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Gleichheit der Wahl

Wahlrecht.de Forum » Wahlsysteme und Wahlverfahren » Sitzzuteilungsverfahren: Hare/Niemeyer, d’Hondt etc. » Gleichheit der Wahl « Zurück Weiter »

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Wilko Zicht
Veröffentlicht am Freitag, 18. April 2003 - 19:22 Uhr:   

@Matthias

>Nur ganz kurz, bei den Wahlen zum Bundestag hat sich der
>Gesetzgeber für ein Verhältniswahlssystem entschieden
>(jedenfalls unbestritten bei der Oberverteilung der Mandate),
>damit wird der Grundsatz der Wahlgleichheit in Art. 38 GG zum
>Grundsatz der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen (nicht
>der Parteien), was außer bei der Sperrklausel unumstritten ist.

Das ist zwar herrschende Meinung, aber keineswegs unumstritten. Mir leuchtet das jedenfalls nicht ein. Begründet wird der angeblich unterschiedliche Inhalt der Wahlgleichheit bei Verhältnis- bzw. Mehrheitswahl ja meist damit, daß bei einer Personenwahl keine Erfolgswertgleichheit gewährleistet werden könne. Nun ist aber ja Verhältniswahl und Personenwahl kein Widerspruch (z.B. STV). Von daher ist nicht einzusehen, warum für Verhältniswahlsysteme andere Gleichheits-Anforderungen gelten sollen als für Mehrheitswahlsysteme (zumal der Übergang ja eh fließend ist). Wenn also die Wahlrechtsgleichheit in Art. 38 GG Mehrheitswahlsysteme nicht verbietet, dann gilt das ebenso für Überhangmandate, Sperrklauseln und sonstige Einschränkungen der Erfolgswertgleichheit. Diesen Befund finde ich zwar rechtspolitisch bedauerlich, weil ich stark proporzverzerrende Wahlsysteme gerne von der Verfassung her ausgeschlossen wüßte, aber er ist m.E. verfassungsrechtlich zwingend.
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Matthias Cantow
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Juni 2003 - 09:04 Uhr:   

@Wilko

> Das ist zwar herrschende Meinung, aber keineswegs unumstritten.

Ja, war wohl zu kurz formuliert. Aber auch die Juristen, die bei der Wahlgleichheit des Art. 38 GG lediglich eine Erfolgschancengleichheit fordern, kommen hinsichtlich der Oberverteilung (darauf bezog ich mich) mit der bekannten Ausnahme Sperrklausel und der ersten Unterverteilung auf die Länder nicht an einer proportionalen und erfolgswertoptimalen Verteilung vorbei, da ja ansonsten auch die Erfolgschancengleichheit verletzt wäre. Die rechtliche Beurteilung der Sitzverteilung des Endergebnisses ist dann allerdings unterschiedlich.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Juni 2003 - 10:38 Uhr:   

Das ist doch unlogisch. Bei der Oberverteilung beträgt der Unterschied zwischen d'Hondt und Hare/Niemeyer oder Sainte Lague maximal ein Mandat (rein theoretisch ist auch mehr möglich).
Bei einer Sperrklausel geht es aber gerade bei Bundestagswahlen um Dutzende Mandate.
Völliger Schwachsinn ist m.E. auch die Unterschiedliche Bewertung der Erfolgswertgleichheit bei Mehrheits- und Verhältniswahl (abgesehen davon, daß es da- wie Wilko schon gesagt hat- keine klare Grenze gibt). Bei Mehrheitswahl kann es per definitionem keine Erfolgswertgleichheit geben.
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Matthias Cantow
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Juni 2003 - 11:19 Uhr:   

@Thomas

"Das ist doch unlogisch."

Oberflächlich gesehen – ja. Aber nur weil die Sperrklausel in der Regel größere Auswirkungen auf die Gleichheit der Wählerstimmen hat, als die Wahl des Zuteilungsverfahrens, soll letzteres unwichtig sein?
Leider ist bei beiden Punkten in Politik und Rechtswissenschaft das Problembewusstsein unterschiedlich stark ausgeprägt. Bei den Sitzzuteilungsverfahren hat es aber auch Jahrzehnte gedauert, bis man wieder beim Diskussionsstand zu Anfang des letzten Jahrhunderts angelangt ist. Für eine ernsthafte Diskussion der Sperrklausel und ihrer Alternativen wird es wohl noch einige Jahr dauern.

"Völliger Schwachsinn ist m.E. auch die Unterschiedliche Bewertung der Erfolgswertgleichheit bei Mehrheits- und Verhältniswahl"

Da hast Du was falsch verstanden, bei einer Mehrheitswahl ist zur Einhaltung der Wahlgleichheit des Grundgesetzes "nur" die Erfolgschancengleichheit (z.B. gleichgroße Wahlkreise) zu gewährleisten.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Juni 2003 - 11:55 Uhr:   

Seltsame Definition von Erfolgschancengleichheit. Die wäre nach der Defintion also auch gegeben, wenn alle Bundestagsmandate en bloc an die stärkste Partei gehen würden.
Mal ein praktisches Beispiel: Ein SPD-Anhänger in Niederbayern hätte bei relativer oder absoluter Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen keine Chance, mit seiner Stimme seiner Partei zu helfen. Der Erfolgswert seiner Stimme wird mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit immer Null bleiben. Da ist es unerheblich, ob die Wahlkreise halbwegs gleich groß sind oder nicht.

Daß so etwas verfassungskonform, d'Hondt aber ein Problem sein soll, ist nicht nachvollziehbar.
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Matthias Cantow
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Juni 2003 - 14:35 Uhr:   

"Seltsame Definition von Erfolgschancengleichheit. Die wäre nach der Defintion also auch gegeben, wenn alle Bundestagsmandate en bloc an die stärkste Partei gehen würden."

Ja - wenn in jedem Wahlkreis der Mandatsträger einzeln gewählt wird und alle Wahlkreisgewinner derselben Partei angehören.

"Daß so etwas verfassungskonform, d'Hondt aber ein Problem sein soll, ist nicht nachvollziehbar."

Würden alle Juristen so denken, wäre der Manipulation bei Verhältniswahlen Tür und Tor geöffnet. Nicht umsonst hat sich das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich gegen solche Vergleiche ausgesprochen, ich denke zu Recht.

Es gibt übrigens ebenso Meinungen in der Literatur, die die Mehrheitswahl mit dem Erfordernis der Wahlgleichheit für unvereinbar halten, wozu ich auch tendiere, allerddings ist das eine Mindermeinung.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Juni 2003 - 16:03 Uhr:   

@ Matthias
Ich hatte das etwas anders gemeint. Wenn bei einer Erfolgschancengleichheit lediglich die gleiche Größe der Wahlkreise gefordert wird, wäre auch ein Winner-take-all-System verfassungskonform, soll heißen die bundesweit stärkste Partei kriegt alle Sitze über eine Liste (wie bei den Wahlmmännern in den USA). Denn es würden alle Wähler in einem exakt gleich großen Wahlkreis wählen, nämlich dem ganzen Land.
In so einem Fall wäre die Erfolgschancengleichheit perfekt erfüllt bei maximaler Disproportion in der Stimmen/Mandate-Relation.


"Es gibt übrigens ebenso Meinungen in der Literatur, die die Mehrheitswahl mit dem Erfordernis der Wahlgleichheit für unvereinbar halten, wozu ich auch tendiere..."

Sehe ich nicht so. Der Parlamentarische Rat hat ja auf eine Festlegung des Wahlsystems ganz bewußt verzichtet und alle Möglichkeiten offen halten wollen, im Gegensatz zu einigen Bundesländern, die die Verhältniswahl in der Verfassung verankert haben, in Berlin sogar die 5%-Hürde (was ich für Unsinn halte). Bei einem Mehrheitswahlrecht ist aber eine Erfolgswertgleichheit aber von vornherein gar nicht gewollt.

Statt der Erfolgschancengleichheit sollte man besser das Verbot systematischer Benachteiligung bestimmter Parteien zum Grundsatz machen, z.B. durch Gerrymandering, extrem ungleiche Wahlkreisgröße, Verwendung regional unterschiedlicher Wahlsysteme bei der selben Wahl (zeitweise erfolgreich in Frankreich praktiziert und vor ein paar Jahren vom damaligen Premier Juppe wieder erwogen).
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c07
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Juni 2003 - 18:47 Uhr:   

Thomas:
> Bei der Oberverteilung beträgt der Unterschied zwischen d'Hondt und Hare/Niemeyer
> oder Sainte Lague maximal ein Mandat (rein theoretisch ist auch mehr möglich).

Ein Unterschied von 3 Mandaten zwischen Sainte-Laguë und d'Hondt ist beim Bundestag schon praxisrelevant. 4 kleine Parteien sind normal, und 3 der dort kippenden Mandate können sich problemlos bei der größten Partei niederschlagen. Konkretes Beispiel (in Mandatsansprüchen): 250,2 - 215,3 - 40,7 - 30,6 - 30,6 - 30,6. Das liegt im Rahmen normaler Ergebnisse.

> in Berlin sogar die 5%-Hürde

In Bayern sind noch mehr Details in der Verfassung verankert. Ich find es auch durchaus sinnvoll, den Zugriff der Abgeordneten auf die Bedingungen ihrer Wiederwahl etwas zu erschweren.


Eine "Erfolgschancengleichheit" muss davon ausgehen, dass jeder Wähler rein zufällig wählt oder dass das zumindest jeder vom anderen meint. Dann kann man immerhin die Forderung nach gleichen Wahlkreisgrößen ableiten. Aber Gerrymandering könnte es nach dieser Voraussetzung eigentlich gar nicht geben.

Wer bei einem Mehrheitswahlsystem von Chancengleichheit spricht, setzt dabei die Systemverwalter auf eine höhere Stufe als die Wähler, die sich wie Versuchsmäuse nach gewissen Regeln verhalten sollen, ohne dabei den Sinn des Experiments zu durchschauen, und damit dann irgendwelche Erkenntnisse vermitteln sollen. Dieser Gedanke mag historisch begründbar sein, aber in die heutige Zeit passt er nicht mehr.

Mag sein, dass der Parlamentarische Rat Wahlgleichheit und Mehrheitswahlsystem nicht für unvereinbar gehalten hat; aus heutiger Sicht ist das für mich ganz klar der Fall. Dann muss aber entweder ein Mehrheitswahlsystem heute verfassungswiedrig sein, oder die Wahlgleichheit ist keine zwingende Forderung mehr. Nachdem aber Letztere wörtlich in der Verfassung verankert ist, ist sie wohl die sinnvollere Wahl als die Option für ein Mehrheitswahlsystem aufrecht zu erhalten.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 11:03 Uhr:   

@c07:
> Ich find es auch durchaus sinnvoll, den Zugriff der Abgeordneten auf
> die Bedingungen ihrer Wiederwahl etwas zu erschweren.
Im Prinzip ja. Ideal wäre z. B., wenn das Wahlrecht und die Durchführungsbestimmungen für ein Parlament immer von einer halbwegs neutralen außenstehenden Instanz geregelt werden würden (in der Praxis geht das wohl nicht).
Die Verfassung ist da aber ein schlechter Ersatz. Die wirklichen Schweinereien (z. B. Gerrymandering) finden ja in den Details statt, die man nicht vie Verfassung regeln kann.

> Mag sein, dass der Parlamentarische Rat Wahlgleichheit und
> Mehrheitswahlsystem nicht für unvereinbar gehalten hat; aus heutiger
> Sicht ist das für mich ganz klar der Fall.
Es ist ja auch nicht grundsätzlich unvereinbar.
Bei der Paulskirchenwahl 1848 (die ja als Vorbild bei den GG-Beratungen sehr präsent war) ging es ja ganz ideal zu: Jeder Wahlkreis entsandte mustergültig demokratisch (wenn man von den Wahlrechtsbeschränkungen absieht) seinen besten Vertreter).

Aber da waren natürlich die Rahmenbedingungen noch einfach: Es gab keine Vorerfahrungen, wie sich die Wähler eines Wahlkreises wohl verhalten würden, und es gab keine Parteien.

Da das GG nun an anderer Stelle ganz explizit die Parteien "installierte", ist das Offenhalten für ein extrem personen-bezogenes Wahlsystem wie dem Mehrheitswahlrecht nicht ohne inneren Widerspruch.
Insgesamt würde ich mich bei Wahlrechtsfragen nicht so gerne in erster Linie auf Verfassungsgrenzen und Richterinterpretationen verlassen müssen. Etwas mehr Sachkenntnis und Problembewußtsein für Manipulationsmöglichkeiten bei Medien und politischer Öffentlichkeit würden mehr helfen.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 13:07 Uhr:   

@ c07
Daß die Mehrheit so knapp ist und drei Bundestagsmandate den Ausschlag geben ist in der Praxis doch unwahrscheinlich, zumal d'Hondt sich dann ja ausschließlich zugunsten der Regierungskoalition auswirken muß. Im Vergleich zur Wirkung der Sperrklausel ist der Effekt zu vernachlässigen, zumindest wenn eine große Zahl von Abgeorneten zu wählen ist wie bei Bundestagswahlen.

Von allzu genauen Regelungen des Wahlrechts in der Verfassung halte ich gar nichts. Es gibt z.B. keinen vernünftigen Grund, Stimmkreise in der Verfassung zu verankern. Ein regionaler Bezug der Abgeordneten läßt sich auch anders und m.E. auch sinnvoller realisieren. Solche Regelungen sollten einfacher Gesetzgebung überlassen bleiben. Außerdem sind, wie Ralf ja richtig gesagt hat, die Detailbestimmungen entscheidend. Was unter einem "verbesserten Verhältniswahlrecht" (steht tatsächlich so in der bayr. Verfassung)zu verstehen sein soll, ist doch sehr interpretationsbedürftig und interpretationsfähig.

Zur Wahlgleichheit: Der Grundsatz der Wahlgleichheit verbietet doch nur eine unterschiedliche Gewichtung von Stimmen wie etwa im preußischen Dreiklassenwahlrecht oder durch extrem unterschiedliche Wahlkreisgröße bei Mehrheitswahl.

@ Ralf
"Da das GG nun an anderer Stelle ganz explizit die Parteien "installierte", ist das Offenhalten für ein extrem personen-bezogenes Wahlsystem wie dem Mehrheitswahlrecht nicht ohne inneren Widerspruch."
Daß die Gleichungen Verhältniswahl=reine Parteienwahl und Mehrheitswahl=Personenwahl falsch sind (in jedem Fall in der pauschalen Form) dürfte hier wohl Konsens sein. Auch bei Mehrheitswahl spielen die Personen in Großbritannien eine untergeordnete Rolle. Der Wähler hat ja auch keinen wirklichen Einfluß auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments. Wenn ich Anhänger von Partei A bin aber den Wahlkreiskandidaten von Partei A nicht mag, muß ich den entweder trotzdem den mir nicht genehmen Kandidaten wählen oder gleich die Partei wechseln.

"Insgesamt würde ich mich bei Wahlrechtsfragen nicht so gerne in erster Linie auf Verfassungsgrenzen und Richterinterpretationen verlassen müssen."
Dem kann ich mich nur anschließen.
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c07
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 14:09 Uhr:   

Thomas:
> zumal d'Hondt sich dann ja ausschließlich zugunsten
> der Regierungskoalition auswirken muß.

Muss es nicht. Bei durchschnittlicher Stärke profitiert hauptsächlich die SPD davon, weil die CDU normalerweise deutlich kleiner ist. Die CSU geht ja bei der Berechnung extra. In einem 4-Parteien-Parlament kann die SPD beispielsweise beide Sitze bekommen, die CSU und FDP wegen d'Hondt verlieren, auch wenn sie insgesamt in der Minderheit ist: SPD 298,66 - CDU 218,00 - CSU 40,67 - FDP 40,67 (gilt sowohl gegenüber Hare/Niemeyer als auch Sainte-Laguë; nur gegenüber Sainte-Laguë sind auch weniger knappe Ergebnisse mit gleichem Effekt denkbar).

Natürlich sind die Auswirkungen im Verhältnis zur Sperrklausel klein. Dabei muss man aber bedenken, dass gerade die Sperrklausel auch die Unterschiede zwischen den Verfahren begrenzt, weil die möglichen Differenzen stark von der Anzahl der Parteien abhängen.

> Der Grundsatz der Wahlgleichheit verbietet doch
> nur eine unterschiedliche Gewichtung von Stimmen

Ist es keine unterschiedliche Gewichtung, wenn manche Stimmen gar nicht zählen? Beim Mehrheitswahlrecht beschränkt sich die Gleichheit auf die Wahl einer einzelnen Person im eigenen Wahlkreis, die aber für sich genommen keine Macht hat. Auf die wirklichen Machtverhältnisse hat ein großer Teil der Wähler gar keinen Einfluss und wird daher faktisch eben doch nicht gleich behandelt.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 14:10 Uhr:   

@Thomas:
> Daß die Gleichungen Verhältniswahl=reine Parteienwahl und
> Mehrheitswahl=Personenwahl falsch sind (...) dürfte hier wohl Konsens
> sein.
Tut mir leid, aber so einen Konsens sehe ich (jedenfalls für mich) nicht.

Mehrheitswahlrecht ist von der Konzeption her eine reine Personenwahl und funktioniert nur dann vernünftig, wenn keine Parteien stören - wie Dein Beispiel zeigt. GB ist für mich das klassische Beispiel dafür, wie man es falsch macht.

Und das Verhältniswahlrecht funktioniert selbstverständlich nur mit Parteien - auch wenn vielleicht dann auf der Vorschlagsliste auch Personen rumgeschoben werden können.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 15:09 Uhr:   

@ Ralf

Deine Aussagen halte ich für komplett falsch.
Wo auf der Welt gibt es keine Parteien? Wenn ein Abgeordneter im Wahlkreis gewählt wird, wollen die Bürger doch, daß er etwas für sie erreicht. Das kann als einzelner Abgeordneter kaum. Wie ändert er das? Indem er sich mit anderen mehr oder weniger gleichgesinnten Abgeordneten zusammenschließt. Womit dann im weitesten Sinne wieder eine Partei entsteht. Selbst da wo es offiziell keine Parteien gibt wie im Iran (das ist natürlich nicht gerade eine Demokratie- aber es gibt ja bezeichnenderweise keine Demokratie ohne Parteien) oder 1848 in der Paulskirche gibt es politische Lager die ansatzweise Parteifunktionen übernehmen. Hinzu kommt doch, daß die Bürger meist wenig über ihren Abgeordneten wissen. Das war schon immer so und auch heute wären die meisten Bürger nicht einmal in der Lage, den Namen „ihres“ Wahlkreisabgeordneten zu nennen. Da ist es doch hilfreich die Person wenigstens grob politisch einordnen zu können (wie „links“, „liberal“oder „konservativ“) und entsprechend werden die Personen auch mit einem Etikett versehen , danach richtet sich dann maßgeblich das Wahlverhalten. Praktiziert wurde das beispielsweise in Deutschland im preußischen Dreiklassenwahlrecht, wo Parteien direkt gar nicht teilnahmen. Auch von den drei Unabhängigen die 1949 in den Bundestag gewählt wurden, war nur einer tatsächlich unabhängig. Einer war CDU-naher Sammelkandidat bürgerlicher Parteien gegen den SSW in Flensburg. Ein weiterer namens Richard Freudenberg war FDP-naher Verfechter des Meheheitswahlrechtes. Auch der einzige wirklich Unabhängige schloß sich zumindest zeitweise einer Fraktion an (ich glaube es war WAV).
Staatspolitisch sind Parteien natürlich in einer parlamentarischen Demokratie auch deshalb notwendig um die Regierungsfähigkeit zu sichern.
Kurz: Eine Demokratie ohne Parteien oder parteiähnliche Organisationen ist Illusion.

Falsch ist auch, daß es keine Verhältniswahl ohne Parteien gibt. STV in Mehrmannwahlkreisen ist in Irland und Malta lange erprobt und funktioniert auch ohne Parteien.


@c07

Zur Wahlgleichheit: In jedem Wahlsystem der Welt fällt ein gewisser Prozentsatz der Stimmen durch den Rost. Frei nach Paracelsus: Alles eine Frage der Dosis.
Bei der Wahlgleichheit geht es aber darum, die Stimmen nicht a priori unterschiedlich zu gewichten wie beim Dreiklassenwahlrecht. Daß dagegebn abgegebene Stimmen unterschiedliche (oder eben gar keine) Auswirkungen auf die Sitzverteilung haben ist nicht grundsätzlich bedenklich und im gewissen Rahmen auch unvermeidlich.
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c07
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 17:07 Uhr:   

Thomas:

STV würd ich nicht als Verhältniswahl bezeichnen. Natürlich sind dabei keine Parteien notwendig; ganz im Gegenteil sind sie dabei ja nicht mehr als eine Orientierungshilfe für die Wähler. Wenn ein Verhältnis gebildet werden soll, muss es auch Parteien oder zumindest Listen geben, auf die aufgeteilt werden kann. Eine Person kann dagegen immer nur ganz oder gar nicht gewählt werden.

Ein reines Mehrheitswahlsystem funktioniert zwar auch mit Parteien, aber dann lässt es sich eben nicht mehr vernünftig mit der Wahlgleichheit in Einklang bringen. Wirklichen Sinn hat es nur dann, wenn tatsächlich die einzelne Person als Bezug zu ihrem Wahlkreis im Vordergrund steht, und nicht das, was sie zusammen mit anderen in einem größeren Gremium beschließt.

Zu den Unabhängigen im Bundestag von 1949 gibt es übrigens hier einen Bericht.

> Daß dagegebn abgegebene Stimmen unterschiedliche (oder eben gar keine)
> Auswirkungen auf die Sitzverteilung haben ist nicht grundsätzlich
> bedenklich und im gewissen Rahmen auch unvermeidlich.

Solang es unvermeidlich zur Gewährleistung übergeordneter Ziele ist, ist es natürlich auch nicht bedenklich. Sonst aber schon.
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Wilko Zicht
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 17:24 Uhr:   

@c07:

>Wenn ein Verhältnis gebildet werden soll, muss es auch Parteien
>oder zumindest Listen geben, auf die aufgeteilt werden kann.

Auch hier sollten die Wähler Ausgangspunkt der Überlegungen sein.
Für mich bedeutet Verhältniswahl in erster Linie, daß jeder Wähler in dem Maße auf die Sitzverteilung Einfluß nimmt, wie es seinem verhältnismäßigen Anteil an der Gesamtwählerschaft entspricht. Genau das wird durch STV (mit Einschränkung) gewährleistet.
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Cram
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 18:02 Uhr:   

@c07,

zu Deinem Beitrag unter www.election.de


Wir haben beide grds. unterschiedliche Ansprueche an ein Wahlverfahren. Waehrend du auf eine mathematisch exakte Abbildung wertlegst und insbesondere kleinere Parteien nicht unterrepresaentiert sehen moechstest ist es sehr verstaendlich das du Saint=Lague ohne Mehrheitsklausel als "bestes" Wahlverfahren ansieht. Fuer mich ist aber das Ziel eines Wahlsystems, auch eines Verhaeltniswahlsystems,
daneben auch die Mehrheitsbildung zu erleichtern. Dem dienen ja z.B. auch Sperrklauseln = die praktische Folge dieser Klauseln ist ja das bei Werten von unter 50% bereits absolute Mehrheiten entstehen koennen= das ist ja auch der Sinn der Sache und daher aus meiner Perspektive unproblematisch. Das aber eine absolute Mehrheit fuer eine Partei nicht zu einer Mehrheit der Mandate fuehrt widerspricht klar dem Ziel einer erleichterten Mehrheitsbildung. Und daher ist fuer mich eine Mehrheitsklausel unabdingbar, da bei Saint=Lague derartige Faelle wahrscheinlicher Sinn als bei Hare-Niemeyer. Ich halte grds. eine Mehrheitsklausel fuer sinnvoll, wie das auch im Bundeswahlgesetz und zahlreichen Landeswahlgesetzen vorgesehen ist.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 18:15 Uhr:   

@Cram: Hier stimme ich Dir voll zu.
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c07
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 18:23 Uhr:   

Wilko:

So kann man "Verhältniswahl" natürlich auch sehen. Letztlich ist das eine reine Definitionsfrage. Wenn man alles in das Schema Mehrheitswahl gegenüber Verhältniswahl (und u.U. Einheitswahl) pressen will, ist es sicher auch passend. Mir ist da allerdings eine stärkere Differenzierung der Begriffe lieber.


Cram:

Also auch hier noch mal meine Antwort:

Wenn du die Mehrheitsbildung erleichtern willst, also forderst, dass Verzerrungen ausschließlich oder zumindest überwiegend zugunsten der großen Parteien gehen, wirst du natürlich kein unverzerrendes Verfahren befürworten, sondern lieber d'Hondt, Imperiali oder gleich ein reines Mehrheitswahlsystem nehmen.

Aber der Artikel von Christian Ludwig hat ein möglichst unverzerrtes Wahlergebnis und Stimmengleichheit gefordert, also genau das, was Sainte-Laguë am besten von allen Zuteilungsverfahren gewährleisten kann. Es geht mir nur darum, das klar zu machen. Natürlich kann man der Meinung sein, dass die Gleichheit der Wähler kein wichtiges Ziel ist. Aber man kann sie nicht einerseits fordern und andererseits dann doch ablehnen, wenn das konkrete Ergebnis nicht die speziellen Erwartungen an ein Detail erfüllt.
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Torsten Schoeneberg
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 18:38 Uhr:   

Da bin ich eher mit c07 einer meinung, s. auch meine Einwände gegen die Mehrheitsklausel unter "Kritik an Sainte-Lague".

Das ist aber in der Tat eine ganz andere Diskussion, weil wir über das Ziel der Wahl (Mehrheit bilden oder Verhältnis möglichst proportional darstellen) nicht einig sind. Ich interpretiere das "gleich" in Art. 38 GG so, daß jede Stimme im Rahmen der mathematischen Möglichkeiten gleich viel Effekt hat. Das erfüllt nun einmal Sainte-Lague.

PS: Gibt es eigentlich auf Länderebene irgend eine Verfassung, die bei ihren Wahlgrundsätzen von denen des GG abweicht, ausläßt, hinzufügt, konkreter oder abstrakter wird? In NRW ist nur die Reihenfolge anders
(GG: allgemein, unmittelbar, frei, gleich, geheim;
NRW: allgemein, gleich, unmittelbar, geheim, frei),
was wohl kaum Einfluß haben dürfte. Aber sonst?
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Cram
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 18:40 Uhr:   

@c07

Christian Ludwig scheint dies jedoch fuer ein sehr wichtiges Detail zu halten. Und in dem Punkt stimme ich ihm durchaus zu. Schliesslich kann dieses Detail dazu fuehren das eine Partei die eine absolute Mehrheit der Stimmen erzielt hat in die Opposition gehen muss. Und daher stellt sich natuerlich die Frage ob dadurch die Gleichheit der Wahl verletzt wird. Erschwerend kommt ja hinzu das bes. eine Partei durch die Verzerrung benachteiligt wird waehrend sich bei einer Mehrheitsklausel die Verzerrung vielleicht insgesamt etwas erhoeht sich jedoch auf mehrere Parteien aufteilt.

"Gleichheit der Wähler kein wichtiges Ziel ist"
Es kommt darauf an welche Ziele man einem Wahlsystem zuschreibt und welche Prioritaeten man ihnen gibt. Die Gleichheit der Wahl ist aus meiner Sicht ein Ziel des Wahlsystems, ein anderes die Mehrheitsbildung zu erleichtern. Dem kann bereits eine Mehrheitsklausel dienen, ebenso wie die Sperrklauseln.
Eine Aenderung auf d|Hondt oder gar auf ein vollkommenes Mehrheitswahlrecht halte ich nicht fuer notwendig.
Was ich an Hare-Niemeyer schaetze ist die gute Verstaendlichkeit des Verfahrens. Daher stehe ich Aenderungen sehr skeptische gegenueber, zumal dann wenn sie nicht wirklich zu wesentlichen "Verbesserungen" fuehren. Mit "Verbesserungen" meine ich gerade nicht Veraenderungen die die Mehrheitsbildung zugunsten einer Aufhebung einer "Unterrepraesentation" der kleinen Parteien erschweren.
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Cram
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 18:58 Uhr:   

@Torsten

"ich interpretiere das "gleich" in Art. 38 GG so, daß jede Stimme im Rahmen der mathematischen Möglichkeiten gleich viel Effekt hat. Das erfüllt nun einmal Sainte-Lague."

Ich interpretiere das "gleich" ganz anders. Historisch war es ja bekanntlich so das es z.B. in Preussen bis 1918 ein Drei-Klassen-Wahlrecht gab, dass das Gewicht einer Stimme vom Einkommen abhaengig machte. Genau das sollte fuer die Zukunft ausgeschlossen werden, weshalb der Grundsatz der Wahlgleichheit eingefuehrt wurde. Der gleiche Grundsatz war bereits in der Paulskirchenverfassung (die noch ein Mehrheitswahlsystem vorsah) wie in der Verfassung der Weimarer Republik verankert. Auch in anderen
Demokratien ist der Grundsatz der Gleichheit der Wahl verankert, auch diejenigen die Mehrheitswahlsysteme haben. Das GG legt eben nicht bereits von vornherein ein bestimmtes Wahlsystem fest sondern gibt dem Gesetzgeber Spielraum fuer die Entscheidung. Auch ein Mehrheitswahlsystem waere mit dem GG vereinbar.
Wenn der Grundgesetzgeber haette ausschliessen wollen haette er entweder explizit ein Wahlsystem vorschreiben muessen, wie z.B. Verhaeltniswahl oder zumindest klarstellen muessen das das Verfahren zu waehlen ist das am ehesten eine Erfolgswertgleichheit ergibt. Gerade darueber waren sich aber die Verfassungsgeber nicht einig.
Es gab lange Diskussionen ueber das Wahlverfahren (reine Verhaeltniswahl, Grabenwahlrecht, Hoehe der Sperrklausel, Grundmandatsregelung, Mehrheitswahlrecht).
Daher muss man einfach konstatieren das der Verfassungsgeber die Sache offenlassen wollte fuer die Entscheidung des Gesetzgebers im Rahmen gewisser verfassungsrechtlicher Grenzen.
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c07
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 23:07 Uhr:   

Torsten:

In Bayern ist die Reihenfolge wie in NRW, aber die Freiheit fehlt. Dafür gibt es einen eigenen Artikel (15), der ziemlich schwammig die Grenzen der freien Wahl bestimmt, ohne umgekehrt Rechte zu gewähren. Die Gleichheit wird faktisch durch die vorgegebene Stimmkreiseinteilung beschränkt, auch wenn seit 1973 Ausnahmen zugunsten der Gleichheit erlaubt sind (davor war sogar die interne Aufteilung der Großstädte ansatzweise geregelt). Es wird aber ausdrücklich bestimmt, dass alle Wahlberechtigten wahlberechtigt sind. Außerdem steht die 5%-Hürde drin und werden Werktage als Wahltage ausgeschlossen.

Dann gibt es eben noch das ominöse "verbesserte Verhältniswahlrecht", das ursprünglich nicht weiter definiert war. Inzwischen setzt der Verfassungstext aber auch die Kenntnis des Landeswahlgesetzes voraus, wenn er den Anteil der Direktmandate limitieren will und Überhang- und Ausgleichsmandate erwähnt. Nachdem das eine interessante Sache ist, tipp ich mal die Begründung des Landtags zur Anfügung von Satz 5 und 6 zu Artikel 14 (2) im Volksentscheid von 1998 dazu ab:

"An der bewährten Anbindung der Wahlkreise an die Regierungsbezirke und der Stimmkreise an die kommunale Gliederung soll festgehalten werden. Anknüpfend an die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs soll das Verhältnis von Stimmkreis- und Wahlkreismandaten geregelt werden. Für den Fall der Vergabe von Überhang- und Ausgleichsmandaten ist eine Überschreitung der in Art. 13 festgelegten Höchstzahl möglich."

Also ziemlich nichtssagend und keine wirkliche Begründung, warum das in der Verfassung geregelt werden sollte. Ich weiß zwar die wahren Gründe nicht, aber wahrscheinlich haben sich hier SPD und Grüne durchgesetzt. Gleichzeitig ist ja der Landtag verkleinert worden und die Begehrlichkeiten der dadurch gefährdeten CSU-Abgeordneten nach mehr Direktmandaten waren groß. Ebenso sind auch die Rechte der Opposition (Artikel 16a und einiges mehr, z.B. wechselnder Vorsitz bei Untersuchungsausschüssen) in der Verfassung festgeschrieben worden. Für SPD und Grüne ist sie eine wichtige Rückversicherung gegen befürchtete (und manchmal auch tatsächliche) Willkür der ziemlich allmächtigen CSU und kann deshalb aus ihrer Sicht kaum detailliert genug sein.


Cram:
> Erschwerend kommt ja hinzu das bes. eine Partei durch die Verzerrung
> benachteiligt wird waehrend sich bei einer Mehrheitsklausel die Verzerrung
> vielleicht insgesamt etwas erhoeht sich jedoch auf mehrere Parteien aufteilt.

Die Verzerrung, die eine Mehrheitsklausel verursacht, trifft in aller Regel eine einzige Partei bzw. deren Wähler, weil es meistens (Sainte-Laguë) oder immer (Hare/Niemeyer) nur um ein einzelnes Mandat geht.

> zugunsten einer Aufhebung einer "Unterrepraesentation" der kleinen Parteien

Nochmal: Es kann genauso die Verhinderung einer Überrepräsentation sein. Hare/Niemeyer kann auch mal einen Sitzanspruch von 0,2 auf 1 aufrunden, was Sainte-Laguë ebenso wie das Abrunden von 0,8 verhindert.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Donnerstag, 12. Juni 2003 - 23:10 Uhr:   

Entsprechend hat ja das Bundesverfassungsgericht in seinem bekannten Urteil von 1997, die Überhangmandate betreffend, argumentiert. In der Urteilsbegründung der vier das Urteil tragenden Richter wurde genau dies betont: dass Art. 38 GG kein Wahlsystem, also Mehrheits- oder Verhältniswahlsystem vorschreibt, und das Wort "gleich" eben nicht gleichzusetzen ist mit absoluter Wertgleichheit der Stimmen. Dann wären Sperrklauseln etc. verfassungswidrig. Daher teile ich auch die Kritik des Reporters aus dem obigen Statement: Wenn eine Partei oder Parteienkonstellation mit 51% die absolute Mehrheit an Stimmen erhalten hat und diese Mehrheit in der Sitzverteilung nicht zugestanden bekommt - wie dies offensichtlich laut obigem Artikel in Bremen der Fall war - so ist ein solches Wahlsystem abzulehnen.
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Torsten Schoeneberg
Veröffentlicht am Freitag, 13. Juni 2003 - 01:14 Uhr:   

@ Bernhard Nowak:
"Wenn eine Partei oder Parteienkonstellation [Hervorhebung von mir] mit 51% die absolute Mehrheit an Stimmen erhalten hat und diese Mehrheit in der Sitzverteilung nicht zugestanden bekommt [...] so ist ein solches Wahlsystem abzulehnen."

Aber das ist für Parteienkonstellationen einfach unmöglich, wie Dir c07 bestimmt gerne vorrechnen wird (habe jetzt kein Beispiel).

Möglich ist nur (und so wird es bei Hare/Niemeyer z.B. beim Bundeswahlgesetz ja gemacht), daß eine einzige Partei bei absoluter Mehrheit bevorzugt behandelt wird. Aber ich sehe das eben nicht als Notwendigkeit an, s. insbesondere meinen dritten Punkt im anderen Thread.

Und in der Interpretation des Grundgesetzes erlaube ich mir, anderer Meinung zu sein als die Mehrheit der Verfassungsrichter.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 13. Juni 2003 - 11:33 Uhr:   

@Thomas Frings:
> Wo auf der Welt gibt es keine Parteien?
a) in vielen kleinen politischen Bereichen (z. B. Gemeinden), wo das Personenelement überwiegt,
b) oft in Ländern, in denen Demokratie neu eingeführt wird (wie z. B. 1848 bei der Paulskirche) - wobei sich NACH der Wahl dann in der Tat oft Parteien bilden.

Ansonsten geht aber Deine Frage am Kern vorbei: Das Mehrheitswahlrecht geht eben davon aus, daß Personen zur Wahl stehen, und Parteien keine Rolle spielen. Und wenn diese dann doch eine Rolle spielen, gibt es halt Probleme (siehe GB).
Wobei diese Probleme erst dann richtig krass werden, wenn die Parteien eben mehr werden als nur lockere Zusammenschlüsse Gleichgesinnter.
Bei der reinen Personenwahl ist die politische Grundausrichtung der Kandidaten selbstverständlich ein Kriterium für den Wähler, ähnlich wie es auch Religion, Beruf oder ähnliches sein können.
Aber das heißt ja noch lange nicht, daß der gewählte Kandidat diese politische Grundausrichtung/Parteizugehörigkeit bei jeder einzelnen Abstimmung so hoch hängt, daß er nur noch ausführendes Stimmorgan der Partei ist.

In England war es lange Zeit trotz der Existenz von Parteien völlig normal, daß die Abgeordneten in vielen Fragen völlig querbeet stimmten und jeder im wesentlichen als politisches Individuum auftrat. Da wäre ein Verhältniswahlrecht völlig unsinnig gewesen.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 13. Juni 2003 - 11:39 Uhr:   

@Cram:
> Die Gleichheit der Wahl ist aus meiner Sicht ein Ziel des Wahlsystems,
Für mich das Hauptziel.

> ... ein anderes die Mehrheitsbildung zu erleichtern.
Und das sehe ich überhaupt nicht als Aufgabe des Wahlsystems an.
Die Abgeordneten vertreten (möglichst proportional) die Bevölkerung und müssen sich mehrheitlich auf gewisse Entscheidungen einigen.
Dazu gehört eine Menge mehr als nur der Endpunkt einer Abstimmungsmehrheit.

Wenn es nur Aufgabe einer Wahl wäre, die Regierungsmehrheit festzustellen, dann könnte man eigentlich völlig auf ein Parlament verzichten und die Parteien, die sich mit ihren Wählerprozenten auf eine Mehrheit addieren und sich zu einer Koalition zusammenfinden, bekommen halt automatisch die Regierung.

Das Konstruieren einer Mehrheit per Wahlsystem setzt ja voraus, daß die zu dieser Mehrheit gehörenden Abgeordneten auch automatisch so funktionieren, wie das die Regierung braucht.
Leider gibt es in der Praxis diesen Trend, aber den sollte man durch das Wahlsystem nicht noch unterstützen.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Freitag, 13. Juni 2003 - 12:38 Uhr:   

Es liesse sich auch ein System denken, bei dem alle Parteien sich vorstellen, ihre Ziele bekanntgeben usw., dann wird gewählt, und die Partei, die die meisten Stimmen erhält, bekommt automatisch alle Sitze in einem dannzumal z. B. auf 50 verkleinerten Parlament.
Diese 50 Parteienvertreter bestimmen dann einige Jahre lang den Kurs, niemand kann ihnen dreinreden, dann kommen vielleicht die nächsten an die Reihe ...
Nur stelle ich mir das Funktionieren von Politik und Staat ganz klar NICHT derart vor.
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c07
Veröffentlicht am Freitag, 13. Juni 2003 - 15:40 Uhr:   

Bernhard, Torsten:

Ein Beispiel ist: A 39% - B 32% - C 12% - D 7% - E 5% - F 5%. Es sollen 13 Mandate vergeben werden. Sowohl bei Hare/Niemeyer als auch Sainte-Laguë ist die Mandatsaufteilung: A 5 - B 4 - C 1 - D 1 - E 1 - F 1. Stimmenmehrheiten haben A/B, A/C, A/D/E, A/D/F, B/C/D und B/C/E/F. Die können aber unmöglich alle gleichzeitig eine Mandatsmehrheit haben.

Die einzige Lösung wär es, das Parlament so lange zu vergrößern, bis alle Mehrheiten abbildbar sind. Wenn es etwas knapper ausgeht, kommt man dabei aber schnell auf extreme Parlamentsgrößen. Im Extremfall müsste es wohl aus sämtlichen Wählern bestehen, was auch nicht gerade erstrebenswert ist.

Übrigens war das Beispiel, das ich auf election.de gebracht hab, doch lösbar. Da hab ich mich verrechnet.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 13. Juni 2003 - 16:55 Uhr:   

@c07:
> Die einzige Lösung wär es, das Parlament so lange zu vergrößern, bis
> alle Mehrheiten abbildbar sind.
Eine andere "Lösung" wäre, wenn nur die sechs Vorsitzenden das Parlament bilden, jeder mit einem Stimmgewicht exakt gleich dem Wählervotum.
Damit wäre die Erhaltung aller Mehrheiten garantiert.
Aber es wäre halt nicht mehr das, was man sich unter einem klassischen Parlament mit unabhängigen Abgeordneten vorstellt.

Man könnte argumentieren, daß die moderne Parteienpolitik das Parlament ohnehin so deformiert hat, daß dieser Schritt folgerichtig wäre.

Solange man aber am Abgeordnetenprinzip festhält (was ich befürworte), muß man eben auch akzeptieren, daß diese eben nicht schematisch einem Mehrheitsbildungszwang unterworfen werden können.
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c07
Veröffentlicht am Freitag, 13. Juni 2003 - 23:47 Uhr:   

In der Tat ist diese Lösung die folgerichtige Konsequenz aus der Forderung nach strikter Erhaltung aller Mehrheiten bei der Wahl. Wenn Mehrheitsklauseln einen Sinn haben sollen, müsste man ja auch die Fraktionen gemäß dem Wahlergebnis fixieren und die Abgeordneten völlig der Fraktionsdisziplin unterwerfen. Vielleicht hätten sie als Arbeitskräfte mit besonderen Befugnissen, die den Parteien gemäß dem Wahlergebnis in unterschiedlicher Anzahl zur Verfügung stehen, noch eine Berechtigung.

Je mehr ich darüber nachdenk, desto sinnloser werden die Mehrheitsklauseln für mich, obwohl ich mir inzwischen fast sicher bin, dass sich in großen Gremien tatsächlich alle möglichen Mehrheiten abbilden lassen, wenn die Zahl der Parteien deutlich beschränkt ist. Im Bundestag ist sie das durch die 5%-Hürde vermutlich ausreichend, wenn es nicht zu viele erfolgreiche sonstige Direktkandidaten gibt. Wobei es natürlich generell sehr verlogen ist, bei der Mehrheitsklausel erst die Stimmen, die durch die 5%-Hürde verloren gehen, auszusortieren. So wird etwas zur Mehrheit deklariert, was es eigentlich gar nie war.

Beim Bundestag müsste man sich auch Gedanken machen, was mit den erfolgreichen Direktkandidaten, die außerhalb vom Parteienproporz stehen, sowie mit den Überhangmandaten passiert. Solang die alle von der Berechnung ausgenommen sind, sind sämtliche Mehrheitsklauseln eh sinnlos, weil sie dann eben nicht die jeweilige Mehrheit erhalten, sondern einfach ziemlich zufällige Verzerrungen einbauen.

Eine Mehrheitsklausel, die auch Mehrheiten aus mehreren Parteien berücksichtigt, schafft außerdem auch nette Paradoxien. Beispiel (in Stimmen): A 10000 - B 5000 - C 4999. Wenn nun 11 Mandate verteilt werden, muss A wegen der Mehrheitsklausel 6 Mandate bekommen. Wenn nun aber zusätzlich eine völlig unbedeutende Partei D antritt, die nur 2 Stimmen bekommen hat, kippt sie formell die potenziellen Mehrheitsverhältnisse und damit auch die Sitzverteilung. Sie muss für 0,01% der Stimmen 9% der Mandate bekommen.
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alberto
Veröffentlicht am Samstag, 14. Juni 2003 - 03:26 Uhr:   

smile
Wenn alle Stimmsoldaten wie ein Mann stehen

Quote:

Von c07 am Freitag, den 13. Juni 2003 - 23:47 Uhr: In der Tat ist diese Lösung die folgerichtige Konsequenz aus der Forderung nach strikter Erhaltung aller Mehrheiten bei der Wahl. Wenn Mehrheitsklauseln einen Sinn haben sollen, müsste man ja auch die Fraktionen gemäß dem Wahlergebnis fixieren und die Abgeordneten völlig der Fraktionsdisziplin unterwerfen.


 Wozu dann 600 Figuren bezahlen?

WahlRechtReform
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alberto
Veröffentlicht am Samstag, 14. Juni 2003 - 07:53 Uhr:   

Wählen wir denn 600 hochbezahlte Statisten mit ihrem ganzen Apparat?

ÖdiekratieReform
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Stephan Glutsch
Veröffentlicht am Samstag, 14. Juni 2003 - 23:11 Uhr:   

Die Vorschlaege von Ralf und c07 sind nicht realistisch. Der Vorschlag von Ralf scheitert an den Politikern, die Diaeten kassieren wollen. Bei c07 hinge die Zahl der Abgeordneten und damit, ob ein Kandidat auf einem hinteren Listenplatz in das Parlament kommt, vom Zufall ab.

Alternativvorschlaege

a) Die Stimmen haben nicht genau gleiches Gewicht. Erziehlt z.B. Partei A 60.4% und Partei B 39.6%, dann erhalten bei 100 Sitzen insgesamt Partei A 60 Sitze und Partei B 40 Sitze. Ein A-Abgeordneter hat aber 60.4/60=1.006667 und ein B-Abgeordneter 39.6/40=0.99 Stimmen. Damit waere das Rundungsproblem ein fuer alle mal geloest.

b) Noch besser und demokratischer: Jeder Abgeordnete hat genau so viele Stimmen, wie er Waehler vertritt. Dann haetten z.B. soviel Millionen Waehler fuer und soviel Millionen Wahler gegen einen bestimmten Vorschlag gestimmt. Sollte sich bei dem gegenwaertigen Wahlsystem nicht genau angeben lassen, wieviel Waehler ein Abgeordneter vertritt, dann bestuende eher hier Aenderungsbedarf.
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c07
Veröffentlicht am Montag, 16. Juni 2003 - 06:16 Uhr:   

Stephan:

Was soll außer der Wortwahl der Unterschied zwischen a) und b) sein? Wenn du bei b) gemeint hast, dass es ganzzahlige Stimmen sind, ist es im Allgemeinen natürlich nicht ohne ungleiche Rundung möglich. Z.B. kann eine ungerade Anzahl an Stimmen jederzeit zu einer geraden Zahl an Mandaten führen und kann schon deshalb nicht mehr restlos aufgeteilt werden.

Beim Bundestag gibt es auch noch das Problem, dass Wähler von 2 Abgeordneten vertreten sein können. Wer eine der beiden erfolgreichen PDS-Direktkandidatinnen gewählt hat, mit der Zweitstimme aber eine andere im Bundestag vertretene Partei, hat eine doppelte Stimme gehabt, aber es ist nicht bekannt, um wieviele Wähler es sich dabei handelt, weil die Zweitstimmen nicht abhängig von den Erststimmen ausgezählt worden sind. Ähnlich schaut es da aus, wo es Überhangmandate gibt. Hier stellt sich angesichts faktisch negativer Stimmen besonders die Frage nach der konkreten Berechnungsmethode. Das sind aber in der Tat Probleme des Wahlsystems, die lösbar wären.

Insgesamt stellt sich aber die Frage nach dem Sinn der Sache. Es ist ja nicht so, dass ein Abgeordneter exakt den Willen seiner Wähler vertritt, sondern im Parlament sollte eine Meinungsbildung stattfinden, an der der Abgeordnete als Person teilnimmt. Dass das so ist, sollte durch eine möglichst ähnliche Zahl an Wählern legitimiert sein (wenn auch das entscheidende Kriterium für die Gleichheit nicht die Zahl der Wähler pro Abgeordnetem, sondern umgekehrt die Zahl der Abgeordneten pro Wähler ist), aber in einem autarken Gremium ist wiederum die Gleichheit seiner Mitglieder sinnvoll. Wo die exakte Abbildung des Willens der Wähler erwünscht ist, sollte man sie besser gleich direkt fragen bzw. ihnen die Möglichkeit geben, selber entsprechend aktiv zu werden.

Übrigens (falls das nicht klar war): Mein Vorschlag mit der Vergrößerung des Parlaments war natürlich nicht ernst gemeint. Die Größe des Parlaments wird dabei nicht nur im Detail, sondern auch von der Größenordnung her unkalkulierbar (was allerdings auch für Ausgleichsmandatsregelungen gilt).
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Montag, 16. Juni 2003 - 09:55 Uhr:   

Unterschiedliche Stimmgewichte pro Abgeordneten würden in der Tat das Proportionalitätsproblem lösen. Und bei den modernen Möglichkeiten der EDV-Unterstützung wäre das auch praktikabel.
Es ist aber schon die Frage, ob diese eher winzigen Verzerrungen so schlimm sind, daß man solche Maßnahmen einführen müßte. Die Bremer Bezirksbeispiele beziehen sich ja auf relativ kleine Körperschaften, da kann die Verzerrung mal etwas stärker zuschlagen (aber gerade da muß man auch die Abstimmungsverfahren einfach halten). In größeren Parlamenten sind die Abweichungen ja nur noch hinterm Prozentkomma.

Und eine solche "Lösung" bleibt völlig sinnlos, solange das viel größere Problem der 5%-Hürden-Verzerrung bleibt.
Es gibt ja genügend praktische Beispiele, daß eine Partei mit 40+x% der Stimmen eine absolute Mehrheit im Parlament bekommt (und auch stärker ist als die übrigen ins Parlament gekommenen Parteien), weil in zweistelliger Prozentsatz an Wählerstimmen in den Papierkorb wanderte.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Montag, 16. Juni 2003 - 19:09 Uhr:   

Neben dem Problem "40+x" gibt es noch ein grundsätzlicheres. Der Hinweis darauf, dass eine 5%-Hürde (oder jede andere Hürde) dazu führen kann, dass die grösste Partei die Mehrheit erringt, obwohl sie bei den Wählern nur eine Minderheit erhalten hat, scheint mir wichtig. Das deutlichste Beispiel ist gerade in der Türkei zu sehen: Weil nur zwei Parteien die Hürde übersprungen haben, gibt es auch nur zwei Parteien im Parlament, von denen die eine fast zwei Drittel der Sitze hält.
Es brauchen auch nicht formelle Hürden zu sein, bei kleinen Gremien oder kleinen Wahlkreisen ohne Stimmenverrechnung über die Kreise hinweg entstehen sog. natürlich Quoren, die bisweilen deutlich höher liegen als die 5%-Hürde. Bei 10 Sitzen z. B. liegt dieses natürliche Quorum je nach Ausgangslage bei ca. 7% und kann bis auf 10% klettern.

Das andere grundsätzliche Problem, auf das ich hinweisen möchte, ist jenes der Wahlbeteiligung. Die Wahlbeteiligung liegt in manchen Ländern unter 50%, in andern schwankt sie so von 60 bis 80%. Sogar wenn Wahlpflicht herrscht und diese auch strikte durchgesetzt wird, wird es immer einige Leute geben, die nicht, leer oder ungültig wählen.
Einige Länder, vor allem im ehemaligen Ostblock, schreiben daher eine 50%-Beteiligungsquote vor, damit Wahlen überhaupt gültig sind. In der Praxis führt dies aber bisweilen einfach zu mehrfachen Wiederholungen derselben Wahl.
(In diesem Zusammenhang liessen sich auch die Beteiligungsquoren und Zustimmungsquoten bei Abstimmungen über Sachfragen erwähnen, die ebenfalls oft dazu führen, dass eine Abstimmung ungültig ist.)
In den meisten Ländern gilt hingegen: "Les absents ont toujours tort." Im Extremfall würde es daher auch genügen, wenn eine einzige Stimme abgegeben würde. Diese einzelne Stimme würde dann die Wahl entscheiden.
Eine vollkommene Repräsentation wäre nur dann gegeben, wenn 100% der Wahlberechtigten gültig wählten, was aber kaum je der Fall ist.
Daraus ergibt sich aber folgendes:
Eine "Mehrheit" von 51% bei einer Wahlbeteiligung von 80% ist keine Mehrheit, sondern nur eine Quote von 40.5% der Wahlberechtigten, also eine Minderheit. 48%, die eine Mehrheit der Sitze dank Hürde erzielen, bei 75% Wahlbeteiligung sind keine Mehrheit, sondern nur eine Minderheit von 36% der Wahlberechtigten.
Das Thema lässt sich noch ausweiten, indem die Abgrenzung des Kreises der Wahlberechtigten in Frage gestellt wird: Wenn in einem Quartier nur noch gerade 20% Wahlberechtigte leben, dann ist das Wahlergebnis in diesem Quartier kaum mehr als repräsentativ zu betrachten. Jede Grenzziehung der Wahlberechtigung nach Alter, Wohnsitz, Nationalität, Ausschlussgründen usw. ist immer irgendwie diskutabel. Wenn wir uns, um nicht unnötig Ärger zu provozieren, auf die Stimmausschlussgrände beschränken, so sehen wir, dass es Länder gibt, die nur geistiges Unvermögen (Geistesschwäche und Geisteskrankheit) als Ausschlussgrund ansehen, andere dagegen z. B. bestimmte Arten des Konkurses, strafrechtliche Verurteilungen in je verschiedenem Umfang, Abhängigkeit vom Staat z. B. durch bestimmte Beamtungen, Bezug von Sozialhilfe usw.
Wenn wir die liberalste Regelung als Norm nehmen, dann sind in allen andern Ländern manche Leute von der Wahl ausgeschlossen und somit in keinem Fall repräsentiert.

Wenn wir das reine Repräsentationsprinzip als Massstab nehmen, d. h. dass das Parlament ein nach Möglichkeit treues, wenn auch verkleinertes Spiegelbild der Bevölkerung abgeben soll, so ist Wahl eigentlich ein schlechtes System.
Weit bessere Ergebnisse würden wir durch Auslosung aus der Gesamtzahl der Wählbaren erreichen. Nur zum Vergleich: Wenn zufällig tausend Leute für eine Umfrage ausgeweählt werden, dann gilt diese als repräsentativ.

Wenn also von "Mehrheiten" gesprochen wird, dann sollte vielleicht besser auch daran gedacht werden, worum genau es geht, um eine Mehrheit WOVON.
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Cram
Veröffentlicht am Montag, 16. Juni 2003 - 20:15 Uhr:   

Philipp Wälchli,

na das nenn ich mal einen unkonventionellen Vorschlag. Gab es das nicht mal im antiken Griechenland???
Das Problem an einer solchen Methode ist das man dann die Annahme von Mandaten verpflichtend machen muesste, ansonsten kaeme man kaum zu Potte, denn man kann ja nicht damit rechnen das alle Hurra schreien wenn sie fuer ein politisches Amt ausgelost werden.
Aehnlich ist es ja bei der Bennenung von Schoeffen, wobei hierbei Renttner und Personen die sich freiwillig melden ueberrepraesentiert sind. Insgesamt kein sehr realistischer Vorschlag.
Aber Sie weisen sehr zurecht daraufhin das die strikten Proportionalitaetsbefuerworter erklaeren muessen, was sie abgebildet sehen moechten. Sie argumentieren mit der Abbildung der Waehler. Aber laut Art. 38 GG sind die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes. Teil des Staatsvolkes sind laut Rechtssprechung des BVG (ausser bei Kommunalwahlen) alle deutschen Staatsangehoerigen. Von diesen sind nun wiederum in der Regel die ueber 18-jaehrigen (Abweichende Regelungen z.T. bei Kommunalwahlen) wahlberechtigt.
Aber als Repraesentanten des GANZEN VOLKES, als die die Abgeordneten definiert sind ist es auch gerade ihre Aufgabe auch die Minderjaehrigen und Nichtwaehler zu vertreten, denn diese gehoeren ja ebenso zum Staatsvolk, koennen sich bzw. wollen sich aber nicht an der Wahl beteiligen.
Die Anzahl der Waehler wird nie und kann niemals dem ganzen Volk entsprechen. Von daher ist es zumindest fragwuerdig wenn man ein Wahlsystem dementsprechend perfektioniert um eine moeglichst "mathematisch exakte Uebertragung" der Waehlerstimmen runter auf die Verteilung der Abgeorndetenmandate zu bewerkstelligen und damit das Verhaeltniswahlsystem auf die Spitze zu treiben (wobei man dann konsequenterweise auch die Sperrklauseln beseitigen muesste).
Von daher, aber nicht nur von daher lehne ich es auch ab sich vollkommen auf dieses Ziel (perfekt proportionale Abbildung der Waehlerstimmen) zu fokusieren. Ziel von Wahlen ist es auch immer ein handlungsfaehiges Gremium (Parlament) herzustellen. Um die Sitze konkurrieren unterschiedliche Parteien mit, so sollte es jedenfalls sein, unterschiedlichen Programmen und Alternativen, die sie auch klar vertreten. In Deutschland gibt es (im wesentlichen zwei grosse Parteien (SPD,CDU, in Bayern CSU) und zwei kleine. Mit Ausnahme der Grossen Koalition, die ich grds. nicht fuer wuenschenswert halte sind SPD-Gruen, CDU|CSU-FDP und SPD-FDP miteinader koalitionsfaehig (fehlt nur noch Schwarz-Gruen???).
Das Wahlsystem sollte auch mit ermoeglichen das eine Mehrheitsbildung nicht erschwert wird. Ein Mehrheitswahlrecht bietet so eine Moeglichkeit. Doch auch das deutsche System der personalisierten Verhaeltniswahl hat solche Regelungen die Mehrheitsbildung erleichtern (Sperrklauseln und Mehrheitsklauseln (wenn eine Partei einmal 50%+ 1 Stimme der Waehler hat, dann sollte sie auch aus meiner Sicht die Mehrheit in dem Parlament haben).
Daneben koennte man noch darueber nachdenken zukuenftig vorzusehen das Parlamente eine ungerade Abgeordnetenzahl haben muessen, so koennten Patts ausgeschlossen werden, was durchaus bei kleineren Landtagen leicht vorkommen kann. Auch Gerichte sind (meistens> Ausnahme BVG) mit einer ungeraden Zahl von Richtern benannt. Es ist ohnehin in vielen Landtagen nicht so das 50% in Wahlkreisen und 50% ueber Listen gewaehlt werden, so dass ich keine zwingenden Grund sehe eine gerade Zahl von Abgeordneten vorzusehen(wobei man dann natuerlich ueber Veraenderungen zur Vermeidung von Ueberhangmandaten nachdenken muesste. Dazu koennte man die Zahl der Wahlkreise reduzieren und dafuer Kummulieren bei der Listenstimme zuzulassen, wobei es dann sinnvoll waere die grossen Bundeslaender in mehrere (Unter-)Listenwahlkreise einzuteilen, wobei man aber die Verrechnung mit Ueberhangmandate auf Landesebene machen koennte.

Man sollte bei allen im Bewusssein halten was Winston Churchill zurecht gesagt hat> die Demokratie (parlamentarische Demokratie) ist eine schlechte Staatsform, aber wir kennen keine bessere. Und daher wird jedes Wahlsystem seine Fehler und Vorteile haben.
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c07
Veröffentlicht am Montag, 16. Juni 2003 - 20:40 Uhr:   

Philipp:
> Wenn wir das reine Repräsentationsprinzip als Massstab nehmen, d. h. dass
> das Parlament ein nach Möglichkeit treues, wenn auch verkleinertes Spiegelbild
> der Bevölkerung abgeben soll, so ist Wahl eigentlich ein schlechtes System.

Will das irgendwer?

Repräsentativität ist ein schwammiger Begriff. Eigentlich muss man da immer dazusagen, auf was sie sich eigentlich beziehen soll. Es gibt da Hunderte von Möglichkeiten, und keine Umfrage und kein Parlament kann in jeder Hinsicht gleichzeitig repräsentativ sein. Sinnvoll ist sie auch nur in Bezug auf die politischen Anschauungen, die in Form der Parteien auch noch ziemlich grob gerastert sind. Sicher gibt es noch ein paar andere Kriterien, nach denen ein Parlament vielleicht annähernd repräsentativ sein sollte, speziell die regionale Herkunft und das Geschlecht. Aber schon beim Alter ist die volle Repräsentativität nicht mehr erwünscht. Niemand will Kleinkinder als Abgeordnete im Parlament haben.

Dass Leute, denen es zumutbar wäre, abzustimmen, es aber aus Bequemlichkeit, Desinteresse oder auch bewusst nicht tun, bei der Berechnung von Mehrheiten nicht berücksichtigt werden, halt ich völlig normal. Etwas problematischer ist es schon bei denen, die nicht zu einer gültigen Stimmabgabe fähig sind, aber auch das ist hinnehmbar, solang es nicht vom System provoziert wird. Dass aber Leute, denen die Mitwirkung wegen Sperrklauseln o.Ä. verwehrt wird, nicht zählen sollen ist eine Farce. Wenn sie schon nicht zur Bildung der tatsächlichen Parlamentsmehrheit beitragen dürfen, sollte man sie wenigstens nicht zu deren Legitimation heranziehen. Und wenn ein großer Teil der Bevölkerung oder gar deren Mehrheit gar nicht wahlberechtigt ist, kann man eigentlich kaum noch von Demokratie sprechen.

Cram:
> wobei man dann konsequenterweise auch die Sperrklauseln beseitigen muesste

Es würde schon reichen, für diesen Fall Alternativstimmen vorzusehen.
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angelina
Veröffentlicht am Sonntag, 20. Februar 2005 - 14:02 Uhr:   

hallo an alle.bin total verzweifelt!
habe am mittwoch eine geschichtsarbeit und das thema ist hauptsächlich bismarck...
nun habe ich schon alles durchgelesen und verstehe aber die bedeutng von dem begriff 3-klassenwahlrecht nicht.heißt das dass adel mittel und bauer wählen durften??Bitte helft mir!!danke im voraus!angelina
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Patrick
Veröffentlicht am Sonntag, 20. Februar 2005 - 14:58 Uhr:   

Gibt doch mal bei Google "Klassenwahlrecht" ein. Fertig.
Bitte, Danke
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Marek
Veröffentlicht am Sonntag, 20. Februar 2005 - 15:03 Uhr:   

oder bei Wikipedia:
http://de.wikipedia.org/wiki/Dreiklassenwahlrecht
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Johann
Veröffentlicht am Sonntag, 20. Februar 2005 - 22:10 Uhr:   

oder wahlrecht.de
http://www.wahlrecht.de/lexikon/dreiklassenwahlrecht.html
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Gaushi
Veröffentlicht am Donnerstag, 08. September 2005 - 14:18 Uhr:   

Ey, kann mir einer bei den Hausaufgaben in POWI helfen???
Frage: Vor - und Nachteile des Stimmzettels oder Wahlsystem???
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J.A.L.
Veröffentlicht am Donnerstag, 08. September 2005 - 15:01 Uhr:   

Ey, nein.
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Queen (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Samstag, 13. Januar 2007 - 17:53 Uhr:   

Hallo! Könntet ihr mir vielleicht helfen??
Ich muss ein Referat über Wahlsysteme schreiben. Leider verstehe ich noch nicht so ganz wie das mit der 'Umkehrung der Stimmen-Mandate-Relation: bias' funktioniert. Kann mir das vielleicht jemand leicht verständlich erklären?
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Gast (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Samstag, 13. Januar 2007 - 18:05 Uhr:   

Ein simpler Versuch: Etwa bei einem Mehrheitswahlsystem kann die Partei, die 49 % der Wahlkreise mit großer Mehrheit gewinnt trotzdem nicht mehr Sitze erringen, als eine Partei, die 50 % + einem Wahlkreis mit jeweils nur paar Stimmen Vorsprung gewinnt. Das kann bei einem Verhältniswahlsystem grundsätzlich nicht passieren, außer etwa beim Bundestagswahlrecht, wo eine Partei mit weniger als der Hälfte der an der Sitzverteilung teilnehmenden Stimmen durch Überhangmandate die Parlamentsmehrheit erzielen kann.
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Queen (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Samstag, 13. Januar 2007 - 18:11 Uhr:   

Wenn man z.B 100 Wahlkreise hat, und Partei A 40 Wahlkreise mit einer großen Mehrheit gewinnt, aber Partei B die restlichen 60 Wahlkreise mit knapper Mehrheit gewinnt, bekommt Partei B 60% der Sitze und Partei A nur 40%,obwohl Partei A über 50% der Gesamtstimmen hat? Habe ich das jetzt richtig verstanden?
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Gast (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Samstag, 13. Januar 2007 - 18:23 Uhr:   

@Queen
Ja, das Beispiel gilt aber nur in Staaten mit Mehrheitswahlsystem. In in diesem Zusammenhang interessant ist auch Gerrymandering.
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Queen (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Samstag, 13. Januar 2007 - 19:32 Uhr:   

Dankeschön :-) Also ich muss zugeben, mittlerweile finde ich die Wahlsysteme sogar interessant. ;)
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Queen (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Samstag, 13. Januar 2007 - 20:29 Uhr:   

Noch eine Frage: Wie hätten sich die Grünen, B90/Grüne entwickelt, wenn sie in England entstanden wären und ähnlichen Zuspruch wie in Deutschland gehabt hätten? (Also Entwicklung ab 1990)
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görd
Veröffentlicht am Samstag, 13. Januar 2007 - 21:42 Uhr:   

Es gibt doch eine grüne Party in UK (glaub sogar mehrer, eine für Schottland, eine für England und Wales sowie eine für Nordirland). Die Grünen von England und Wales haben zwei Mandate bei der Europawahl 2004 gewonnen.
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Tim Spier
Veröffentlicht am Montag, 15. Januar 2007 - 12:25 Uhr:   

@Queen: Das kann man vermutlich ganz gut an den Erststimmen in Deutschland ablesen: Vermutlich hätten sie regelmäßig einen Mandatsträger, nämlich Christian Ströbele aus Kreuzberg-Friedrichshain. Das wäre zumindest die Transformation des arithmetischen Effekts des Wahlrechts. Hinzu kommt, dass es natürlich "psychologische Effekte" bei den unterschiedlichen Wahlrechten gibt, die sich aber nicht so pauschal beziffern lassen. Wichtig ist - gerade beim relativen Mehrheitswahlrecht - auch die Konkurrenzsituation zu den anderen Parteien und das Vorhandensein regionaler Hochburgen. Die Grünen würden also davon profitieren, wenn die Wahlkreise möglichst alleine alternative Stadtquartiere oder Universitätsstädte umfassen würden. Aber auch hier dürften Mandate eher unwahrscheinlich sein.
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Fragender (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Dienstag, 16. Januar 2007 - 22:12 Uhr:   

@Tim Spier:
Vermutlich hätten die Grünen nicht mal Kreuzberg-Friedrichshain gewonnen, weil Ströbele garnicht so bekannt geworden wäre, wenn er nicht schonmal im BT gesessen hätte und zudem Vorsitzender einer im BT vertretenen Partei gewesen wäre.
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Tim Spier
Veröffentlicht am Donnerstag, 18. Januar 2007 - 11:07 Uhr:   

@Fragender: Gut möglich. Letztlich kann man bei solchen Fragen auch nur spekulieren.
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clovis
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Februar 2007 - 10:24 Uhr:   

Guten Tag

Cram: wobei man dann konsequenterweise auch die Sperrklauseln beseitigen muesste

c07: Es würde schon reichen, für diesen Fall Alternativstimmen vorzusehen.

Das Problem ließe sich auch dadurch beheben, dass die erfolglosen Parteien/Kandidaten entscheiden, an welche erfolgreiche Partei ihre Stimmen weitergegeben werden.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit,
Clovis
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Februar 2007 - 19:43 Uhr:   

Der Vorschlag ist an sich zunächst in gewisser Weise bestechend. Allerdings glaube ich, dass er aus verschiedenen Gründen in der Wirklichkeit chancenlos sein wird:
- Es gibt keinen ersichtlichen Grund, weshalb Leute, die nicht gewählt worden sind, einen Einfluss auf das weitere Wahlergebnis haben sollten - sie sind ja eben in der Wahl durchgefallen.
- Systematisch ist es auch nicht nachvollziehbar, weshalb ein solcher Entscheid den Vertretern der Parteien (Listen) zugeschoben werden soll und nicht den Wählern. Wir nähern uns damit Problemen, wie sie unter den Titeln "Familienwahlrecht", "Wahlrecht ab Geburt" usw. besprochen wurden: Der Wahlberechtigte, der sich heute für eine Partei entscheidet, die wahrscheinlich schlecht abschneidet und möglicherweise oder sogar wahrscheinlich an der Sperrklausel scheitert, weiss immerhin, was er tut (bzw. müsste es wissen und kann sich deshalb nicht gut mit Unwissen herausreden). Er riskiert durch seinen Entscheid, eine weitgehend wertlose Stimme abzugeben bzw. indirekt andern zu helfen (eine entsprechende Beispielsammlung für den Einfluss von Wählen, Nichtwählen, ungültig Wählen habe ich unter einem andern Titel angeführt). Aber: Es ist seine freie Entscheidung! Wenn hingegen die Vertreter der betreffenden Liste darüber bestimmen können, was mit den Stimmen derer, die ihre Liste gewählt haben, aber nun nicht zum Zug kommen, weil die Liste insgesamt unter 5% geblieben ist, dann kauft der Wähler die Katze im Sack, dann bestimmen einige wenige Leute im Hinterzimmer unter Umständen über tauesende Stimmen. Ich glaube nicht, dass die deutsche Öffentlichkeit dies schlucken würde. "Die Parteibonzen brauchen nicht noch mehr Macht!", dürfte etwa eine allgemeine Parole oder doch zumindest Biertisch-Parole sein, auch in deutschen Landen, in denen man sich traditionell mächtige Politiker gewohnt ist.
- Somit müsste als Mindestbedingung gelten, dass die Listen ihre Alternativentscheidungen für den Fall des Scheiterns bereits vor der Wahl festgelegt haben. Weil aber nicht sicher zu prognostizieren ist, welche Liste scheitert, haben wir wieder dasselbe Problem, wenn die Liste der deutschen Nationaldemokraten als Alternative für den Fall des Scheiterns ausgerechnet die Liste der Nachfahren deutscher Opfer des Kommunismus bzeichnet - denn beide werden vermutlich auf absehbare Zeit hin chancenlos bleiben. Deshalb müssten die Listen eine Reihe bilden, nach der ihre Stimmen an die andern Listen weitergegeben werden, so dass dann die Stimmen an die Liste gehen, die als erste in der jeweiligen Reihe einer gescheiterten Liste die Sperrklausel übersprungen hat. Dadurch wird aber das Verfahren wiederum ziemlich unübersichtlich und kompliziert. Es fragt sich, ob das dann wirklich auch auf die Zustimmung der Wählerschaft stösst. Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Treffen die Wähler die Alternativentscheidungen, dann müssen sie sie gewissermassen ins Blaue hinein treffen, entweder nach ihren eigenen politischen Vorlieben oder aber nach ihren Mutmassungen darüber, welche Liste wie gut abschneiden wird und welche am ehesten die Alternativstimme lohnen würde. Sie kennen ja eben das Wahlergebnis nicht und können es auch nicht kennen. Dasselbe wäre der Fall, wenn die Listen sich vor der Wahl auf eine Alternativstimmenvergabe festlegen müssten. Dann müssen auch sie in Unkenntnis des Wahlergebnisses entscheiden und haben somit weder einen Vorteil noch einen Nachteil gegenüber den Wählern. Geben sie aber ihre Alternativentscheidung erst nach Vorliegen des Ergebnisses ab, entscheiden sie also in Kenntnis des Wahlergebnisses und können damit Überlegungen anstellen, die den Wählern versperrt blieben und die auch den Listen, die erfolgreich waren, versperrt waren und bleiben. An diesem Punkt steht eine Verfassungswidrigkeit zu befürchten; man sehe sich nur die Diskussion um die Nachwahl in einem Kreis in Dresden an, die im Vergleich zum vorgeschlagenen Modell nur um einen harmlosen Fall kreist. Könnten einige wenige Parteifunktionäre in Kenntnis des Wahlergebnisses nachträglich über die Vergabe von Tausenden oder gar Zehntausenden von Stimmen entscheiden - dann wäre meines Erachtens ein Verdikt aus Karlsruhe doch erheblich wahrscheinlich.
- Schliesslich sei auch auf die staatspolitische Komponente hingewiesen: Durch eine solche Entscheidung der Listenvertreter käme eine Art indirekte Koalitionsrunde zustande, in der nach Überlegungen entschieden wird, welche andere Partei sich am ehesten erkenntlich zeigen werde, evtl. auch mal einen Ministerposten auch an Leute einer gescheiterten Liste verteilen usw. Nun ist gegen eine Koalitionsrunde, auch eine unter mehreren Beteiligten statt nur zwei, grundsätzlich nichts einzuwenden. Niemand kann auch etwas dagegen unternehmen, dass die Wahlberechtigten sich vor einer Wahl Gedanken über mögliche Koalitionen machen und daher vielleicht die Erststimme dem Kandidaten des gewünschten Koalitionspartners geben, auch dagegen nicht, dass die Parteien im Wahlkampf gelegentlich einen Seitenblick auf eine mögliche Koalitionspartnerin werfen und darum vielleicht das Fettnäpfchen, mit dessen Hilfe man die betreffende Partei spielend in die Pfanne hauen könnte, trotz vorgeblich hitzigen Wahlkampfes nicht ausspielen, denn eine Koalitionspartnerin, die in die Pfanne gehauen wurde, nutzt einem in der Regel nichts. Ob es aber Sinn und Zweck sein kann, eine verkappte Koalitionsdebatte mit an sich gescheiterten Wahlbewerbern zu führen, bevor die eigentliche Koalitionsrunde im Parlament folgt, erscheint mir fraglich, zudem werden gerade durch eine solche Ziwschenrunde eigentliche Wahlentscheidung und Koalitionsrunde vermischt, was ich persönlich staatspolitisch nicht vorbildlich finde, statt zusätzlich zu komplizieren und Intransparenz zu schaffen sollte eher vereinfacht und transparent gemacht werden.
- Es fragt sich auch, wie es um die Gleichheit unter den Parteien bestellt sei: Eine siegreiche CDU, die ein glanzvolles Ergebnis eingefahren hat und in manchen Wahlkreisen noch Stimmen zu verschenken hätte, kann diese ja nicht einer unterstützungsbedürftigen FDP ausleihen oder übertragen. Hingegen könnten Parteien, die an sich gescheitert sind, anderen Parteien Stimmen übertragen. Ob dies noch Gleichbehandlung darstelle oder nicht, darüber lässt sich vermutlich kontrovers debattieren.

Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass die 5%-Hürde ein gewisses Problem in sich birgt: 5% bei schwankender Wahlbteiligung kann sehr unterschiedlich hoch ausfallen. Man kann sich daher fragen, ob dieses relative Kriterium in dieser absoluten Form wirklich so gut sei. Unter Umständen kann ja eine Partei erfolgreich sein, obwohl sie selbst schwach ist, nur weil die anderen relativ noch schwächer sind und daher die 5%-Hürde ziemlich tief liegt; unter gegenteiligen Umstäden kann eine Partei trotz eines absoluten Rekordes an Stimmen an der Hürde scheitern, nur weil diese durch eine hohe Beteiligung sehr hoch gelegen ist.
Hingegen gibt es ja eine alternative Art, in den Bundestag einzuziehen, nämlich Durch Gewinn von drei Direktmandaten, was vor allem stark regional verankerte kleine Parteien begünstigt. Drei Direktmandate sind und bleiben immer drei, obwohl natürlich je nach Wahlkreis unterschiedliche Anteile an der Gesamtzahl abgegebener Stimmen für den Sieg genügt. Rechnet man aber, dass die Wahlkriese etwa gleich gross sind und dass im Schnitt ein bestimmter Anteil an allen Stimmen für den Sieg genügt, so ergibt sich eine doch in einem gewissen Bereich wohl verhältnismässig stabile Zahl von Stimmen, die für drei Direktmandate (richtig verteilt) genügen würde.
Man könnte also auch eine Hürde formulieren, die anders berechnet würde als durch starre 5% der gültigen Stimmen, beispielsweise so, dass die durchschnittliche Stimmenzahl aller erfolgreichen Direktkandidaten bundesweit berechnet und mit 3 multipliziert wird; wer soviele Zweitstimmen erreicht, zieht in den Bundestag ein. Um extreme Meinungen fernzuhalten, wäre eventuell auch folgende Formulierung möglich: Hat eine Liste mindestens soviele Zweitstimmen erhalten, wie 3% aller in Deutschland am Wahltag eingetragenen Wahlberechtigten entsprechen, nimmt sie an der weiteren Verteilung teil. Dies wäre immer noch eine schwankende Zahl, aber unabhängig von der Wahlbeteiligung und im voraus bekannt. Würde einmal die Wahlbeteiligung auf 50% aller Wahlberechtigten sinken, dann würden 2.5% aller Wahlberechtigten genügen, eine Partei in den Bundestag zu bringen; nur bei 100% Wahlbeteiligung entspricht die 5%-Hürde auch 5% aller Wahlberechtigten, bei 80% Wahlbeteiligung z. B. nur noch 4%. Warum also nicht ein Quorum formulieren, das auf die Zahl aller Wahlberechtigten abstellt? Um die Sache zu vereinfachen, liesse sich im Wahlgesetz auch eine Zahl fixieren, vorzüglich wohl in runden Tausend, bei deren Erreichen eine Liste erfolgreich ist. Das wäre einfach, klar und einsichtig, zudem auch weitergehend vorhersehbar.
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clovis
Veröffentlicht am Freitag, 16. Februar 2007 - 10:34 Uhr:   

Guten Tag Herr Wälchli,

Ihrer Überlegungen zur starren 5%-Hürde sind durchaus beachtlich, speziell dieser Vorschlag aber: die durchschnittliche Stimmenzahl aller erfolgreichen Direktkandidaten bundesweit berechnet und mit 3 multipliziert wird; wer soviele Zweitstimmen erreicht, zieht in den Bundestag ein. erscheint mir zweifelhaft. Bei 300 Wahlkreisen wird der Stimmendurchschnitt für ein Direktmandat irgendwo bei (1/6)% liegen, eher darunter. Damit hätte man die Hürde auf ca. 0.5% der Zweitstimmen verringert. Die beiden Kriterien beruhen einfach auf völlig unterschiedlichen Mechanismen.

Ihre Einwände gegen die Stimmenübertragung kann ich aber nicht nachvollziehen.

Es gibt keinen ersichtlichen Grund, weshalb Leute, die nicht gewählt worden sind, einen Einfluss auf das weitere Wahlergebnis haben sollten

Nun die Leute wurden ja gewählt, sonst hätten sie nichts zu übertragen. Speziell bei "übernatürlichen" Quoren wie der 5% Hürde bedarf eher die Tatsache, dass Leute die gewählt wurden, nichts zu sagen haben, einer Begründung.

Ich denke diese Begründung kann man so formulieren: Durch die ständige Vertretung vieler kleiner und kleinster Parteien im Parlament, ist es sehr wahrscheinlich, dass es zu einem Patt kommt, das der Gesamtheit dieser Splitterparteien eine überproportionale, destruktive Macht verleiht.

Durch die Stimmenübertragung hätten die Splitterparteien einen gewissen Einfluß, der durch das Prinzip der repräsentativen Demokratie vollauf gedeckt ist, der aber einmalig wäre und nicht eine andauernde, destruktive Macht entfalten kann.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Freitag, 16. Februar 2007 - 18:05 Uhr:   

Im Grunde ist es schon ein starkes Stück, eingehende und differenzierte Ausführungen mit dem gelinde gesagt pauschalen Satz "Ire Einwände ... kann ich aber nicht nachvollziehen" abzuschmettern, ohne auch nur auf ein einziges der vorgebrachten Argumente einzugehen.

Aber nur noch einmal zum Mitschreiben: Wahlen werden durchgeführt, damit die Wähler einen Einfluss erhalten. Jedem Wahlberechtigten ist es dabei überlassen, auch eine Option zu wählen, die keinen oder nur geringen Einfluss aufs Ergebnis hat, einschliesslich des Nichtwählens, des Einwerfens eines leeren Zettels und des Wählens unter Ungültigmachung der Stimme (bspw. Anbringen einer Bemerkung auf dem Wahlzettel). Grundsätzlich ist es also Sache des Wählers, ob er eine Liste wählen will, die gefährdet ist, unter die 5%-Hürde zu fallen. Das alles kann der Wähler selbst entscheiden.
In dem vorgeschlagenen Modell kann der Wähler als einzelner und kann auch das Kollektiv der betroffenen Wähler nicht mehr voraussehen und nicht mehr entscheiden, was mit den Stimmen geschieht, die für gescheiterte Listen abgegeben wurden.
Es wird an dieser Stelle etwas eingeführt, was mit dem Rekurs auf den Wähler nicht mehr unmittelbar zu tun hat und dadurch nicht mehr legitimiert ist.
Mit andern Worten: Die Grenze zwischen Wählerschaft und Wahlakt einerseits sowie der gewählten Vertretung anderseits und deren politischer Konsensfindung wird verwischt. Dies ist weder systematisch noch realpolitisch irgendwie besonders überzeugend noch wünschenswert.

Das vorgeblich "schlagende" Argument schliesslich beruht auf der Ausnutzung einer Doppeldeutigkeit der deutschen Sprache: "wählen" kann zweierlei bedeuten. Man kann sagen "Karl wählt Friedrich", d. h.: "Karl gibt Friedrich bei einer Wahl seine Stimme", man kann aber auch sagen: "Fritz ist gewählt", d. h.: "Fritz hat in einer Wahl ein Mandat gewonnen".
Niemand bezweifelt, dass auch nicht erfolgreiche Kandidaturen Stimmen erhalten können und meistens auch einige erhalten haben (sehr selten erhält jemand in einer offenen Volkswahl gar keine Stimme). Aber "Stimmen erhalten haben" ist nicht gleichbedeutend mit "gewählt worden sein", denn dieses "gewählt worden sein" ist ja eigentlich "in einer Wahl Mandate gewonnen haben".
Und in keinem einzigen Wahlsystem der Welt reicht es aus, einfach nur Stimmen erhalten zu haben, um erfolgreich aus einer Wahl hervorzugehen, sondern es braucht eine Mehrheit oder einen gewissen Anteil aller Stimmen, um erfolgreich zu sein.

Und genau an dieser Stelle kommen die Warum-Fragen ins Spiel: Warum sollten die 30'000 Stimmen von gescheiterter Liste X an Liste Y gehen, wenn die erfolgreiche Liste A noch 50'000 Stimmen überschuss hat, der nicht mehr für einen Sitz zusätzlich reicht, den aber Liste B, der präsumptive Koalitionspartner von A, noch gut gebrauchen könnte? Wenn es Anstoss erregt, dass die Wähler von Liste X keinen Einfluss mehr auf das Wahlergebnis erhalten, warum stellt es dann keinen Anstoss dar, dass die überschüssigen Wähler von Liste A genauso leer ausgehen?
Warum ist es überhaupt anstössig, wenn gewisse Stimmen bei der Endverteilung ausser Betracht fallen? In jedem Wahlverfahren gibt es gewisse Mindestquoren, die es braucht, um überhaupt einen Sitz zu erhalten. In einem Wahlsystem mit relativer Mehrheit (wie bei den deutschen Direktwahlkreisen) kann es sogar so sein, dass die grosse Mehrheit der Stimmen unberücksichtigt bleibt. Warum wird nicht dies zuerst gerügt?

Schliesslich kann ich das entscheidende Argument noch in der Biertisch-Parole vortragen: "Warum in aller Welt sollen diese Parteibonzen, zumal die gescheiterten, eigentlich noch mehr Macht über uns Wähler erhalten?"
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clovis
Veröffentlicht am Mittwoch, 21. Februar 2007 - 09:30 Uhr:   

Guten Tag Herr Wälchli,

als erstes lassen Sie mich bitte versichern, dass ich nur deswegen nicht detaillierter auf ihre ausführliche Argumentation eingegangen bin, weil ich die jetzige Form des Wahlrechts in Deutschland mit 5%-Hürde keineswegs als irgenwie anstößig empfinde. Ich persönlich denke auch nicht, dass zwischen dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl und Listenquoren eine zwingende Inkompatibilität besteht. In meiner Argumentation nehme ich nur versuchsweise diesen Standpunkt ein, um zu prüfen, welche Konsequenzen sich unter dieser Randbedingung ergäben. Es bleibt ja immerhin das Problem, dass Listenquoren bei Verhältniswahlen ein systemfremdes Detail sind, das begründet werden sollte.

Dies vorangeschickt, sehe ich aber noch immer nicht ein, wie das Argument "Warum in aller Welt sollen diese Parteibonzen, zumal die gescheiterten, eigentlich noch mehr Macht über uns Wähler erhalten?" stechen soll, wenn man diese Veränderung gegenüber dem aktuellen Wahlsystem in Deutschland betrachtet. Die Wähler der gescheiterten Kleinparteien haben keinen Grund, sich zu beschweren, auch nicht jene, die von den übertragenen Stimmen profitieren. Bleiben noch jene Parteien, die von den Kleinen "diskriminiert" wurden. Doch diese könnten redlicherweise mit diesem Argument kaum das aktuelle Wahlsystem verteidigen, sondern höchstens für eines mit Alternativstimmen plädieren.

Vergleicht man nun Stimmenübertragung vermöge "Parteibonzen" einerseits und Alternativstimmen andererseits, bleiben möglicherweise nicht viele zwingenden Gründe übrig, die für die "Parteibonzen" sprechen. Am ehesten noch dieses: Derzeit gehen die Wähler, die eine kleine Partei wählen ein gewisses Risiko ein, das durch die Möglichkeit Alternativstimmen abzugeben nahezu vollständig beseitigt würde. Will man dieses Risiko als Konzentrationsanreiz erhalten, böte die Stimmenübertragung durch die Parteien eine Möglichkeit.

Was die von Ihnen monierte fehlende Möglichkeit der Übertragung überflüssiger Stimmen von großen auf kleine Parteien angeht, so möchte ich auf den Strang "Verhältniswahl übertragbar auf Mehrheitswahl (USA)" verweisen. Dort habe ich ein Wahlsystem beschrieben, in dem Derartiges integraler Bestandteil ist und das ich - zumindest derzeit - als "ideales" favorisiere.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit,
Clovis

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