...
Außerdem bestehen die Parteien ja auch aus Wählern/Bürgern, die eben ihre Interessen durchsetzen wollen. Und bei einem Mehrheitswahlrecht wären eben die Bürger allgemein (einerseits die Nur-Wähler, andererseits die organisierten Wähler in Parteien) gezwungen gewesen, keine Partikularinteressen zu verfolgen, sondern mehrere Strömungen zu binden.
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c07
Veröffentlicht am Montag, 21. April 2003 - 21:55 Uhr:   

Torsten:
> "Totalitär" ist aber ein hartes Wort...

Ich weiß, es war auch durchaus ein bisschen provokativ gemeint. "Autoritär" wär sachlich vielleicht richtiger. Aber ein Mehrheitswahlrecht greift tatsächlich sehr tief ins Denken der Bürger ein, weil es politische Visionen zu Utopien degradiert. Jede wesentliche Veränderung muss dann von den etablierten Parteien ausgehen, die zum einen stark in ihren Traditionen verwurzelt sind und zum anderen ihrerseits ziemlich zwangsläufig auch wieder nach einer Art Mehrheitswahlrecht organisiert sind. Dazu braucht es starke Persönlichkeiten oder zumindest einflussreiche Gruppen, die aber ausreichend angepasst sind, dass sie an die entsprechenden Positionen kommen können. Veränderungen sind also fast nur von oben möglich, was für mich zumindest die Bezeichnung "autoritär" rechtfertigt.

Im Gegensatz zu anderen autoritären Systemen stabilisiert sich ein Staat mit Mehrheitswahlrecht aber selbst, während es z.B. in einer reinen Monarchie zumindest noch die Hoffnung gibt, dass der Monarch stirbt und danach ein grundlegender Wandel möglich ist. Wenn aber ein Gesellschaftssystem total festgeschrieben ist ohne Aussicht auf gewaltfreie Änderungen, seh ich schon eine gewisse Berechtigung, es "totalitär" zu nennen, auch wenn es darin Bereiche gibt, auf die sich die Festschreibung nicht erstreckt. Auch in totalitären Systemen im engeren Sinn gibt es meistens solche Bereiche.

Natürlich wird die Wahrnehmung der meisten Menschen ganz anders sein. Die Wahl kann meistens erfolgreich suggerieren, dass eine Auswahl zwischen mehreren Alternativen bestünde. Tatsächlich gibt es ja auch öfters die Wahl zwischen zwei unterscheidbaren Konzepten. Aber die Möglichkeit, etwas von unten Gewachsenes als Alternative zur Wahl zu stellen, wie es bei uns ja mit den Grünen einmal der Fall war, entfällt dann. Und ohne diese Möglichkeit hätte z.B. die RAF annähernd die selbe Legitimation gehabt, wie sie Stauffenberg gehabt hat.

Aber um zum Thema des Threads zurückzukehren: Man muss ja Totalitarismus nicht ausschließlich als etwas Negatives sehen. Auch heute noch greift der Staat ganz massiv in das Leben seiner Bürger ein. Einiges davon ist sogar sinnvoll, anderes geschieht zumindest in der Absicht, Schlimmeres zu verhindern. Genauso kann man auf dem Standpunkt stehen, gemäßigter Totalitarismus wär damals notwendig gewesen, um seine extremste Form zu verhindern. Wie gesagt ist mir die Antwort auf diese Frage ziemlich egal, aber für die heutige Situation in Deutschland seh ich diese Notwendigkeit jedenfalls nicht.

> Und bei einem Mehrheitswahlrecht wären eben die Bürger allgemein (einerseits die
> Nur-Wähler, andererseits die organisierten Wähler in Parteien) gezwungen gewesen,
> keine Partikularinteressen zu verfolgen, sondern mehrere Strömungen zu binden.

Du implizierst hier ein 2-Parteien-System, das aus einem Mehrheitswahlrecht noch lange nicht folgt, selbst wenn man Regionalparteien wie die BVP außer Acht lässt. Gerade das Zentrum war zumindest gegen Ende der Weimarer Republik der Prototyp einer Partei, die vorrangig Partikularinteressen verfolgt, und trotzdem hätte es von einem Mehrheitswahlrecht wohl eher noch profitiert.
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Torsten Schoeneberg
Veröffentlicht am Montag, 21. April 2003 - 23:31 Uhr:   

Dann ist in Deiner Definition auch die heutige Demokratie ein totalitäres System, weil sie sich nicht gewaltfrei beseitigen läßt, sondern im Gegenteil gegen ihre Gegner aktiv vorgeht (Parteienverbote, einige Artikel im StrafGB).
In der Realität sieht es sowieso jeweils noch anders und in gewissem Sinne schlimmer aus (in der BR Deutschland haben z.B. viele Lobbys einen gänzlich undemokratischen Einfluß, und das Land gilt allgemein als reformlahm, während es in GB (Mehrheitswahlrecht) öfter mal (nämlich bei Regierungswechseln) einschneidende Veränderungen gibt. Fraktionszwang und sonstige Maschinerien tun ihr übriges, um auch das heutige System nach Deiner Definition als autoritär bis totalitär einstufen zu können.

Ob "gemäßigter Totalitarismus" einen "schlimmeren Totalitarismus" verhindert hätte, diese Frage ist mir zu pauschal. Außerdem scheint mir gerade die oben von Bernhard Nowak scharf angegangene Präsidialzeit in 1930-1933 ein Versuch in diese Richtung gewesen zu sein.

Ein 2-Parteien-System hatte ich nicht impliziert, wohl aber eines mit wenigen Parteien. Aus den mir vorliegenden ungenauen Daten meine ich folgern zu können, daß bei MW in den 20ern nur KPD (in unbedeutender Größe), SPD, BVP, Zentrum und DNVP im Reichstag gesessen hätten.

Ob wir heute das Mehrheitswahlrecht einführen müssen? Sicherlich nicht. Aber ob es in Weimar etwas gebracht hätte, kann ja diskutiert werden. Ich glaube es nicht, auch wenn ich hier Argumente der Gegenseite vertrete (ich hatte gehofft, irgendwer würde mir das abnehmen...).

Noch aktueller ist ja die immer wieder auftretende Frage nach Direktwahl des Bundespräsidenten (was aber wg. dessen mit dem Reichspräsidenten unvergleichbarer Stellung weniger wichtig ist) und der Einführung von Plebisziten.
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c07
Veröffentlicht am Dienstag, 22. April 2003 - 00:36 Uhr:   

Torsten:
> Dann ist in Deiner Definition auch die heutige Demokratie ein totalitäres
> System, weil sie sich nicht gewaltfrei beseitigen läßt

Nein, dann gäb es ja nur totalitäre Systeme und die Aussage würde ihren Sinn verlieren. Veränderungen sollten immer mindestens von einer Mehrheit getragen sein, und das schließt auch die Möglichkeit zur Rückänderung ein (abgesehen davon, dass sich Mehrheiten allein durch die Bevölkerungsentwicklung ändern können). Der Maßstab ist für mich, dass jede Änderung auch Raum für künftige, durch eine Mehrheit getragene Veränderungen lässt. Insofern halt ich allerdings die üblichen Ewigkeitsklauseln, die eine bestimmte Spielart von Demokratie festschreiben, tatsächlich für undemokratisch.

> sondern im Gegenteil gegen ihre Gegner aktiv vorgeht
> (Parteienverbote, einige Artikel im StrafGB).

Das ist manchmal wirklich ziemlich hart an der Grenze dazu. Aber die prinzipielle Legitimität der Existenzsicherung von Demokratie im beschriebenen Sinn stell ich nicht in Frage.

> In der Realität sieht es sowieso jeweils noch anders und in
> gewissem Sinne schlimmer aus

Ja, insbesondere werden Entscheidungen nur zu einem ziemlich geringen Maß rational getroffen. Stimmungen haben einen sehr großen Einfluss, und es gibt viele Mechanismen, die zu manipulieren. Aber das ist normalerweise kein Grund, schon die formalen Voraussetzungen zu beschneiden.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Dienstag, 22. April 2003 - 10:08 Uhr:   

@Torsten:
Die Entscheidung der KPD-Führung, an Thälmann 1925 im 2. Wahlgang festzuhalten, soll - so die Fachliteratur - gegen den Rat der Komintern gefallen sein (vgl. etwa die Hindenburg-Biographie von Andreas Dorpalen von 1967, heute noch die beste - leider vergriffene - Beschreibung des Wirkens Hindenburgs in der Weimarer Republik).

Zu 1932: Die DNVP-Wähler von Duesterberg wählten im 2. Wahlgang Hitler und nicht Hindenburg!

Reichspräsidentenwahl 1932 1. Wahlgang:

Hindenburg: 49,6% (18 651 500 Stimmen)
Hitler: 30,1% (11 339 500 Stimmen)
Duesterberg: 6,8% (2 557 700 Stimmen)
Thälmann: 13,2% (4 983 300 Stimmen)
Winter: 0,4% ( 111 400 Stimmen)


2. Wahlgang:

Hindenburg: 53,0% gegenüber 49,6%, also +3,4 (Thälmann 3% + Winter + 0,1% Duesterberg-Wähler)
Htler: 36,8% gegenüber 30,1% +6,7%, also fast Stimmenanteil Duesterberg)

Also: 3% Thälmann-Wähler zu Hindenburg, 0,3% Winter zu Hindenburg, 0,1% Duesterberg zu Hindenburg, 6,7% Duesterberg zu Hitler.

1925 betrug Hindenburgs Vorsprung vor Marx rund 900 000 Stimmen ( 14 655 600 oder 48,3% gegenüber 13 751 600 also 45,3%). thälmann erhielt 1 931 200 Stimmen, also 6,4% gegenüber 7,0% 1. Wahlgang 1925). Hätte also 1925 die Bayerische Volkspartei Marx vom Zentrum statt Hindenburg gestützt und wären 900 000 Thälmann-Wähler zu Marx "übergelaufen" - was ich für möglich halte), so wäre 1925 vermutlich in einer Stichwahl zwischen Marx und Hindenburg Marx Reichspräsident geworden. Das romanische Wahlrecht, im übrigen in der Tat eine Variante es relativen und nicht des absoluten Mehrheitswahlrechtes, hat also 1925 die Wahl Hindenburgs (mit-)bewirkt.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Dienstag, 22. April 2003 - 11:42 Uhr:   

@ Bernhard
Nicht ausgeschlossen, aber m.E. eher unwahrscheinlich, daß Marx 1925 bei einer Stichwahl (nur)zwischen Hindenburg (der war übrigens im 1. Wahlgang gar nicht angetreten) und Marx gewonnen hätte. Nur bezweifle ich, daß die Wahl Hindenburgs so fatal war, wie immer behauptet wird. Vom Notverordnungsrecht hat auch Hindenburg kaum Gebrauch gemacht, solange eine parlamentarische Regierung bestand. Und ob ein anderer Präsident die Bildung einer Regierung unter Hitler blockiert hätte ist auch unwahrscheinhlich. Mehr Weitblick als der senile Hindenburg zeigte die politische Klasse als ganze jedenfalls nicht, als sie für das Ermächtigungsgesetz stimmte. Darunter waren übrigens auch Abgeordnete, die später in der Bundesrepublik politische Ämter bekleideten, z.B. Heuss oder NRW-Kultusministerin Christine Teusch.

@ Torsten
Eine absolute Mehrheit einer Partei hätte es bei Mehrheitswahlrecht sehr wahrscheinlich nicht gegeben, genauso wie im Kaiserreich, wo bei absoluter Mehrheitswahl nie eine Partei in die Nähe der absoluten Mehrheit kam. Auch bedeudet eine deutliche Mehrheit für zwei Parteien keineswegs eine stabile Regierung. Eine Koalition nur aus SPD und Z/BVP- sofern sie durch Mehrheitswahlrecht mäglich gemacht worden wäre- wäre auch sehr instabil gewesen, weil der Wille zu Kompromissen auf beiden Seiten eben sehr begrenzt war. 1930 hätten Zentrum/BVP, SPD und DDP ja auch ohne DVP eine Mehrheit gehabt, aber der Wille war eben nicht vorhanden. Auch Rechtskoalitionen haben in der Weimarer Republik nicht lange gehalten, obwohl diese zusammen mit kleineren Rechtsgruppen über eine absolute Mehrheit verfügten.
Prinzipiell bedeutet eine stärkere Konzentration der Wähler auf wenige Parteien auch zwangsläufig eine größere Heterogenität innerhalb der Parteien und oft auch Flügelkämpfe, die ein Land ebenso blockieren können wie Streit zwischen Parteien. Viele Regierungschefs in Japan oder Italien scheiterten am Widerstand von Teilen der LDP bzw. DC gegen den eigenen Vormann.
Zusammengefaßt: Regierungsstabilität läßt sich nicht auf die rechnerischen Mehrheitverhältnisse im Parlament reduzieren.

Schließlich zum Parlament als "Bühne":
Entscheidend für die Moblisierung der äußesten Rechten ab 1929 war doch nicht die Präsenz im Parlament (wie bereits ausgeführt) und auch nicht das Volksbegehren für sich, sondern die effektive Propagandastrategie Hitlers (der damals kein Abgeordneter war) und zunächst vor allem der Hugenberg-Presse.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Dienstag, 22. April 2003 - 13:05 Uhr:   

@Thomas: Bei einer absoluten Mehrheitswahl wäre 1925 vermutlich Hindenburg schon im 1. Wahlgang als Sammelkandidat der Rechten nominiert worden und nicht der Duisburger Oberbürgermeister Jarres.

Was Deine These über Hindenburg angeht, so wird sie von vielen Historikern geteilt (etwa Haffner oder Schulz), anderen nicht. Auf jeden Fall war Hindenburg extrem abhängig von seinen Beratern. Aber die Machtfülle des Reichspräsidentenamtes machte es eben so gefährlich, einen Politiker an der Spitze zu haben, der die Republik zwar tolerierte (Hindenburg), aber eben kein "überzeugter Republikaner" war, wie Marx. Ansonsten gebe ich Dir recht, hat sich die Entscheidung für Hindenburg 1925 erst ab 1929/30 sichtbar ausgewirkt. Ob übrigens die reine Ernennung Hitlers 1933 weniger "verfassungskonform" war als die Ernennungen Papens und Schleichers, die ja viel weniger parlamentarischen Rückhalt besaßen als Hitler seit den Wahlen vom Juli 1932, ist umstritten. Letztendlich waren es wohl die Wähler, die den Untergang der Weimarer Republik, die sie eben mehrheitlich nicht wollten, zu verantworten haben. Hindenburgs Versagen liegt meines Erachtens eher darin, a) den Reichstag 1930 aufgelöst zu haben, b) Brüning 1932 entlassen zu haben und c) die Verbrechen, die Hitler nach seiner Machtübertragung 1933 beging, zugelassen und toleriert zu haben; ich denke etwa an das berühmt-berüchtigte Telegramm Hindenburgs nach dem sogenannten "Röhm-Putsch" 1934 und die Vernichtung des Parteienstaates 1933 sowie die Errichtung von KZs. Da hilft der Hinweis auf Senilität und Berater auch nicht weiter; es war, wie Zehrers "tägliche Rundschau" 1933 zu recht feststellte, die Verantwortung des Reichspräsidenten, der eben nicht "Hüter der Verfassung" blieb.
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Torsten Schoeneberg
Veröffentlicht am Dienstag, 22. April 2003 - 18:22 Uhr:   

@ Bernhard Nowak:

Wenn die Zahlen richtig sind, ist das natürlich ein Beleg. Woher kommen sie? Gab es damals schon statistische Wahlumfragen?

@ Thomas Frings:
Wobei im Kaiserreich die Wahlkreiseinteilung für die SPD und Linksliberale sehr ungünstig war. In Weimar halte ich deswegen auch eine absolute Mehrheit für möglich. Ob das besser gewesen wäre, ist wieder eine andere Frage. Immerhin hat aber die "Weimarer Koalition" SPD, DDP und Zentrum zu Anfang gehalten.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Dienstag, 22. April 2003 - 18:36 Uhr:   

@Torsten: Ich habe sie dem Buch: "Die Weimarer Republik" 1914-1918 /hrsg. von F. A. Krummacher und albert Wucher. München: Desch-Verl., 1965 entnommen. Du findest sie aber auch in vielen Gesamtdarstellungen der Weimarer Republik, oft am Ende.

Die Interpretationen der Zahlenverschiebungen stammen von mir.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Dienstag, 22. April 2003 - 18:42 Uhr:   

Vergessen habe ich noch: Thälmann erhielt 1932 bei den Reichspräsidentenwahlen im 2. Wahlgang 10,2% gegenüber 13,2% im 1. Wahlgang (4 983 300 Stimmen gegenüber 3 706 800 Stimmen). Die fehlenden 3% dürften - entgegen manchen Umfragen - zu Hindenburg gegangen sein, obwohl die KPD an Thälmann festgehalten hatte und plakatiert hatte: "Wer Hindenburg wählt, hilft den Nazis".

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