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Archiv bis 25. April 2010

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c07
Veröffentlicht am Donnerstag, 29. April 2004 - 00:42 Uhr:   

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Juwie
Veröffentlicht am Donnerstag, 29. April 2004 - 09:48 Uhr:   

@Bernhard Nowak:

Teile Ihre Meinung völlig. Die Vorbehalte Chiracs gegenüber Sarkozy sind ja nur dann schlüssig, wenn sich sogar die französischen Akteure (und Beobacher) vorstellen könnten, dass auch bei bürgerlicher Parlamentsmehrheit und bürgerlichem Präsidenten die faktische Leitung der Politik vom Elysee ins Matignon wandern könnte (bisher war dies ja bei unterschiedlichen "Parteifärbungen" der Fall). Richtig auch der Hinweis auf die Probleme 1974-76, die bei der Analyse der V. Rep. fast immer unterschlagen werden, weil sie nicht ins Klischee passen (ähnliches gilt übrigens für die Frühzeit 58-62 und die Jahre 67/68).

Überhaupt wird in der V. Rep. ja meist ein "Machtkampf" zwischen Personen perzipiert, bei dem weitgehend außer acht bleibt, dass die Machtressource des Premiers "seine" Mehrheit in der Nationalversammlung ist, die er (und nicht der Präsident) mit den Mitteln des "rationalisierten Parlamentarismus" relativ leicht disziplinieren kann (obwohl das bei der "gauche plurielle" wohl nicht mehr so ganz funktionierte).

Manchmal habe ich die Vermutung, dass dies auf einer in der politischen Kultur verankerten Überbetoung von Personen gegenüber Institutionen beruht (Motto: "Männer machen Geschichte").
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Donnerstag, 29. April 2004 - 15:12 Uhr:   

"Die Vorbehalte Chiracs gegenüber Sarkozy sind ja nur dann schlüssig, wenn sich sogar die französischen Akteure (und Beobacher) vorstellen könnten, dass auch bei bürgerlicher Parlamentsmehrheit und bürgerlichem Präsidenten die faktische Leitung der Politik vom Elysee ins Matignon wandern könnte"

Das sehe ich nicht so. Mit der Ernennung von Sakorzy zum Premier hätte Chirac ihm selbst den Status des Kronprinzen zuerkannt. Genau das will er aber bekanntlich nicht.
Ich glaube der Grund dafür, daß der Präsident eine so starke Stellung hat, liegt darin, daß niemand das Amt beschädigen will, weil er den Posten später selbst einmal besetzen will. Selbst als Mitterand zahllose Politiker abhören ließ, hielt die Chirac-Regierung in den 80-er Jahren still, obwohl sie davon wußte.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Freitag, 30. April 2004 - 09:38 Uhr:   

@Juwie: Ich stimme in allem völlig zu. Auch ich denke, dass es in semipräsidiablen Systemen (oder eben parlamentarisch-präsidiellen Systemen etc.) sehr auf die Personen ankommt und in der V. Republik in Frankreich die Personen fast überbetont werden (Präsident als "Wahlmonarch", "Männer machen Geschichte"). Thomas hat aber auch recht. Chirac, Balladur und Jospin wollten Präsident werden - und sahen das Amt des Premierministers in Frankreich als "Sprungbrett" dazu an. Eine Erweiterung ihrer Kompetenzen als Regierungschef hätte ihnen zwar momentan Vorteile gebracht - langfristig - aus ihrer Perspektive - jedoch nicht.

Im übrigen noch ein Gedanke. Sowohl Chirac als auch Balladur als auch Jospin schafften es nicht, vom Premierministersessel in den Elysee-Palast zu kommen. Chirac scheiterte 1988 gegen Mitterrand, Balladur wurde 1995 gar nur Drittplatzierter, Jospin 1995 ebenso. Chirac hatte 1995 Erfolg, da er 1993 nicht erneut Premier wurde, als die bürgerlich-konservativen Kräfte bei den Parlamentswahlen siegten. Es wäre also die Frage, ob es für Sarkozy klug wäre, sich im Amt des Premiers als Blitzableiter verschleißen zu lassen - Juppe kann ja ein Lied davon singen. Vielleicht will dieser also gar nicht Premier werden und es läuft auf de Villepin oder jemand ähnlichen zu, wenn die Europawahlen in Frankreich schlecht ausgehen. Aber dies wären Themen für einen Frankreich-Thread. Für Österreich glaube ich, dass der Wechsel zu Fischer der politischen Kultur des Landes sogar gut tun wird, da er sehr überparteilich agiert - anders als Klestil. Insofern werden wir es dort erleben, dass die Verfassungspraxis wieder stärker zur parlamentarischen Rolle des Regierungschefs und rein zeremoniellen Rolle des Staatsoberhauptes zurückkehren wird - stabile Regierungsverhältnisse vorausgesetzt. Und hier hast Du, Juwie, natürlich auch recht. Der deutsche Bundespräsident hätte - insbesondere bei Art. 81 GG - wir haben dies in einem anderen Thread ja schonmal diskutiert - durchaus "Reservefunktionen", v.a. versteckt im Art. 63 GG. Seine rein repräsentativ-zeremonielle Stellung beruht also genau darauf, dass es stabile Mehrheitsverhältnisse gab. Im übrigen sind Philipps Erwägungen natürlich auch korrekt: wenn Präsidenten Erlasse oder Ukase wie in Russland oder Frankreich auch ohne Gegenzeichnung der Regierung (des Regierungschefs oder eines Ministers) tätigen können (so etwa die Auflösung der Nationalversammlung in Frankreich ohne Gegenzeichnung der Regierung, nur die Konsultation mit den Präsidenten der Kammern ist vorgeschrieben, engen den Präsidenten aber in seiner Entscheidungsfreiheit nicht ein), so haben sie natürlich ein enormes Machtpotential - dann ist das System präsidiell (oder nach Merkel präsidiell-parlamentarisch), egal, ob es nun nominell einen Regierungschef gibt (Rußland, Frankreich) oder der Präsident - wie in den USA - in Personalunion auch Regierungschef ist.
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Juwie
Veröffentlicht am Samstag, 01. Mai 2004 - 10:34 Uhr:   

Freue mich ausgesprochen über das hohe Niveau, auf dem wir hier über "Semipräsidentialismus" diskutieren.
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DJM (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Donnerstag, 18. Oktober 2007 - 18:08 Uhr:   

Es gibt sehr viele Versuche der Typologisierung von Regierungssystemen - die wohl überzeugenste (außerhalb des deutschsprachigen Raum leider wenig rezipierte) ist die von Winfried Steffanie.

Singuläres Kriterium: Abberufbarkeit der Regierung/des Regierungschefs durch das Parlament aus politischen Gründen.

Damit lässt sich auch das (von Duverger als Semi-Präsidentiell bezeichnete) Regierungssystem der V. franz. Republik (ebenso wie Polen, Österreich) klar dem parlamentarischen System zuordnen.

Alle oben genannten Fälle sind demnach parlamentarische Systeme der Untergruppe "Präsidialdominanz" - im Gegensatz etwa zur Bundesrepublik mit "Kanzler/Regierungschefdominanz".
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Donnerstag, 18. Oktober 2007 - 23:28 Uhr:   

Nun ja - die Möglichkeit der Abberufung von Regierungen ist ja nun kein singuläres Kriterium einer einzigen Klassifikation politischer Systeme. Parlamentarische Systeme werden ja ganz allgemein nach diesem Kriterium definiert.

Allerdings gibt es in der Praxis der Staaten sehr unterschiedliche Formen der Abberufung: In Österreich kann das Parlament nach der Verfassung die Regierung insgesamt oder einzelne Minister abberufen; in Deutschland und in einigen andern Ländern wie z. B. Spanien (die vom Grundgesetz abgeschaut haben) ist es nur möglich, die amtierende Regierung abzuberufen, indem ein neuer Regierungschef gewählt wird. In der Schweiz gibt es ferner ein System, in dem zwar das Parlament die Regierung wählt, sie aber vor Ablauf ihrer Amtszeit nicht auswechseln kann - wie will man so ein System klassieren? In einigen Staaten gibt es zudem das Recht des Volkes, die Regierung oder deren Chef azuberufen - man erinnert sich an Kalifornien.
Einige Verfassungen gestatten zwar die Abberufung der Regierung, sehen aber vielerlei Hürden und Beschränkungen vor, z. B. gestatten sie einer Gruppe von Antragstellern nur ein einziges Mal, verbieten eine Wiederholung vor Ablauf einer Frist von z. B. einem Jahr, stellen lange Behandlugnsfristen auf, setzen hohe Quoren fest oder erlauben jedem Parlametarier ohnehin nur eine begrenzte Zahl entsprechender Anträge.
Wenn man sodann in die politische Praxis schaut, wird man feststellen, dass es da oft anders aussieht als in der verfassungsrechtlichen Theorie: Wieviele Abberufungen der Regierungen gab es denn z. B. in Deutschland, Frankreich oder Österreich in den letzten 30 Jahren? Und welche Unterschiede lassen sich dabei aufs unterschiedliche System zurückführen?

Wenn man im übrigen "Dominanzen" ansetzen will - wann war denn Deutschland in den letzten Jahren wirklich von einem Kanzler dominiert? Wann war der Bundespräsident in Österreich letztmals dominant? In Frankreich hatten wir ja schon mehrmals die Situation einer cohabitation, in der die "Dominanz" folglich vom Präsidenten auf den Premier übergegangen sein muss, wobei auch dies in unterschiedlichem Masse.

"Die wohl überzeugendste Typologisierung" überzeugt also mich jedenfalls nicht im mindesten, weil ihr Erkenntniswert in meinen Augen nahezu null beträgt.
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DJM (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Freitag, 19. Oktober 2007 - 15:09 Uhr:   

Der Vorteil eines singulären Kriteriums ist aber, dass alle westl. Regierungssysteme abschließend zugeordnet werden können. Damit schafft Steffanis Typologie genau dass, was deren Aufgabe ist, nämlich Klarheit.

Bei Typologien mit 3, 4 opder gar 6 Grundtypen gibt es immer wieder Unklarheiten - insbesondere bei der Zuordnung des Semi-Präsidentialismus (Parl., Präsid., Hybrik, Alternierend?) und der Staaten die ein solches System darstellen sollen (nach Verfassung ist Präsident in Österreich mächtiger, nach Praxis der in Frankreich - wie klassifizieren?).

Ein singuläres Kirterium auf der ersten Ebene bedeutet aber keinesfalls, dass es es nicht INNERHALB der beiden Grundtypen verschiedene Ausgestaltungen gibt.

Bei der Ausgestlatung der Abberufung unterscheided Steffani etwas 6 Typen.

Die Grundfrage - Abberufbarkeit der Regierng durch das Parlament ja/nein - hat natürlich weitere Auswirkungen auf die Frunktion des Systems. Während im präsidentiellen System das Parlament "Legislative" im wahrsten Sinne des Wortes bleibt, kommt es im parlamentarischen System zu einer "Fusion" von Regierungsmehrheit im Parlament + Regierung. Die faktische Gesetzgebungsarbeit geht damit auf die Regierung über auch wenn das Parlament natürlich formal die Gesetze beschließt.
Insofern ist es unerheblich, ob oder wie oft ein Abberufungsrecht tatsächlich ausgeübt wird - allein die Tatsache dass es verfügbar ist, bestimmt den Charakter des Systems.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Samstag, 20. Oktober 2007 - 00:02 Uhr:   

Mit singulären Kriterien ist es so eine Sache. Es ist ja nun eben nicht so, dass es das Vorrecht eines einzelnen wäre, zwischen parlamentarischen und nicht-parlamentarischen Systemen zu unterscheiden. Man spricht schon sehr viel länger z. B. von einer konstitutionellen, einer absoluten und einer parlamentarischen Monarchie. Es ist wohl auch jedem klar, dass dies eine grundlegende Unterscheidung ist, jedenfalls grundlegender als andere.
Letztlich ist nur die Frage, wie weit man in die Tiefe gehen will. Man kann natürlich als Unterscheidung einführen, ob das Parlament die Regierung aus politischen Gründen (oder nach Willkür) auswechseln kann oder nicht. Nur - was fängt man mit Systemen an, die gar kein Parlament kennen? Zugegeben: solche gibt es heute in Europa nicht mehr, es gab sie aber früher und es gibt sie teilweise auch heute noch in der Welt.
Man kann auch "Untergruppen" unterscheiden - dann geht man in der Analyse einfach etwas tiefer. Aber wie bereits gesagt: Das ist nicht nur bei Steffani so, sondern trivialerweise in jeglichem System.
Dass "parlamentarische" Systeme, wie immer sie ausgestaltet sein mögen, dazu neigen, eine "Verzahnung" zwischen Regierung und Parlament herbeizuführen, ist auch schon lange klar, aber in jedem Land unterschiedlich ausgeprägt. In Deutschland hat bspw. der Kanzler mindestens der Theorie nach eine ziemlich unabhängige Stellung, in anderen Staaten sind die parlamentarischen Regierungen dagegen stärker aufs Parlament angewiesen - zumindest in der Theorie.
Auch dass faktisch die Regierung die Gesetze entwirft, ist keine neue Erkenntnis, vor allem aber ist das auch kein Vorrecht eines parlamentarischen Systems. In den USA z. B., die ein System haben, das als das klassische präsidentielle gilt, sind es auch die Präsidenten, die dem Parlament Gesetzesvorhaben vorschlagen. Viele wichtige Gesetze werden nicht von Parlamentariern eingebracht, sondern von der Regierung vorgeschlagen. In den USA hat der Präsident sogar eine weitgehende Kontrolle darüber, welche Gesetze das Parlament erlassen kann, indem er das Veto-Recht ausübt. Da faktisch so gut wie nie eine Zweidrittelmehrheit eines politischen Lagers in beiden Kammern des Parlaments auftritt, ist es auch sehr schwer, ein solches Veto mit der nötigen Zweidrittelmehrheit zu überstimmen. Auch in der Schweiz, die ein System sui generis oder jedenfalls kein echtes parlamentarisches kennt, werden die meisten Gesetze von der Regierung vorgeschlagen.
Was vielleicht in den USA und in der Schweiz besonders ist, ist der Umstand, dass Gesetze oft im Parlament abgeändert werden. Dies hat aber weniger mit dem "System" zu tun als mit dem Umstand, dass beides Bundesstaaten sind, in denen das Wahlsystem dazu führt, dass Abgeordnete stärker als in andern Ländern lokale Interessen verfolgen und weniger der Parteidisziplin verpflichtet sind. Auch in dem Musterland der parlamentarischen Monarchie, in Grossbritannien, gilt das Parlament allgemein als "selbständig", was die Gesetzgebung betrifft, eben als klassisches "Debatten-Parlament". Dies hat aber weniger mit dem Regierungssystem zu tun als mit der Art, wie das Parlament organisiert ist und wie die politische Kultur im betreffenden Land aussieht. An der Unterscheidung parlamentarisch-nicht-parlamentarisch liegt es also nicht, jedenfalls nicht allein, ob ein Debatte- oder ein Kopfnicker-Parlament vorliegt.
Wie gesagt: So grundlegend und als Orientierungshilfe wichtig solche Unterscheidungen allgemeiner Art auch sind, kommt es doch immer auch darauf an, wie weit in die Tiefe man die Analyse treiben will.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Samstag, 20. Oktober 2007 - 10:54 Uhr:   

Wenden wir doch einmal das singuläre Kriterium auf ein konkretes Beispiel an: die Weimarer Reichsverfassung. (Nun mag jemand einwenden, dieses Beispiel sei mit Arglist ausgesucht. Gleichwohl sollte ein gut gewähltes Kriterium auch einem mit Arglist ausgesuchten Beispiel standhalten.)
Die Weimarer Verfassung sah vor, dass der Reichstag nicht nur den Reichskanzler, sondern auch jeden Minister einzeln oder gesamthaft durch Misstrauensvotum absetzen konnte. Daneben bestand noch das Recht, dessen praktischer Wert allerdings zweifehalft blieb, mittels Zweidrittelmehrheit eine Volksabstimmung über den Reichspräsidenten auszulösen, die entweder dessen Absetzung oder aber die Auflösung des Reichstages zur Folge hatte.
Das singuläre Kriterium ist somit zweifellos erfüllt: Das Parlament konnte die Regierung absetzen, sogar unter gewissen Bedingungen den Präsidenten stürzen lassen. In der Tat war die Ausübung des Misstrauensvotums sogar sehr leicht, da die einzige Voraussetzung ein Mehrheitsbeschluss war.
Betrachten wir nun die Stellung des Reichspräsidenten, so ist diese der heutigen Stellung des Bundespräsidenten so unähnlich nicht: Wie der Bundespräsident fertigte er Gesetze und andere Staatsakte aus, empfing und beglaubigte Gesandte, sprach Ernennungen und Begnadigungen aus, konnte den Reichstag auflösen usw. Im Gegensatz zum Bundespräsidenten, der in einigen Fällen nach dem Grundgesetz ausdrücklich allein entscheidet und seine Entscheidungen auch nicht gegenzeichnen lassen muss, musste der Reichspräsident alle seine Akte durch Mitglieder der Regierung gegenzeichnen lassen.
Allerdings verfügte der Reichspräsident über einige Sonderrechte: So war die Auflösung des Reichstages faktisch seinem Belieben überlassen, solange ihm ein jeweils neuer Grund zur Auflösung einfiel und ein williger Minister gegenzeichnete. Sodann konnte er die Regierungsmitglieder nicht bloss einsetzen, sondern auch von sich aus entlassen. Ferner verfügte er über den Oberfehl über die Armee. Schliesslich stand ihm das vage umschriebene Recht zu, Bundesexekution gegen ein umbotmässiges Land zu verfügen und darüber hinaus so ziemlich jede beliebige Massnahme zur Sicherheit und Wahrung der Ordnung im Reich zu erlassen. War nach dem Wortlaut der Verfassung wohl nur an Sofortmassnahmen eher polizeirechtlicher Art gedacht, so wurde diese Bestimmung schon vom ersten Reichspräsidenten dazu benutzt, faktische Gesetze unter Umgehung des Reichstags und des Reichsrates zu erlassen.
Für sich betrachtet stellte jedes dieser Sonderrechte keine Gefahr für den Staat dar, zusammengenommen konnten sie allerdings zu dem führen, was gegen Ende der Weimarer Ära auch tatsächlich eintrat: zur Präsidialdiktatur.
Der Reichspräsident setze eine willfährige Regierung ein, löste den Reichstag auf, bevor dieser ein Misstrauensvotum beschliessen konnte, verfügte faktische Gesetze als Notverordnungen und liess nach dem Widerzusammentritt des neugewählten Reichstages die alte Regierung "geschäftsführend" im Amt, ohne eine neue zu ernennen. Eine "geschäftsführende" Regierung konnte der Reichstag allerdings nicht durch Misstrauensvotum stürzen.

Wenden wir unser singuläres Kriterium auf die Weimarer Reichsverfassung an, dann ist diese zweifellos eines der parlamentarischsten Systeme der Welt gewesen. Immerhin war es unter fast keiner anderen Verfassung so leicht, ein Misstrauensvotum gegen die Regierung zu beschliessen. Allerdings werden wir uns dann bass erstaunt die Augen reiben, wenn wir entdecken, dass dieses System unmittelbar in eine Präsidialdiktatur und diese schliesslich in die absolute Diktatur mündete.

Vielleicht ist unser oben gewähltes Kriterium einfach nicht passend gewählt und gaukelt uns somit in diesem Fall etwas vor, was einfach nicht war. Wir könnten nun zum Beispiel das Weimarer System der Regierungsbestellung mit jenem der Bundesrepublik vergleichen, und schon erkennen wir einen wesentlichen Unterschied: Unter der Weimarer Verfassung ernannte der Reichspräsident schlicht einen Kanzler; dieser schlug seine Minister vor, die der Präsident ernannte. Danach stellte sich die Regierung in der Regel einer Vertrauensdebatte. Bei einer klaren Mehrheit im Reichstag war der Präsident gezwungen oder jedenfalls gut beraten, die Person zum Kanzler zu ernennen, die von der betreffenden Mehrheit bezeichnet wurde. Er musste dies allerdings nicht, sondern konnte eine andere Person erennen oder den einmal Ernannten bei Bedarf eigenmächtig absetzen.
Der deutsche Bundespräsident hingegen ernennt zwar auch den Kanzler und seine Minister, er kann allerdings keinen Kanzler ohne Mehrheitsbeschluss ernennen. Er schlägt dem Bundestag einen Kanzler nur vor, der Bundestag kann den Vorschlag allerdings zurückweisen. Tut er dies, kann er selbst einen Kanzler wählen, den der Präsident einsetzen muss. Auch später ist es jederzeit möglich, mit Mehrheit eine bestimmte Person zum Kanzler zu bestimmen, den der Präsident nicht eigenmächtig wieder absetzen kann. Der deutsche Bundestag hat also das verfassungsmässige Recht, eine bestimmte Person als Kanzler zu bezeichnen, der deutsche Reichstag konnte hingegen bloss eine bestimmte Person absetzen.
Wir könnten also unser singuläres Kriterium auch anders formulieren und z. B. sagen, ein parlamentarisches System sei ein solches, in dem das Parlament einen bestimmenden Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Regierung habe. Dann zeigt sich, dass dieser Einfluss unter der Weimarer Verfassung eben sehr begrenzt bis gar nicht vorhanden war. Ein System wie das der Schweiz, das nach dem Absetzungs-Kriterium kein parlamentarisches ist, wird dann flugs zu einem. Zweifellos ist auch die Bestimmung des Kanzlers durch den Bundestag ein bestimmender Einfluss auf die Regierung, somit auch Deutschland ein parlametarisches System. Bei anderen Staaten gilt entsprechendes.
Wenn wir das Kriterium so umformulieren, dann haben wir auch eine weitere Möglichkeit: Wir können nämlich auch graduelle Abstufungen ohne weiteres nach diesem Kriterium bemessen. So können wir etwa feststellen, dass der Einfluss in einem Staat, dessen Parlament die Regierung selbst wählt oder wenigstens den Regierungschef, gross ist, hingegen in einem Land wie Frankreich, das man eben gern als "semipräsidentiell" apostrophiert, je nach politischer Situation geringer. Dann können wir die komplexe Realität vereinfachend auf einer Geraden abbilden, deren Endpunkte keinen Einfluss des Parlaments auf die Zusammensetzung der Regierung und völligen Einfluss auf diese bezeichnen. Bei welchem Grad von Einfluss man dann von "parlamentarischem" System sprechen will, kann man immer noch nach Geschmack bestimmen.

Oder kurz gesagt: Es geht eben auch anders durchaus sinnvoll und brauchbar. Alleinseligmachende Kriterien gibt es, zumindest ausserhalb der Religionen, gewiss keine.
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zigzag
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 25. April 2010 - 00:06 Uhr:   

Bundespräsidentenwahl am 25.04.2010

Die Wahllokale schließen um 17:00 Uhr

http://de.wikipedia.org/wiki/Bundespr%C3%A4sidentenwahl_in_%C3%96sterreich_2010
http://en.wikipedia.org/wiki/Austrian_presidential_election,_2010
http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_wahlen/bundespraes/bpw_2010/start.aspx
http://orf.at/
http://www.sora.at/nc/news-presse/news/news-einzelansicht/news/infos-zur-wahl-am-254-371.html
http://derstandard.at/r1245669999350/Bundespraesidentschaft
http://www.oe24.at/
http://kurier.at/aktuellethemen/hofburg/
http://diepresse.com/home/politik/hofburgwahl/index.do
http://www.news.at/channels/13/main.shtml
http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/politik/bundespraesident/index.do
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Werner Fischer
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Veröffentlicht am Sonntag, 25. April 2010 - 01:44 Uhr:   

Und um 17:01 steht fest, dass Heinz Fischer gewinnt!
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zigzag
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 25. April 2010 - 17:05 Uhr:   

"Laut ORF-Hochrechnung von 17.00 Uhr entschied der amtierende Bundespräsident Heinz Fischer die Wahl wie erwartet mit 78,7 Prozent klar für sich. FPÖ-Kandidatin Barbara Rosenkranz kommt demnach auf 15,5, der Kandidat der Christlichen Partei Österreichs (CPÖ), Rudolf Gehring, auf 5,8 Prozent."

orf.at
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Thomas Frings
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 25. April 2010 - 17:22 Uhr:   

Interessant, dass Fischer in Vorarlberg mehr bekam als in der SPÖ-Hochburg Burgenland (81,1% gegenüber 79%). Krass auch der Unterschied in der Wahlbeteiligung: Burgenland 64,1%, Vorarlberg 34,3%. Im Burgenland sind aber 10,8% (!) ungültig. Offensichtlich ist eingroßer Teil der Wähler unzufrieden mit der Auswahl.
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zigzag
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 25. April 2010 - 19:54 Uhr:   

Vorläufiges Endergebnis, BundespräsidentInnenwahl 2010

KandidatIn


Vorl. Endergebnis (exkl. Briefwahl)

Heinz Fischer


78,9 %

Barbara Rosenkranz


15,6 %

Rudolf Gehring


5,4 %

Hochrechnung Wahlbeteiligung: 49,2 % (ca. 53,2 % inkl. Prognose Briefwahl)
Ungültige Stimmen: 7,3 %
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Wahlticker
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 25. April 2010 - 20:49 Uhr:   

@Thomas Frings: laut SPON hat die ÖVP dazu aufgerufen, leere Stimmzettel abzugeben. Das erklärt die hohen Anteile ungültiger Stimmen, allerdings war der Aufruf wohl nur mäßig erfolgreich.
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Thomas Frings
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 25. April 2010 - 22:19 Uhr:   

@Wahlticker
Die ÖVP hat offiziell gar nichts empfohlen, nur haben diverse ÖVP-Politiker, angekündigt, einen ungültigen Stimmzettel abzugeben.
Es gibt keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen Stärke der ÖVP in den Bundesländern und dem Anteil ungültigen Stimmen. Es gibt aber eindeutig die Tendenz, dass es da viele ungültige Stimmen gibt, wo die Wahlbeteiligung noch vergleichsweise hoch ist (Burgenland, Niederösterreich), und relativ wenig ungültige Stimmen, wo die Wahlbeteiligung besonders niedrig ist (Vorarlberg, Tirol). Das ist nicht sonderlich überraschend.
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Ratinger Linke
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Sonntag, 25. April 2010 - 22:56 Uhr:   

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frederic
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Sonntag, 25. April 2010 - 23:32 Uhr:   

Welcher taktischen Überlegung der ÖVP ist es eigentlich zu "verdanken", daß sie keinen eigenen Kandidaten aufstellte?
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Engel
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Sonntag, 25. April 2010 - 23:32 Uhr:   

Trotz der geringen Wahlbeteiligung hat Fischer interessanterweise absolut mehr Stimmen als 2004 errungen:

2010: 2.287.640
2004: 2.166.690

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