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Wahlrecht.de Forum » Tagesgeschehen » Wahlen, Abstimmungen usw. im europäischen Ausland » Schweiz – Nationalratswahlen » 1-25 « Zurück Weiter »

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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 29. November 2002 - 17:31 Uhr:   

Zum Start erst einmal der Beitrag von Joker, durch den ich auf dieses Thema aufmerksam wurde.
Da er ihn unter "Anregungen" gebracht hatte, wollte ich dort nicht weiterdiskutieren, das ist eine eigene Diskussion wert:

> Anregung an W. Zicht:
> In der Schweiz wird im Herbst 2003 ein neuer Nationalrat gewählt.
> Dazu existiert unter www.polittrends.ch/wahlen/wahlbarometer/
> eine Umfragesite mit aktuellen & zurückliegenden Zahlen
> der "Sonntagsfrage".

Das genannte Link führt zu einem sehr guten ausführlichen Artikel.
Sehr detailliert werden die Verschiebungen (laut Umfragen) in der Wählerschaft dargestellt.

Verschiebungen wohlgemerkt, die in Summe seit der letzten Wahl 1999 (!) nur 1-2% betragen.
Und die nach dem in der Schweiz üblichen Konkordanz-System überhaupt nicht zu faktischen Änderungen z. B. in der Regierung führen werden.

Als Deutscher ist man versucht zu fragen: "Ja wieso wählen die denn überhaupt?".
Jedenfalls ist für Außenstehende schwer nachvollziehbar, wie die Wahlergebnisse nun wirklich zu Akzentverschiebungen in der Schweizer Politik führen.
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Stefan
Veröffentlicht am Samstag, 30. November 2002 - 03:20 Uhr:   

Hallo!

Bei der genannten Umfrage fand ich besonders interessant (und auch auf BRD-Sicht ziemlich unverständlich), warum die Mehrheit der Befragten einen zweiten Sitz für die SVP ablehnt, obwohl sie ja nach der Logik des Systems eigentlich als stärkste Partei 2 Sitze im Bundesrat bekommen müßte. Ich kann das inhaltlich voll nachvollziehen, weil die SVP in weiten Teilen sehr weit rechts steht (um nicht den Ausdruck "Nazis" zu verwenden). Außerdem kann ich auch nicht verstehen, warum die Mehrheit der befragten die Beibehaltung der Konkordanzdemokratie befürwortet. Ich finde das System von Regierung und Opposition wesentlich besser, da so meiner Meinung nach der Mief schneller mal weggeblasen werden kann. Ich weiß, in der BRD funktioniert das ja auch nicht so ganz. Aber immer noch besser als in der Schweiz, finde ich.
Vielleicht kann hier ja mal ein Befürworter des Konkordanzsystems in der Schweiz erläutern, was die Vorteile davon sind.
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björn
Veröffentlicht am Samstag, 30. November 2002 - 11:01 Uhr:   

Ich glaube das Konkordanzsystem in der Schweiz kann nur funktionieren, weil die Volksentscheide einerseits eine sehr große Rolle spielen, andererseits die Schweiz wesentlich dezentraler organisiert ist.
Aber der Trend geht ja auch in der Schweiz in Richtung Polarisierung. Da wird man sehen, ob das K-System sich langfristig wird halten können.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Samstag, 30. November 2002 - 14:41 Uhr:   

Nun, die Konkordanz-Demokratie in der Schweiz ist ohne Exkurs in die Geschichte nicht verstehbar. Und davon haben leider nicht einmal die Schweizer selbst eine grosse Ahnung.
Der Schweizer Bundesstaat wurde 1847 durch Verfassungsbruch und einen Mini-Bürgerkrieg gegründet, nachdem der alte lockere Staatenbund sich als nicht mehr lebensfähig erwiesen hatte.
Seither besteht ein Dualismus zwischen Bund und Kantonen, der zu einem ausgeprägt dezentralen System politischer Kontrolle geführt hat. So gibt es z. B. nicht eigentlich nationale Wahlen, da die Wahlkreise immer nur die Kantone sind.
1848 regierten die nicht als Partei organisierten Radikalen (bzw. Liberalen, heute "Freisinnig-demokratische Partei" FDP, politisch nicht mit der deutschen FDP vergleichbar), die in den progressiven Kantonen grosse Mehrheiten hinter sich hatten, allein. Damals gab es weder Volksentscheide noch Parteienproporz u. dgl. Einzig eine starke Mitsprache der Kantone war gesichert. Diese kommt über den Ständerat (Kantonsvertreter) und die Einrichtung des Ständemehrs bei Verfassungsabstimmungen zu Stande. Die Standesstimmen beim Ständemehr wurden anfangs von den Kantonsregierungen oder -parlamenten abgegeben, in den Landsgemeindekantonen von den Landsgemeinden (Volksversammlungen), erst seit 1874 zählt das Ergebnis der Volksabstimmung in einem Kanton als Standesstimme. Die Bestellung der Vertreter im Ständerat ist bis heute Sache der Kantone, die Volkswahl der Vertreter bürgerte sich erst im Laufe der Zeit ein.
Hintergrund dieses Systems ist, dass der neu gegründete Bundesstaat zwei Probleme hatte: Den Gegensatz zwischen progressiven und konservativen Kantonen einerseits, anderseits die Vielfalt der Kantone, von denen einige französischer Sprache, einer italienischer Sprache, mehrere Kantone zweisprachig und einer sogar dreisprachig war. Neuenburg bildete ausserdem einen Teil der Schweiz und gehörte zugleich zu Preussen. Diese besondere Situation hätte zu einem forgesetzten Bürgerkrieg führen können, wenn man ihr nicht durch besondere verfassungsrechtliche Sicherungen begegnet wäre, und daran hat sich nicht so vieles geändert, zumindest die Mehrsprachigkeit verlangt auch heute noch ein Regieren mit Behutsamkeit und im Hinblick auf eine umfassende Annahme politischer Massnahmen in allen Landesteilen.
Verfassungsrechtlich ist es so, dass die Souveränität der Kantone bloss ruht, solange und soweit der Bund sie ausübt, ginge er unter, würden schlagartig wiederum 26 souveräne Staaten aufleben!

Trotzdem war es zunächst so, dass die Radikalen alleine regierten, geschützt durch Einerwahlkreise mit relativer Mehrheitswahl, Wahlkreisgeometrie usw. Alle Errungenschaften des heutigen politischen Systems ausser den Rechten der Kantone wurden in langen Auseinandersetzungen GEGEN den Freisinn errungen. Zuerst war es die Einführung des Referendumsrechts, dann die Einführung der Volksinitiative, sodann erfolgte die Aufnahme eines konservativen Vertreters in die Regierung, dann wurde das Verhältniswahlrecht für den Nationalrat eingeführt, was die Aufnahme weiterer konservativer Vertreter in die Regierung zur Folge hatte, bis schliesslich am Vorabend des 2. Weltkrieges eine Art "Frieden" unter den Parteien geschlossen wurde, da man die Notwendigkeit sah, sich zusammenzuraufen und den Zeitläuften mit Einigkeit und Kompromissen zu begegnen statt mit kräftezehrenden Kämpfen. Dieser Friedensschluss führte zur Aufnahme eines Sozialisten in die Regierung, nach dem Weltkrieg folgte später ein zweiter.
Es gab also eine Entwicklung von einer Regierung mit 1 Partei und 7 Vertretern der Radikalen (später Freisinn) zu einer Regierung mit 4 Parteien und 2 Vertretern des Freisinns. Diese Geschichte ist also eine Geschichte des Ringens unter Parteien um Beteiligung an der Macht, die ursprünglich nur einer gehört hatte.
Angesichts der Vorgeschichte und der komplexen dezentralen politischen Struktur des Landes ist eine Alternative dazu schwer vorstellbar. Ausserdem gibt es auch keine politische Blockadesituation in der Schweiz, die mit einem System von Regierung und Opposition überwunden werden könnte bzw. müsste. Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass immer dann, wenn eine grosse Partei übergangen wurde, Blockaden entstanden. Die Freisinnigen haben Ende des 19. Jahrhunderts den Konservativen keinen Sitz in der Regierung zugestanden, weil sie so grosszügig gewesen wären, sondern deshalb, weil sie politisch blockiert waren. Im Tagesgeschäft und bei Wahlen im Parlament konnten sie zwar allein bestimmen, aber in jeder Volksabstimmung, insbesondere bei Verfassungsvorlagen, scheiterten sie, wenn sie nicht mit den andern Parteien eine Kompromissvorlage ausarbeiteten.
Daran hat sich auch heute nicht viel geändert: Springt eine der heute in der Regierung vertretenen 4 Parteien vom gemeinsamen Zug ab, so wird es fast unmöglich, z. B. eine Steuervorlage zu beschliessen, die in der Volksabstimmung bestehen kann. Es gibt somit gar keine Alternative, wenn die politische Blockade vermieden werden soll. Ein System mit Regierung und Opposition ist unter diesen Voraussetzungen schlicht unbrauchbar.
Es gibt einen andern guten Grund dafür, das System nicht wesentlich zu verändern: Das Volk spielt immer wieder die Rolle des verantwortlichen Staatslenkers und bricht dabei auch schon mal verkrustete Strukturen auf oder überwindet politische Blockaden. Ein Beispiel: 1980 war die Landwirtschaft eine völlige Planwirtschaft, auf der ganzen Welt am höchsten subventioniert, auf die Bedrüfnisse der Nachfrage nicht ausgerichtet. In einer unerwarteten Volksentscheidung wurde der Wechsel eingeleitet, in einer Reihe weiterer Volksentscheidungen diktierte das Volk eine andere Richtung: Marktöffnung, Nischen- und Spezialitätenproduktion, Qualität statt Massenproduktion, naturnahe Landwirtschaft usw.
Früher als anderswo wurde der Umweltschutz durch einen spektakulären Volksentscheid sozusagen "über Nacht" verankert. Erst neustens hat das Volk in einer Reihe von Abstimmungen den Zeitgeist der Neunzigerjahre und die Ideologie des Neoliberalismus begraben.
Es gibt somit keine politische Blockade, die Reformen behindern oder verhindern würde, die mit einem andern politischen System überwunden werden könnten. Im Gegenteil hat sich gezeigt, dass das Volk oft genug progressiver denkt als seine gewählten Vertreter.
Ich vermute sogar, dass es in Deutschland z. B. bei der Rentensicherung ähnlich aussehen würde, wenn das Volk entscheiden könnte statt seiner gewählten Vertreter.

Was nun die Rechenspiele um die SVP angeht, so ist dazu folgendes zu sagen: Nach der Vorgeschichte ist klar, dass das System in der Schweiz auf Langfristigkeit angelegt ist. Der erste nicht-freisinnige Vertreter in der Regierung wurde nicht über Nacht gewählt, sondern nach zehn Jahren der Blockade. Auch jede spätere Veränderung der parteipolitischen Zusammensetzung kam erst, als feststand, dass die Verhältnisse so bleiben würden, wie sie nun einmal waren. Niemand bestreitet den Anspruch auf eine bessere Vetretung der SVP - sofern sicher ist, dass deren Stärke anhalten wird.
Einmal gewählt bleibt ein Mitglied der Regierung 8, 12, 10, ja 16 Jahre im Amt. Jetzt einen zweiten SVP-Vertreter zu wählen, wenn nicht feststeht, ob diese ihr Ergebnis von 1999 wiederholen kann oder nicht, erscheint daher fraglich.
Zudem ist die Rechnung der SVP einfach falsch. Die SVP ist nicht die stärkste Partei. Im Nationalrat hält die SP (sozialistische Partei) die meisten Sitze. Die SVP hat weniger Sitze, ihr ganzer Anspruch beruht darauf, dass sie die "wählerstärkste" Partei sei. Allerdings weiss niemand, wie man genau den Wähleranteil in einem System berechnet, das 26 Wahlkreise teilweise mit Mehrheitswahlrecht und überall unterschiedlich hoher Stimmnbeteiligung berechnet. Die entsprechenden Angaben sind im wesentlichen Schätzungen bzw. Hochrechnungen, aber keinesfalls sakrosankt. Daher hat man in der Vergangenheit einfach auf die Sitzzahlen abgestellt, die die Parteien im Parlament haben.
Nun besteht aber eben das Parlament nicht allein aus dem Nationalrat, sondern auch aus dem Ständerat, der dem Nationalrat gleichgestellt ist. Und dort halten die beiden im Nationlrat starken Parteien SP und SVP nur wenige Sitze. Zählt man die Sitze aus beiden Räten zusammen, ist nach wie vor die FDP die stärkste Partei.
Die Regierung wird aber nun nicht vom Nationalrat gewählt, sondern zu den Wahlen vereinigen sich beide Räte zu einer gemeinsamen Versammlung, in der die Mehrheit aller Sitze entscheidet. Daher führt eine Rechnung gestützt auf den Nationalrat nur zu unsinnigen Ergebnissen.
Da in beiden Räten die Mehrheiten ungleich liegen, einmal SP und SVP, einmal FDP und CVP, ergibt sich auch daraus, dass ein anderes System als Kompromiss und Konkordanz ganz einfach nicht funktionieren kann. Man müsste dann schon den einen oder andern Rat abschaffen, die Volksrechte beschränken usw., was allerdings die Existenz des Bundesstaates selbst gefährden würde. Wie eingangs erwähnt, ist dieses Gebilde ja aus sehr verschiedenen Teilen zusammengesetzt. Die Beseitigung von Minderheitsschutzrechten würde z. B. von den französischsprachigen Teilen der Schweiz kaum akzeptiert, ein Austritt aus dem Bund wäre durchaus denkbar.
Daher denkt denn auch niemand ernsthaft daran, diese Grundlagen des Systems zu ändern. Solange diese aber gegeben sind, gibt es keine Alternative zu Kompromissen. Jedes wesentlich andere System könnte nur schlechter funktionieren.

Was haben aber nun Wahlen für einen Sinn? Wie erwähnt funktioniert das politische System in der Schweiz nach langfristigen Prinzipien. Wahlen sollen periodisch die Kräfteverhältnisse bestätigen bzw. Veränderungen sichtbar machen. Über 2, 3 oder mehr Wahlen hinweg können sich auch bleibende Veränderungen ergeben, die dann entsprechende Auswirkungen haben.
Das ist allerdings nur der eine Aspekt, der andere ist der, dass es keine nationalen Parteien gibt wie in Deutschland. Die Parteien wirken vor allem in den Kantonen, dort haben sie durchaus auch unterschiedliche Akzente. Je nach dem, in welchen Kantonen eine Partei besser oder schlechter abschneidet, werden auch andere politische Akzente gesetzt, kommen andere Köpfe nach oben und bringen andere politische Schwerpunkte ein. So gibt es den Zürcher Freisinn und den Luzerner Freisinn, die Zürcher SVP und die Berner SVP usw.
Solche innerparteilichen Verschiebungen sind meist interessanter und wichtiger als die weithin minimalen Verschiebungen zwischen den Parteien. Es handelt sich eben in der Schweiz um eine wesentlich verschiedene Art der Politik als in Deutschland. Wenn man so will, handelt es sich um eine wesentlich patronalere Art der Politik. Dabei gilt es aber zu berücksichtigen, dass die Schweiz nach ihrer Struktur eben wesentlich kleinräumiger ist und somit eher ein "Familienbetrieb" denn eine Massendemokratie wie die USA, Indien oder in gewisser Weise auch Deutschland (das wesentlich kleiner als die beiden andern Länder ist und somit nur bedingt eine "Massendemokratie").
Die Wahrheit ist eben die, dass es keine Politik ist, die unabhängig von dem Land funktioniert, in der sie stattfindet, weil eben jedes Land wieder verschieden ist.
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Kampa-Kumpel
Veröffentlicht am Samstag, 30. November 2002 - 21:12 Uhr:   

@Wälchli: Vielen Dank für den ungewöhnlich interessanten und informativen Beitrag. Wenn die Art der Politik in der Schweiz für Deutsche manchmal sehr fremd wirkt, so kann der Beitrag helfen, das zu ändern.
"Erst neustens hat das Volk in einer Reihe von Abstimmungen den Zeitgeist der Neunzigerjahre und die Ideologie des Neoliberalismus begraben." - Schön, daß sich wenigstens in der Schweiz durchsetzt, den Neoliberalismus als "Ideologie" zu bezeichnen. In Deutschland gibt es leider zu viele Parteien, Politiker und Meinungsmacher, die diese Ideologie zum Programm zur Lösung aller Gegenwarts- und Zukunftsprobleme erheben, während es niemand wagt, die im Volk vorhandene Mehrheit links von der Mitte bezüglich der sozialen Fragen kraftvoll aufzugreifen.
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Stefan der von oben, nicht der Monarchiebefürworter aus einer anderen Liste
Veröffentlicht am Sonntag, 01. Dezember 2002 - 04:21 Uhr:   

@ Phillip

Wow! Das ist mal eine spanende Darstellung der schweizerischen Politiklandschaft. Vielen Dank! Ich schließe mich meinem Vorschreiber an.

Aber einige Punkte möchte ich als Außenstehender doch noch einmal einwerfen:

1. Zumindest einige Politiker und Parteien in der Schweiz wollen den Beitritt zur EU. Ich denke, das wäre eigentlich auch ein naheliegender Schritt angesichts der politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der Schweiz und der EU. Aber wie sollte so etwas funktionieren? Mit dem momentanen System von Konkordanz- und Direktdemokratie stelle ich mir das schwierig vor. Ich denke, auch die EU muß noch viele Reformen durchmachen, bis sie das erreicht, was ich als unterstützenswertes politisches System bezeichnen würde. NIcht umsonst gibt es den Europäischen Konvent etc. Aber wenn bei quasi jedem Beschluß der EU-Kommission eine Blockade (hier meine ich das wirklich, Beispiele waren ja bereits Dänemark und Irland mit ihren vorsaubeutelten Referenden) durch die Schweizer drohen würde, weil es immer genügend Stimmen gegen "Die da in Brüssel" geben wird, wie sollte da eine kohärente Politik noch gemacht werden können?

2. Ich erkenne deine Argumente bzgl. Minderheitenschutz etc. in der Schweiz an. In gewissen Grenzen finde ich das gut und richtig. Aber ich halte es trotzdem für eine Blockade, wenn eine (einfache) Parlamentsmehrheit nicht zumindest Teile ihrer Forderungen durchsetzen kann, weil eine Minderheit alles blockieren kann. Gut, es gab noch nie in der Schweiz eine fortschrittliche linke Mehrheit. Aber wenn es sie jemals geben sollte, wär sie nutzlos, weil sie ihre Projekte nicht durchsetzen könnte. Mich persönlich würde es sehr frustrieren, wenn ich nicht einmal die theoretische Chance hätte, jemals politisch etwas durchzusetzen. In der BRD besteht wenigstens die theoretische Chance dazu, wenn ich die Mehrheit in Bundestag und Bundesrat bekomme. In Großbritannien brauche ich gar nur eine Mehrheit in einer Parlamentskammer, die auch noch leicht durch das Wahlsystem zu erreichen ist. Ich will nicht für das britische System reden. Aber ich finde zwischen den beiden Extremen CH und GB müßte es einen Mittelweg geben.

3. Ich bezweifle deine Aussage, daß die Stimmenanteile der Parteien nicht exakt errechnet werden können. Selbst bei der sogenannten Majorzwahl kann man die meisten Kandidaten einer Partei zuordnen, auch in einem der Appenzell, wo Parteien wohl verboten sind. Denn spätestens im Plenum werden sie sich einer Fraktion anschließen. Und so gesehen ist halt die SVP haarscharf vor der SP und damit stärkste Partei.

4. Macht es wirklich Sinn, ein so radikales System von Volksentscheiden etc. beizubehalten? Macht ein parlamentarisches System ncht mehr Sinn. Auch für ein so strukturiertes Land wie die Schweiz? Volksentscheide als Notbremse finde ich okay. Aber Abstimmungen über jeden "Pippifax", finde ich relativ problematisch. Das gilt insbesondere, wenn durch die im Schnitt 4 Mal im Jahr stattfindenden Abstimmungen die Wahl- und Stimmmüdigkeit immer mehr zunimmt und die Schweiz so heute eines der Länder mit der geringsten Wahlbeteiligung ist (40 bis 50%, wenn ich richtig informiert bin). Sicher kann man über Wahlenthaltungen streiten, wie relevant sie sind etc. Ich verteidige auch teilweise Wahlergebnisse von Wahlen bei denen sich ca. 10% der Wahlberechtigten beteiligen als demokratisch legitimiert. Aber gerade in punktuell wirksamen Volksentscheiden finde ich das problematisch, da es so nur einen etwas pervertierten Minderheitenschutz gibt.

5. Die sehr stark föderal bzw. dezentral strukturierte politische Landschaft der Schweiz finde ich klasse. Aber ich frage mich, ob nicht die Zusammenlegung von "Zwergkantonen" wie rund um den Vierwaldstätter See oder die Appenzell nicht angesichts der immer großräumiger werdenden Problemen Sinn macht. Klar, Traditionen halten sich wie Kellerasseln. Sie sind einfach nicht kaputtzukriegen. Ich habe mich gerade in den letzten Wochen eingehend mit den Gebietsreformen in der BRD in den 60er und 70er Jahren im Westen und seit Mitte der 90er Jahre im Osten beschäftigt. Selbst heute wirken die alten Traditionen vor Ort noch nach, obwohl es die "Objekte der Begierde" z.T. schon seit 25 oder 30 Jahren nicht mehr gibt. Aber macht es nicht Sinn, einen massiven Versuch zur Vereinfachung der Kantonalstrukturen in der Schweiz zu schaffen. Dann könnten die (größeren) Kantone die Aufgaben auch besser wahrnehmen. Heute hat halt ein Kanton wie Appenzell-Innerrhoden mit 6000 Einwohnern (ich verwechsle immer die beiden Appenzell, hoffe aber den richtigen hier genannt zu haben) weniger Möglichkeiten, seine Aufgaben adäquat wahrzunehmen als der Kanton Zürich mit 800.000 oder mehr Einwohnern. Hier wirkt sich die direkte Demokratie meiner Meinung nach kontraproduktiv aus. Dadurch würde sich vielleicht auch ein wenig das auflösen, was ich als Aussenstehender bei der Betrachtung der kantonalen Wahlergebnisse beobachtet habe. Nämlich der (Zufall oder doch eher bewußte) Vorgang, daß in den kleinen Kantonen offenbar die Ämter in der Familie weitergegeben werden. Man kann das ja auch oft in kleinen deutschen Kommunen beobachten (oder auch in demokratiemäßigen Entwicklungsländern wie den USA...), daß der Bürgermeister immer den selben Nachnamen, aber wechselnde Vornamen hat.

6. Als letzte Anmerkung: Auch z.B. ein Land wie Finnland hat es ohne diese typisch schweizerische Form der Demokratie geschafft, die Interessen der Finnen, Finnlandschweden und der Samit (Lappen) unter einen Hut zu bringen. Die Einwohnerzahl ist dort relativ vergleichbar, allerdings bei einer wesentlich größeren Fläche. Ich halte also die Aussage, daß nur dieses System die Lösung für die meisten Probleme ist, für diskussionswürdig.

Mich würd deine Meinung zu diesen Punkten mal interessieren. Denn diese Punkte sind mir bisher noch nicht klar geworden an deiner sonst sehr informativen Darstellung.
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Sole
Veröffentlicht am Sonntag, 01. Dezember 2002 - 10:36 Uhr:   

Die Finnen haben aber auch keine gleichsprachigen Nachbarvölker, denen sie sich anzuschließen drohen wenn der Verbund kaputtgeht. Zumal die Union von Kalmar und dergleichen nun wirklich uralte geschichte und überhaupt nicht mehr denkbar sind.

In der Schweiz dagegen wäre ein Ausscheiden der französischen oder deutschen Teile in einer wirklichen Konfliktsituation denkbar.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Sonntag, 01. Dezember 2002 - 11:09 Uhr:   

Philipp Wälchli hat das noch viel besser und ausführlicher erklärt, als ich mir das bei meiner Fragestellung oben je erhofft hätte.
Einen Teil davon kannte ich schon, aber in den Details ist das noch viel spannender und vielseitiger, als man das von außen wahrnehmen kann.

Bei der Bewertung muß man sich von einigen gewohnten Kriterien verabschieden und sich auf das Ergebnis konzentrieren. Und da bleibt festzustellen: Es funktioniert, und es funktioniert sehr gut.
Und die Resultate der Schweizer Politik scheinen wesentlich besser zu sein als die von fast jedem anderen politischen System in Europa.

Man sollte daher als Deutscher eher mal die Chance nutzen und sich an die eigene Nase fassen und die eigenen Dogmen überprüfen.

Ist es wirklich so, daß eine "durchsetzungsfähige" Mehrheit besser arbeiten kann als eine auf Konsens angewiesene?
Sind kleine Einheiten (z. B. Mini-Kantone) wirklich "leistungsschwächer" als große?
Sind niedrige Wahlbeteiligungen (z. B. bei Volksabstimmungen) wirklich ein Problem?


Gerade bei der Durchsetzbarkeit sollten wir doch aus eigenen aktuellen Erfahrungen in Deutschland sehr skeptisch sein.
Da ist doch im Kern ein noch sehr obrigkeits-fixiertes Politik-Verständnis: Die Regierung als höheres Wesen, das die Richtigkeit irgendeiner Sache besser erkannt hat als der Rest, und nur bei ungestörter und vollständiger Durchsetzung dieser Maßnahme entfalten sich die segensreichen Wirkungen.

Mal abgesehen davon, daß dieser Vorstellung trotz der demokratischen Legitimierung dieser Regierung ein eher undemokratisches Verständnis vom Verhältnis Regierung-Volk zugrunde liegt: In der Realität funktioniert das doch eher anders.
Da wird etwas durchgepeitscht, was die Chef-Ideologen der jeweiligen Regierung für richtig halten.
Die bei jeder Gesetzesvorlage meist nötigen praxisrelevanten Verbesserungsvorschläge werden abgeblockt, weil "Durchsetzungsfähigkeit" ein Wert ist und die Korrektur eigener Fehler als Schwächeingeständnis einer Regierung gilt.
Die Mehrheit im Volk ist oft noch lange nicht so von der Richtigkeit überzeugt wie die Chef-Ideologen.
Was dann dazu führt, daß die Maßnahme entweder in der Praxis scheitert oder wieder gekippt wird, weil die nächsten Wahlen schiefgehen.

Es ist doch bezeichnend für die deutsche Politik, daß immer wieder zu hören ist, diese oder jene "richtige" Maßnahme wäre derzeit nicht beschließbar, weil das Stimmen bei der nächsten Landtagswahl kosten würde.
Das ist doch ein entlarvendes Politikverständnis.
Das bedeutet doch, daß man im Prinzip gegen das Volk regieren möchte, weil man ihm nicht zutraut, die Richtigkeit der Maßnahmen zu begreifen.


In der Schweiz geht das halt überhaupt nicht.
Da wird eine Maßnahme erst möglich, wenn auch wirklich eine (breite) Mehrheit davon inhaltlich überzeugt ist.
Und in der Praxis zeigt sich, daß die Leute weder zu doof sind, die Genialität irgendwelcher notwendiger Maßnahmen zu begreifen noch der gesamte Veränderungsprozeß so viel langsamer ist.
Eine Einzelmaßnahme mag vielleicht länger brauchen. Aber sie ist dann auch akzeptiert, sie ist qualitativ ausgereift ohne dauernden Nachbesserungsbedarf.
Und das Reformtempo insgesamt scheint eher höher zu sein als Ländern wie D oder GB, in denen theoretisch das System eine ganz tolle Schnelligkeit erlaubt, sich dann aber in der Praxis die Verhinderungs-Lobbys durchsetzen.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Sonntag, 01. Dezember 2002 - 12:00 Uhr:   

Nur ein paar Nachträge:

1.) Schweiz und EU: Die Beitrittsdiskussion scheint zur Zeit vom Tisch. Und "zur Zeit" heisst in der Schweiz durchaus 5-10 Jahre.
Klar ist aber, dass ein Beitritt zur EU auch Veränderungen bei den Volksrechten nach sich ziehen müsste. Die wohl zukunftsträchtigste Lösung ist jene, dass EU-Entscheide nicht der Volksabstimmung unterliegen, aber dass das Volk die Möglichkeit erhielte, Aufträge an die Delegierten in EU-Gremien zu beschliessen.
Indessen ist das im Augenblick bloss theoretische Spielerei, weil eben ein Beitritt vorerst höchst unwahrscheinlich bleibt. (Und wenn die EU in Sachen Zinsbesteuerung und Informationsaustausch weitermacht wie bisher, wird sie auch noch die letzten Befürworter eines Beitritts gegen sich aufbringen können.)
2.) Parlament und Volksrechte: In Tat und Wahrheit verhält es sich so, dass nach Meinung vieler Schweizerinnen und Schweizer die Volksrechte zu wenig ausgebaut sind. Auf Stufe der Kantone und Gemeinden sind diese allgemein viel stärker und umfassender. In zahlreichen Gemeinden beschliesst z. B. das Volk über den jährlichen Voranschlag. Rein statistisch betrachtet lässt sich im übrigen nicht behaupten, dass dabei schlechtere Politik gemacht werde als anderswo. Es gibt diese Theorie, dass in einem Parlament diskutiert und schliesslich die beste Lösung gefunden werde. Ich neige nicht zu diesem Glauben. Statistisch ist erhoben worden, dass es einen ganz klaren Zusammenhang zwischen ökonomischen Indikatoren und Volksrechten gibt: Wo die Volksrechte stark sind, sind die ökonomischen Zahlen besser, sind die öffentlichen Finanzen im Lot und die Steuern tiefer. Das geht übrigens aus Erhebungen hervor, die nicht allein in der Schweiz, sondern z. B. auch in den USA und Deutschland (Bundesstaaten bzw. -länder mit und ohne Volksentscheide) gemacht wurden.
Was nun die Rollenteilung von Volk und Parlament angeht, so zeigt sich, dass die bürgerlichen Parteien eher über das Parlament agieren und ihre Ziele zu erreichen suchen, Linke und Grüne eher über Volksinitiativen. Hinzu kommt noch die äusserste Rechte, die insgesamt betrachtet die meiste Zeit über marginal war. Auch sie operiert mit Volksinitiativen, wenn auch weniger erfolgreich als die Linke. Seit den späten 60er-Jahren hat es z. B. zahlreiche Intitiativen aus dem rechten äusseren Lager gegeben, die sich gegen "Überfremdung", später gegen "Asylmissbrauch" und "Migrantentum" richteten, doch keine davon hatte Erfolg. Die Linke und noch mehr die Grünen haben allerdings durch Initiativen einen erheblichen Teil ihrer Forderungen durchsetzen können. Dies beginnt mit der Inititative zur Einführung der Verhältniswahl zum Nationalrat 1918 und gipfelte in der sog. Rothenturm-Initiative, mit der plötzlich der Umweltschutz gleichsam aus dem Hinterhalt zum Politikum ersten Ranges wurde.
Die Linke hat zwar in der Schweiz nie regiert, aber dank der Volksrechte hat sie eine erhebliche Erfolgsbilanz vorzuweisen. Die Volksrechte machten es nämlich möglich, dass Teile der Bevölkerung, die im Parlament nicht vertreten waren oder übergangen wurden, ihre Anliegen in den politischen Prozess einbringen konnten - und dies durchaus erfolgreich.
Je nach Optik kann man nun sagen, die Volksrechte würden "bremsen" oder "Sand ins Getriebe streuen", oder aber, sie seien ein "Korrektiv" und bewahrten vor "blinden Flecken".
3.) Es ist klar, dass in einem System, das öfter und differenzierter Gelegenheit bietet, sich am politischen Entscheidungsprozess zu beteiligen, die einzelnen Entscheide als "weniger wichtig" erscheinen und die Wahl- und Stimmbeteiligung sinkt. Allerdings sollte man dies nicht überbewerten: Im Zürich der Zeit von 1830 gab es keine Volksentscheide, gewählt wurde ausschliesslich das Parlament, das ausser bei einer Totalrevision der Verfassung allmächtig war, und zwar wurde in Einer-Wahlkreisen mit dem relativen Mehr gewählt, wobei die Wahlkreise von den Freisinnigen so gezogen wurden, dass jede Aussicht auf Erfolg anderer Parteien so gering als möglich blieb. Die Stimmbeteiligung betrug damals im Schnitt etwa 6%, und dies ohne Frauenwahlrecht, ohne Stimmrecht der 18-Jährigen, mit Ausschluss von Fürsorgeempfängern, gewisser vom Staat "abhängiger" Beamter usw. Offensichtlich lag die tiefe Beteiligung damals daran, dass sich die grosse Mehrheit derer, die überhaupt wählen durften, gar keine reale Erfolgschance ausrechnete. Die Stimmbeteiligung stieg denn auch sprunghaft an, nachdem dieses System geändert worden war und erstmals eine grössere Zahl oppositioneller Abgeordneter gewählt wurde.
Was nun die Situation heute angeht, so zeigt sich, dass in den letzten Jahren die Beteiligung eher gestiegen ist. Dmpelte sie noch vor zehn Jahren gegen 35% und schien noch tiefer abzusacken, so stieg sie seither wieder auf über 40% im Schnitt und lag z. B. am 22. November landesweit bei 47%, in zahlreichen, namentlich auch grossen Kantonen über 50%.
Untersuchungen haben übrigens einige interessante Beobachtungen ergeben: So wurde festgestellt, dass es eine Art Selbstzensur gibt: Wer glaubt, eine Vorlage nicht zu verstehen oder nicht richtig einschätzen zu können, stimmt eher nicht. Ferner gibt es auch die Erscheinung, dass die gleichen Leute einmal teilnehmen, ein anderes Mal nicht. Rechnet man versuchsweise jene zusammen, die im Lauf eines Jahres an einer Wahl oder Abstimmung teilnehmen, so steigt der Wert deutlich. D. h. dass die Zahl politisch aktiver Bürger nicht unbedingt geringer ist als in andern Ländern, dass sie aber die Gelegenheiten, bei denen sie sich politisch betätigen, gezielter aussuchen.
Eine weitere Beobachtung ist jene, dass es nicht unbedingt darauf ankommt, wie sehr die Volksrechte ausgebaut sind. In manchen Kantonen finden z. B. deutlich weniger Abstimmungen statt als in andern. In einigen Kantonen unterstehen schlichtweg alle Gesetze der Volksabstimmung, in andern unerliegen nur jene Gesetze der Abstimmung, bei denen es eine bestimmte Anzahl Bürger verlangt hat. Kantone mit obligatorischer Volksabstimmung über Gesetze bringen zwar öfter sehr tiefe Stimmbeteiligungen hervor, wenn es sich um reine "Pflichtübungen" handelt, indessen ändert dies an der Stimmbeteiligung bei Abstimmungen und Wahlen im Bund nichts. Eigenartigerweise schneiden Kantone, die weniger Abstimmungen kennen, nicht besser ab, sondern weisen sogar öfter tiefere Beteiligungen bei Wahlen und Abstimmungen auf Bundesebene auf als andere Kantone, in denen laufend Abstimmungen stattfinden.
Damit lässt sich eine Beobachtung aus den USA vergleichen: Seit die Administration Clinton Erleichterungen bei der Einschreibung in die Stimmregister eingeführt hat, ist die Beteiligung an den Wahlen nicht gestiegen, bei den letzten Wahlen im November war sie sogar im Schnitt eher schlecht.
Das bedeutet vermutlich, dass die Höhe der Beteiligung eher mit gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren zusammenhängt als mit den Formalien der Stimmabgabe u. dgl.
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Stefan
Veröffentlicht am Mittwoch, 18. Dezember 2002 - 01:13 Uhr:   

Hallo!
Ich habe gerade entdeckt, daß im tschechischen Senat eine Partei mit 2 von 81 Sitzen vertreten ist, die sich als oberstes (und einziges???) Wahlziel die Einführung der direkten Demokratie, "wie in der Schweiz", in Tschechien fordert. Der Name der Partei ist Cesta Zmeny, CZ (= "Pfad des Wechsels") und die englischsprachige Homepage ist zu finden unter www.cestazmeny.net. Die tschechische Homepage ist zu finden unter www.cestazmeny.cz.
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Ruedi Lais
Veröffentlicht am Mittwoch, 15. Oktober 2003 - 13:20 Uhr:   

Eidgenössische Wahlen 19.10.2003: Links für den Wahlsonntag

Am Sonntag führen die folgenden Links zu den aktuellen Hochrechnungen und Resultaten:

http://www.003.ch/003/projections003.nsf
http://www.ch03.ch (hier auch alle Meldungen im Vorfeld der Wahlen)

Die Resultate aus den Kantonen werden zwischen Sonntag 13 Uhr und Montag 8 Uhr eintreffen und vom Statistischen Amt unter
http://www.politik-stat.ch veröffentlicht.

Gewählt werden 200 Mitglieder des Nationalrats in allen 26 Kantonen und 20 Mitglieder des Ständerats in 22 Kantonen. 5 Mitglieder des Ständerates wurden bereits früher gewählt, und 1 Mitglied wurde "in stiller Wahl" (unbestritten) bereits bestätigt.

Ruedi
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Ruedi Lais
Veröffentlicht am Mittwoch, 15. Oktober 2003 - 13:21 Uhr:   

Korrektur: es sollte natürlich heissen 40 Mitglieder des Ständerats in 22 Kantonen. Sorry, Ruedi
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Mittwoch, 15. Oktober 2003 - 15:37 Uhr:   

Gibt es in der Schweiz überhaupt noch Kantone, die konventionell an der Urne wählen?

Bei der Wahl dürfte ja vor allem interessieren, wie stark die SVP wird. In einigen Kantonen steht ein Sitzgewinn ja so gut wie fest (Basel-Stadt und -Land, Freiburg, Genf, Wallis, Solothurn) und selbst im Tessin könnte es reichen, in Zürich hat sie aber wohl das Maximum schon erreicht. Wenn es für die CVP ganz schlimm kommt, kriegt sie nicht mal halb so viele Sitze wie die SVP. Die CVP scheint mir auch viele wacklige Sitze zu haben: In den Kantonen Aargau, Bern, Genf, Luzern, Solothurn, St. Gallen, Waadt und Zürich steht je ein Sitz auf der Kippe. Auch für die FDP sieht es nicht toll aus, nur in Tessin ist ein Sitzgewinn denkbar.
Die Linksparteien haben bei den kantonalen Wahlen der letzten Jahre durchwachsen abgeschnitten, zuletzt ging es aber im wichtigsten Kanton Zürich kräftig aufwärts. Die Linke wird wohl minimal zulegen.

Im Ständerat werden die Verschiebungen wohl wie in der Vergangenheit gering sein und die deutliche "mittige" Mehrheit aus FDP und CVP bleibt wohl leicht geschwächt erhalten.

Spannender als die Wahl selbst wird aber die Frage, wie lange die Zauberformel noch hält.
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Ruedi Lais
Veröffentlicht am Mittwoch, 15. Oktober 2003 - 16:04 Uhr:   

@Thomas

Alle Kantone wählen an der Urne. Die einzige Ausnahme ist das Ständeratsmitglied des Kantons Appenzell Innerrhoden, das an der Landsgemeinde (Volksversammlung) im April gewählt wurde.
Allerdings wählen in städtischen Gebieten bereits zwischen 80 und 95% der Wählerschaft brieflich, ab der 5.letzten Woche vor der Wahl.

Deine Prognosen teile ich zum grossen Teil. Einzig der SVP-Sitzgewinn in Basel-Stadt ist ausgeschlossen, dieser Kanton fällt von 6 auf 5 Sitze zurück, da müsste die SVP von 13 auf ca. 25% zulegen. Die meisten Prognosen gehen dahin, dass die FDP eher mehr Sitze verlieren wird als die CVP. Auf der linken Seite sind einige Sitzgewinne der Grünen zu erwarten (Zürich, Aargau, Waadt, Chancen auch in Bern, Thurgau, Genf).

Zur Zauberformel (Zusammensetzung des Bundesrates im Verhältnis 2:2:2:1 aus FDP:CVP:SP:SVP), welche seit 1959 unverändert ist: Seit 1848 wurde noch nie ein Bundesrats-(Regierungs-) mitglied im Parlament abgewählt. Die heutige CVP brauchte 70, die SP 40 Jahre, bis sie ihrer Stärke entsprechend vertreten waren.

Ruedi

Ruedi
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Mittwoch, 15. Oktober 2003 - 16:50 Uhr:   

@ Ruedi
Ja, das mit Basel-Stadt war ein Versehen.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Freitag, 07. November 2003 - 14:19 Uhr:   

Scheint tatsächlich so zu kommen, daß zum ersten mal seit 1872 ein Bundesrat abgewählt wird. Die Wahl von Blocher scheint ziemlich sicher, ergo muß einer raus. Daß die CVP ihre beiden Sitze auf Kosten des Freisinns (wo ein Bundesrat nicht mehr antritt) halten kann, ist unwahrscheinlich. Taktisch nicht unwichtig dürfte wohl sein, in welcher Reihenfolge die Bundesräte zur Wiederwahl bzw. Neuwahl anstehen. Gibt es da irgendeine Regel oder eine Konvention?
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Sonntag, 09. November 2003 - 17:44 Uhr:   

Ausgemacht ist zur Zeit rein gar nichts. Das Ergebnis der Wahl wird man frühestens am 10. Dezember kennen (falls nicht die Bundesversammlung unvorhergesehenerweise vertagen sollte).
Zuerst einmal eine Klarstellung: Bisher ist immer sehr viel vom Nationalrat die Rede, aber dieser ist NICHT Wahlorgan. Wahlorgan ist die Bundesversammlung aus National- und Ständerat. Die Zusammensetzung des Ständerates wird aber erst heute definitiv, da noch Wahlgänge in 4 Kantonen heute anstehen. Nach den bereits bekannten Ergebnissen verliert die FDP einen Sitz in Neuenburg an die SP, in Freiburg gewinnt ebenfalls die SP einen Sitz und in Schwyz verliert die FDP einen Sitz an die SVP. In der Waadt führt der Mann der SP zur Zeit vor der Frau der FDP, aber die Zahlen können sich noch so verschieben, dass zumindest der zweite Platz noch überrundet wird. Im Augenblick scheint es also, dass die SP im Ständerat auf 3 zusätzliche Sitze kommt und somit 9, die SVP bloss 1 gewinnt und 8 hält, im übrigen aber die Stärke insbesondere der CVP im Ständerat unverändert bleibt. SP und SVP werden somit praktisch gleich stark mit 1 Sitz Unterschied, wenn Nationalrats- und Ständeratssitze zusammengezählt werden.
Rein rechnerisch wäre also eine Koalition von SP und SVP am erfolgreichsten, da sie zusammen in Nationalrat und Bundesversammlung eine Mehrheit hätte; angesichts der gegensätzlichen Haltungen ist es allerdings höchst unwahrscheinlich, dass sie sich demnächst auf etwas einigen könnten.
Nun wird es aber schwierig, ohne beide Fraktionen eine Mehrheit zu finden. Eine nur linke oder nur rechte Mehrheit wird immer knapp, weil die Mitte jetzt ausgedünnt ist.
Zu den bekannten Haltungen kann derzeit folgendes gesagt werden:
Die SP hat sich darauf festgelegt, Blocher nicht zu unterstützen; anderseits hat sie anerkannt, dass der SVP rein rechnerisch ein zweiter Sitz zustünde. Sie hat sich allerdings auch darauf festgelegt, dass es nicht an ihr sei zu bestimmen, wie dies geschehen solle. Sie verlangt ferner einen Doppelvorschlag für den zweiten SVP-Sitz, nicht eine Einzelkandidatur. (Dazu muss bemerkt werden, dass die SP seit langem immer Doppelvorschläge macht.) Was das nun konkret bedeutet, ist unklar. Die SP kann z. B. sich der Stimme enthalten, was Blochers Wahl erleichtern würde; nach den übrigen Punkten ihrer Haltung könnte sie aber auch einen (inoffiziellen) andern SVp-Kandidaten unterstützen, wodurch das absolute Mehr hoch bleibt.
Die Grünen (neu mit 13 Sitzen und ungefähr halb so stark wie die CVP) haben sich darauf festgelegt, Blochers Wahl nicht zu unterstützen; sie werden sich vermutlich auch nicht der Stimme enthalten. Ferner halten sie eine eigene Kandidatur bereit, falls sich die SVP zurückziehen sollte.
Die CVP hält an ihren beiden Bisherigen fest und hat noch kein Signal dafür gegeben, dass sie irgendwie kompromissbereit wäre. Es ist unwahrscheinlich, dass die CVP auch nur eine einzige Stimme an Blocher gibt oder sich der Stimme enthält oder sonstwie die SVP unterstützt.
Somit ergibt sich, dass schon ein sehr hoher Anteil aller Stimmen der Bundesversammlung nicht für Blocher und sehr wahrscheinlich auch nicht für einen zweiten SVP-Sitz abgegeben wird. Es ist anzunehmen, dass angesichts der Brisanz der Lage alle 246 Stimmen am 10. Dezember vertreten sein werden. 124 Stimmen sind erforderlich, falls niemand leer oder ungültig stimmt. Mindestens 100 Stimmen sind klar gegen Blocher, vermutlich auch gegen einen zweiten SVP-Sitz. Sicher hat die SVP eigentlich nur ihre eigenen ca. 62 Stimmen. (Die Ergebnisse der Ständeratswahlen von heute müssen noch abgewartet werden.)
Unklar ist, wie die FDP sich verhalten wird. Ein geschlossenes Bild zeigt sie seit den Nationalratswahlen nicht mehr. Zumindest einige werden offenbar Blocher stimmen und sich für einen zweiten SVP-Sitz stark machen. Andere scheinen dies eher für schädlich für die eigene Partei zu halten. Unklarheit herrscht auch darüber, wie sich die FDP einen solchen Sitzwechsel vorstellt, wem sie diesen wegnehmen will.
Unklar ist auch, wie sich die SVP im Ernstfall verhalten wird. Die bisher immer wiederholte Position ist: Blocher ist unser einziger Kandidat für einen zweiten Sitz. Gibt es keinen zweiten Sitz und gibt es nicht Blocher, gehen wir in die Opposition. Es ist aber nicht abzusehen, ob die SVP diese Drohung wahrmachen wird, es ist auch nicht abzusehen, ob der bisherige SVP-Vertreter im Bundesrat zurücktreten wird und wie ein eventuell gewählter zweiter SVP-Vertreter, der nicht Blocher heisst, sich verhalten wird.
Kurz: Klar ist eigentlich noch lange nichts.

Was den Wahlvorgang betrifft, so gibt es dafür ganz klare Regeln:
Jeder Sitz im Bundesrat wird einzeln besetzt. Die Reihenfolge der Wahlen richtet sich nach der Amtsdauer. Frei werdende Sitze werden nach den Bestätigungswahlen der bisherigen Amtsinhaber am Schluss besetzt, wobei wiederum die Reihenfolge sich nach der Amtsdauer der scheidenden Amtsinhaber richtet.
Die Reihenfolge ist also (Irrtum vorbehalten): Leuenberger SP, Couchepin FDP, Deiss und Metzler CVP, Schmied SVP, Calmy-Rey SP und schliesslich die Ersatzwahl für Villiger FDP.
In dieser Reihenfolge ist die FDP als einzige verbliebene relativ starke Mittepartei natürlich besonders exponiert. Auch die SP muss sich auf Angriffe gegen den Sitz von Calmy-Rey an zweitletzter Stelle gefasst machen und überlegen, was sie ggf. tun will. Die CVP hat den Vorteil, dass ihre beiden Vertreter in der Mitte sind und dass deswegen die andern Parteien relativ früh Farbe bekennen müssen.
Zum Wahlakt selbst: Gewählt wird schriftlich. In den ersten Wahlgängen steht es jedem Mitglied der Bundesversammlung frei, einen Namen einer wählbaren Person auf den Stimmzettel zu schreiben. (Eine offizielle Kandidatur ist also nicht erforderlich; deshalb kann auch eine Person gewählt werden, die nicht von einer der Fraktionen offiziell vorgeschlagen worden ist.) Vom dritten Wahlgang an können keine neuen Namen mehr gewählt werden; solche Stimmen wären ungültig. In den weiteren Wahlgängen scheiden die Kandidaturen mit den wenigsten Stimmen nach und nach aus (genaue Regeln im Parlamentsgesetz), bis eine Person die Mehrheit der Stimmen erhält.
Die Mehrheit wird folgendermassen berechnet: Abgegebene Stimmzettel abzüglich leere und ungültige Stimmen (leer = Enthaltung, ungültige Stimmen kommen sehr selten vor), geteilt durch 2; die nächsthöhere ganze Zahl ist die erforderliche Mehrheit.
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Florian
Veröffentlicht am Sonntag, 09. November 2003 - 21:00 Uhr:   

@ P. Wälchli:
Danke für die sehr gute Analyse.

Dazu noch eine Frage:
Ist es denn wirklich wahrscheinlich dass die Koalitionsparteien es wirklich darauf ankommen lassen, was in der Bundesversammlung passiert?
Ich verstehe das doch richtig, dass Blocher wenn er antritt (wovon anscheinend auszugehen ist) und sofern der Konflikt nicht schon im Vorfeld gütig beigelegt wird (was zwar vielleicht gute Schweizer Tradition wäre, wonach es aber im Moment eher nicht aussieht) als Gegenkandidat gegen einen der beiden CVP-Bundesräte antritt, oder?

Das heißt, dass schon bei der Wahl des dritten oder vierten Bundesrates der entscheidende Punkt erreicht ist.

Ist denn nicht zu erwarten, dass schon vorab eine Strategie festgelegt wird, wie man sich hier verhalten wird?
Insbesondere auch die beiden am Konflikt nicht unmittelbar beteiligten Parteien FDP und SP werden sich doch festlegen müssen, ob sie im Konkfliktfall der CVP die Treue halten oder der SVP.
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Ruedi Lais
Veröffentlicht am Montag, 10. November 2003 - 01:58 Uhr:   

Mit der Niederlage bei den heutigen Ständeratswahlen (- 3 Sitze) läuft die FDP grössere Gefahr, dass der 2. SVP-Sitz zu ihren Lasten geht. Ihr 2. Sitz ist als einziger neu zu besetzen und kommt deshalb als 7. und letzter an die Reihe. Sie könnte die "Retourkutschen" aller Parteien sammeln.

Damit steigt auch die Chance, dass die FDP sich mit CVP und SP einigt, um den totalen Zufall bei der Wahl am 10.12.2003 zu verhindern. Denkbar ist ein Tausch: der FDP-Sitz geht an die CVP, bis der nächste Sitz der CVP frei wird (zB nach dem Präsidialjahr von Bundesrat Deiss 2005).
@Philipp: Die Wiederwahl von R. Metzler findet vor der Wiederwahl von J. Deiss statt, da Metzler 1999 eine Stunde vor Deiss gewählt wurde und damit "amtsälter" ist.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Montag, 10. November 2003 - 10:58 Uhr:   

Wie bereits bemerkt: Die SP hält sich alle Optionen offen, die CVP verteidigt bisher ihre beiden Sitze unnachgiebig, die FDP hat sich bisher nicht sonderlich klar geäussert.
Wenn dies nicht noch ändert oder wenn nicht (was so unüblich nicht wäre)eine geheime Übereinkunft besteht, dann wird sich letztlich die Sache in der Bundesversammlung am Wahltag entscheiden.
Sicher wird die SVP bereits beim dritten oder vierten Sitz angreifen. Sie kann aber auch versuchen, den zweiten SP-Sitz anzugreifen und schliesslich den zweiten FDP-Sitz am Schluss. Falls sie bei der dritten Wahl nicht Erfolg hat, wird sie gewiss bei der vierten und bei den folgenden Wahlen mit Ausnahme von Schmied von der SVP wieder angreifen.
Rein rechnerisch sind die Verhältnisse nun klar: Stimmt die CVP mit der Linken, dann ergibt sich eine Mehrheit von 125 Stimmen in der Bundesversammlung. Auch der Wahlgang im Tessin, bei dem die FDP und die CVP eventuell noch je 1 Ständeratssitz verlieren könnten, kann dies nicht mehr wesentlich verändern.
Wenn Links-Grün-Mitte (CVP) geschlossen stimmen, können sie Blocher und einen zweiten SVP-Sitz verhindern, letztlich irgendeine Zusammensetzung diktieren. Es wäre denkbar, dass man die FDP "gnadenhalber" drinlässt und anstelle des SVP-Sitzes eine grüne Kandidatur wählt. Das hiesse aber die eigene Macht unschweizerisch überspannen und wird daher wohl kaum ernsthaft Erwägung gezogen werden. Denkbar ist aber auch, dass ein Teil der CVP noch umkippt und mit der Rechten zusammen eine andere Lösung versucht, etwa einen SVP-Sitz auf Kosten der SP. (Dies würde allerdings die SVP-Ansprüche ad absurdum führen, wenn sie einen Sitz auf Kosten der einzigen Partei, die praktisch gleich stark ist wie sie selbst und dies auch sehr viel länger schon, zu holen gedenkt; das Argument der Parteienstärke wäre damit letztlich desavouiert.)
Im Augenblick lässt sich schwer sagen, wie das Ergebnis am Ende ausfallen wird. Vermutlich werden jetzt aber doch mindestens die FDP und die CVP und vermutlich auch die FDP und die SP zusammensitzen und eine Lösung diskutieren.
Eine naheliegende und anständige Lösung wäre, wie im vorangehenden Posting erwähnt, dass die FDP ihren zweiten Sitz an die SVP abtritt und beim nächsten Rücktritt von der CVP einen Sitz übernimmt.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Montag, 10. November 2003 - 12:27 Uhr:   

Wenn ich das richtig verstanden habe, wird das bisherige Konkordanz-Modell von zwei Seiten angegriffen: Von der CVP, die entgegen sehr klarer Veränderungen bei den Wahlergebnissen ihren zweiten Sitz nicht abgeben will, und von der SVP, die auf einem nicht konsensfähigen Kandidaten besteht.

Sollten beide Parteien bei dieser Haltung bleiben, ist das Modell doch gestorben. Und dann kann es doch nur eine "unschweizerische" Mehrheitsbildung geben, im Zweifelsfall durch Koalition gegen die SVP.

Ein Wahlausgang, der auf Kosten von SP oder FDP ginge, die beide sowohl beim Konkordanzmodell wie bei einer Koalitionslösung eigentlichn zwei Sitze sicher haben müßten, wäre doch nur bei groben Verhandlungsversagen bzw. chaotischem Abstimmungsverhalten möglich.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Montag, 10. November 2003 - 12:39 Uhr:   

Eine Koalition gegen die SVP ist praktisch schwer möglich wegen den dann noch häufigeren plebiszitären Störfeuern. Und die Bürgerlichen ( besonders die FDP) und SP haben vor allem wirtschaftspolitisch sehr verschiedene Vorstellungen. Eine Regierung ohne SP würde noch eher funktionieren, denn zwei Drittel der Schweizer sind konservativ. Aber auch diese Option bereitete große Probleme, denn die bürgerlichen Parteien sind sich oft alles andere als einig.

Es wäre auch strategisch für FDP und CVP besser, Blocher in die Regierung zu lassen. Wenn Blocher erst in der Regierung sitzt, kann die SVP ihren populistischen Kurs nicht mehr so leicht durchziehen. Der Aufstieg der SVP könnte so gestoppt und z.T. rückgängig gemacht werden.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Montag, 10. November 2003 - 13:45 Uhr:   

Ob SP oder SVP aus der Regierung zu werfen - beide Möglichkeiten bieten massive Probleme. Beide stellenm zusammen einen Wähleranteil von über 50%, beide sind nachweislich fähig, mit Referenden und Initiativen massives Störfeuer zu erzeugen; ferner hat sich gezeigt, dass wichtige Verfassungsvorlagen wie Steuervorlagen u. dgl. kaum durch die Volksabstimmung zu bringen sind, wenn auch nur eine der vier grossen Parteien ausschert. Auf die CVP zu verzichten dürfte ebenfalls nicht ohne Probleme abgehen; immerhin ist sie jetzt die stärkste Partei im Ständerat und nach wie vor in einer ganzen Anzahl Kantone gut verankert, was bei der Berechnung des Ständemehrs in Volksabstimmungen zu berücksichtigen wäre. Am ehesten liesse sich vermutlich die FDP übergehen.
Es lässt sich auch nicht behaupten, 3/4 der Schweizer seien konservativ. In manchen Kantonen halten sich bürgerliches und links-grünes Lager heute nahezu die Waage, bei Volksabstimmungen entscheidet das Volk öfter mal grüner, sozialer, liberaler und progressiver als das Parlament. Die Schweizer sind gewiss ein Volk, das vorschnellen Änderungen misstraut, nichts um des Änderns willen ändert und nicht jeden Modegag mitmacht; sie wollen in der Regel von einer Neuerung auch erst einmal überzeugt sein, bevor sie ihr zustimmen. Aber das sollte nicht mit einem Konservativismus traditioneller Prägung verwechselt werden.
Die Schweiz ist z. B. das Land mit dem höchsten Ausländeranteil Europas, mit der Weltwirtschaft so stark verflochten wie kaum ein anderes Land der Welt, führend im bargeldlosen Zahlungsverkehr, mit Mobiltelephonie und Internet so gut versorgt wie ausser Skandinavien und den USA kein Gebiet der Welt usw. Das sind nicht die Zeichen einer konservativen Gesellschaft.
Gerade in den Kernbereichen der traditionellen SVP-Haltung zeichnen sich im übrigen Erosionserscheinungen ab: UNO-Beitritt ist kein Thema mehr, EU-Beitritt ist für die nächsten Jahre ebenfalls vom Tisch und durch den Abschluss bilateraler Verträge aus der Diskussion, die Lage im Asylbereich ist so gut wie seit Jahren nicht mehr, Drogenproblematik ist weitestgehend entschärft. In diesen Bereichen dürfte sie in den kommenden Jahren kaum mehr punkten.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Freitag, 14. November 2003 - 10:55 Uhr:   

Ein Nachtrag: Inzwischen sind die 4 im Bundesrat vertretenen Parteien zusammengesessen und haben miteinander gesprochen. Die Verhandlungen und deren Ergebnisse sind aber geheim, die breite Öffentlichkeit wird wohl doch erst am 10. Dezember zu sehen bekommen, was daraus geworden ist.
Interessanterweise hat die SP-Präsidentin die Pressekonferenz fast allein bestritten, die Präsidenten der andern Parteien waren schweigsam (CVP), einsilbig (SVP) und emotional aufgewühlt (FDP), was vielleicht andeutet, dass die SP sich zur Zeit in der relativ komfortabelsten Position befindet, die CVP und die SVP von ihren Ansprüchen vielleicht doch etwas abzustecken gezwungen sein werden und die FDP mit ihrer Vorwärtsstrategie ebenfalls Federn lassen muss.
Eine denkbare Möglichkeit wäre, dass die CVP ihren zweiten Sitzanspruch offiziell fallen lassen muss, aber vorläufig beide behält, die FDP vorübergehend ihren zweiten Sitz der SVP abtritt und die SVP ihrerseits sich bequemen muss, mindestens eine Alternativkandidatur aufzustellen. Bei einem solchen Szenario hätten alle drei Parteien einigermassen gleichmässig nachgegeben.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Freitag, 14. November 2003 - 15:15 Uhr:   

Wenn man dem Volk in der Schweiz schon soviel zutraut, warum läßt man es dann nicht gleich auch den Bundesrat direkt wählen? Alle Kantonsregierungen werden direkt vom Volk gewählt, wenn auch mit unterschiedlichem Modus. Obwohl nur Zug und Tessin dort nach Verhältniswahl wählen wird überwiegend eine Art (mehr oder weniger)freiwilliger Proporz praktiziert. Da ist wenn überhaupt nur einer der Regierungssitze wirklich umkämpft. Auch die regionale Ausgewogenheit kriegt man in den mehrsprachigen Kantonen halbwegs hin.

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