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Bündner Modell / Grabenwahlsystem

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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Donnerstag, 22. Mai 2003 - 12:04 Uhr:   

Ein ganz neues Modell mit einem Grabenwahlrecht hat am letzten Sonntag der Kanton Graubünden (Schweiz) beschlossen. Dieses System erscheint unter verschiedenen Gesichtspunkten interessant:
Historisch geht ihm voraus, dass bisher in den 39 Kreisen gewählt wurde, und zwar im Mehrheitsverfahren. Dabei war die Ausgestaltung in den Kreisen verschieden, schon allein auf Grund der Tatsache, dass n manchen Kreisen mehr als 1 Sitz zu vergeben war (also keine reinen Einerwahlkreise). Das neue Modell wurde in einer Variantenabstimmung beschlossen. Ihm Stand das bisherige gegenüber.
Abgestimmt werden konnte wie folgt: Abstimmung über bisheriges Modell mit Ja oder Nein bzw. Enthaltung, Abstimmung über das neue Modell mit Ja, Nein bzw. Enthaltung. In einer dritten Frage konnte angekreuzt werden, ob Modell A oder B bevorzugt würde, falls beide Modelle eine Ja-Mehrheit erhalten sollten.
Abstimmungsergebnis: In den Ja-Nein-Abstimmungen wurden beide Modelle deutlich bejaht (wobei zu beachten ist, dass für beide zugleich Ja gestimmt werden konnte). In der Stichfrage, die somit ausschlaggebend wurde, obsiegte das neue Modell aber nur ganz knapp.
Nun zur Ausgestaltung des neuen Modells, das als eine Art Kompromiss zur Modernisierung des bisherigen Systems gedacht ist:
Jeder der 39 Kreise wählt in Zukunft 1 Abgeordneten im Mehrheitsverfahren, d. h. jeder Kreis hat mindestens einen Vertreter, wobei es keine Verfahrensunterschiede mehr zwischen den Kreisen gegeben kann. Die restlichen 81 Sitze (von 120) werden in 11 Wahlkreisen, die über die Kreisgrenzen hinausgehen, nach Verhältniswahlrecht vergeben. Somit liegt also der Fall eines Grabenwahlsystems vor.
Die Ausführungsbestimmungen liegen natürlich noch nicht vor, diese müssen erst noch erlassen werden.
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Ruedi Lais
Veröffentlicht am Donnerstag, 22. Mai 2003 - 13:14 Uhr:   

Aufgrund des Parlamentsprotokolls, das unter http://www.gr.ch/Deutsch/Institutionen/Parlament/Protokolle_Sessionen/juni2002/19_juni-vorw.pdf auch ein Rechenbeispiel enthält, kann von einer Kopie des Bundestagswahlsystems, aber ohne Überhangmandate und ohne gesamtterritoriale Proporzverteilung, gesprochen werden. Die in den Einerwahlkreisen gewonnenen Sitze werden in den 11 Bezirken "berücksichtigt".
Im Grossen Rat wurde auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein seit Jahrzehnten in Deutschland funktionierendes System nicht übermässig kompliziert sein könne. Nun, in Graubünden kommen dann allerdings wahrscheinlich auf Gesetzesstufe noch die CH-Spezialitäten wie Kumulieren, Panaschieren, Wahl von Stellvertretern und evtl. Listenverbindungen hinzu...
Zu beachten ist ausserdem, dass die Kreise zwischen 180 und ca. 32'000 Einwohner zählen.
Im Bezirk Mittelbünden etwa sind von 6 Mandaten 4 Direktmandate, so dass der Proporzeffekt mehr von der konfessionellen und sozialen Struktur der Bezirke abhängt.

Ruedi
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Donnerstag, 22. Mai 2003 - 14:51 Uhr:   

> Im Grossen Rat wurde auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein
> seit Jahrzehnten in Deutschland funktionierendes System nicht
> übermässig kompliziert sein könne.
Höhö, das klingt ja wie "Wenn es sogar die Deutschen kapieren, kann es nicht schwer sein".

Warum soll denn das jetzt ein "Grabenwahlrecht" sein?
Ich habe die Details nicht mehr präsent - aber müßte es da nicht strukturelle Boni für große Parteien geben?
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Donnerstag, 22. Mai 2003 - 15:33 Uhr:   

Das Wahlsystem ist eindeutig ein Verhältniswahltrecht und kein Grabenwahlrecht- gerade das wird ja auch beim deutschen Wahlrecht oft falsch verstanden. Die Auswirkungen auf die Stimmen-Mandate-Relation ist die gleiche wie bei reiner Verhältniswahl in Mehrmannwahlkreisen ohne die Kreismandate, es sei denn, eine Partei bekommt mehr Kreismandate als sie bei d'Hondt im Mehrmannwahlkreis bekommen würde.
Das Wahlrecht ist der in Wales und Schottland schon praktizierten Variante der personalisierten Verhältniswahl recht ähnlich.
Eventuell könnten die Parteien versucht sein, ihre Kreismandatare formell als Unabhängige firmieren zu lassen.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Donnerstag, 22. Mai 2003 - 15:41 Uhr:   

@Thomas Frings:
> Das Wahlsystem ist eindeutig ein Verhältniswahltrecht und kein Grabenwahlrecht-
Das beruhigt mich, dann habe ich wohl doch kein Verständnisproblem.

Vielleicht war Philipp bei seinem Einstiegsbeitrag noch nicht bekannt, daß es eine Verrechnung gibt - das ist wohl der entscheidende Punkt, und den hat ja erst Ruedi nachgereicht.

> Eventuell könnten die Parteien versucht sein, ihre Kreismandatare
> formell als Unabhängige firmieren zu lassen.
Warum auch nicht - ich halte das für legitim.
Vorausgesetzt natürlich, daß dann auch die Wahlkampffinanzierung sauber getrennt wird.
Das bedeutet ja, daß der Direktkandidat ins Risiko geht und auf die Absicherung über die Parteiliste verzichtet. Und er muß die Wähler als Person an sich binden, auf die blinden Parteibuch-Wähler kann er sich nicht verlassen.
Und wenn er ohne Parteiticket und ohne Parteigeld gewählt wird, dann ist er - bei aller immer noch vorhandenen und zulässigen politischen Nähe - auch wirklich unabhängig von der Partei.
Sie kann ihm maximal drohen, bei der nächsten Wahl einen Direktkandidaten gegen ihn zu stellen, das wäre aber schon sehr krass und nicht umbedingt erfolgversprechend.
Ansonsten ist dieser Abgeordnete aber dann tatsächlich unabhängig und kann auf eigene Faust entscheiden.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Donnerstag, 22. Mai 2003 - 16:00 Uhr:   

@ Ralf Arnemann

Man darf die Verhältnisse in Graubünden nicht zu sehr mit Deutschland vergleichen. Viele Kreise (z.B. Calanca, Avers, Val Müstair) sind ja sehr klein und es gibt nur wenige Hundert Wähler. Da kennt wohl jeder seinen Abgeordneten- ganz im Gegensatz zu Deutschland. Die Wahlen sind in der Schweiz sowieso stärker auf Personen und tendenziell weniger auf Parteien ausgerichtet als in Deutschland. Das Risiko hält sich bei taktischen Manövern da wohl in Grenzen- die Wahl in Einerwahlkreisen ist ja oft alles andere als kompetitiv- das sieht man ja auch bei den Kantonen mit nur einem Vertreter im Nationalrat. Viele Kreise mit wenigen Abgeordneten sind wohl seit Menschengedenken in der Hand derselben Partei.
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Ruedi Lais
Veröffentlicht am Donnerstag, 22. Mai 2003 - 16:16 Uhr:   

@ralf, thomas
Der Trick mit der Unabhängigkeit wurde aktenkundig nicht diskutiert. Den muss ich meinen Bündner Parteifreunden mal stecken. Bereits heute finden zahlreiche Absprachen unter den Parteien in den kleinen Kreisen statt.
Eine Parteienfinanzierung gibt es hierzulande nicht, die ein "Unabhängiger" verlieren könnte. Bei den Wahlen vom 18.05.2003 wurden auf 4 von 120 Sitzen offiziell Unabhängige gewählt.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Donnerstag, 22. Mai 2003 - 17:15 Uhr:   

@Ruedi Lais:
> Der Trick mit der Unabhängigkeit wurde aktenkundig nicht diskutiert.
Da gibt es üblicherweise zwei Möglichkeiten: Entweder alle kommen drauf und machen es.
Oder nur eine Partei macht es und alle anderen bezeichnen das als unfaires Foulspiel und Wählertäuschung und dann kanns nach hinten losgehen ...

> Den muss ich meinen Bündner Parteifreunden mal stecken.
Nur so neugierig mal: Welche Partei ist das?

> Eine Parteienfinanzierung gibt es hierzulande nicht, ...
Keine aus Steuergeldern - die meinte ich auch nicht.
Aber ein "unabhängiger" Kandidat müßte wohl auch seinen Wahlkampf komplett privat finanzieren. Wenn die Parteikasse da zuschießt, wäre das wohl ein Einfallstor für Anfechtungsklagen.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Donnerstag, 22. Mai 2003 - 18:02 Uhr:   

Nur zur Klarstellung hier der TEXT der Bestimmungen:

1 Der Grosse Rat besteht aus 120 Mitgliedern.
2 In jedem Kreis wird ein Mitglied des Grossen
Rates nach dem Mehrheitswahlverfahren
gewählt.
3 Die Wahl der anderen Mitglieder des Grossen
Rates erfolgt in den Bezirken nach dem Verhältniswahlverfahren.
Die Direktmandate gemäss
Absatz 2 werden bei der Mandatszuteilung
berücksichtigt.
4 Die Sitze werden entsprechend der schweizerischen
Wohnbevölkerung und unter Berücksichtigung
der Direktmandate gemäss Absatz
2 auf die Bezirke verteilt.
5 Das Gesetz regelt die Stellvertretung.

D. h., dass Direktmandate zwar "berücksichtigt" werden, aber Absatz 2 sagt klar, dass 39 Mitgleder des grossen Rates in den Kreisen im Mehrheitswahlverfahren gewählt werden, woraus sich zwingend ergibt, dass diese im Zweifelsfall vorgehen. Insofern handelt es sich eben doch um ein (leicht kaschiertes) Grabenwahlsystem.
Das erhellt auch aus einem Vergleich mit dem Berner Modell: Dort wird die Auswahl der Abgeordneten so durchgeführt, dass jeder Amtsbezirk einen Vertreter hat, aber für die Verteilung der Sitze auf die Listen ist allein der Proporz in den (grösseren) Wahlkreisen massgebend, eine separate Wahl von Kreisabgeordneten findet nicht statt. Also hie primär Einerwahlkreise, da primär Verhältniswahl.
Auch das deutsche System ist nicht ohne weiteres vergleichbar. Es handelt sich um ein System eigener Prägung.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 10:52 Uhr:   

Jetzt kapiere ich gar nichts mehr.
Was soll denn nun "Die Direktmandate gemäss Absatz 2 werden bei der Mandatszuteilung berücksichtigt." genau bedeuten , wenn es denn nicht eine Listenanrechnung analog dem deutschen Zweistimmensystem ist?
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 11:18 Uhr:   

@ Phillip Wälchli

Erstens ist der Unterschied zu Deutschland so grundsätzlich nicht. Der Unterschied besteht nur darin, daß "Überhangmandate" zu Lasten des Mandatskontingents anderer Parteien gehen. Eine ähnliche Regelung galt übrigens 1950 in Bayern, begrenzt in den 50-er Jahren auch in Niedersachsen und wird jetzt für die Regionalparlamente in Schottland und Wales angewendet.

Zweitens ist der Anteil der Kreismandate mit insgesamt einem Drittel recht klein, so wird es Überhänge wohl nur in sehr geringer Anzahl geben wenn überhaupt. So handelt es sich praktisch um (reine)Verhältniswahl, sofern die Parteien den Proporz nicht systematisch aushebeln, indem sie ihre Kreiskandidaten als Unabhängige oder einer anderen Parteibezeichnung antreten lassen.

@ Ruedi
Aus SP-Sicht wohl nicht sehr schlau als erste mit so einer Strategie zu kommen. Wenn alle dazu übergehen dürfte doch wohl die CVP der größte Profiteur sein und die SP größte Verliererin.
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Ruedi Lais
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 11:44 Uhr:   

@Philipp ...womit Ralfs Frage beantwortet wäre.

Ich denke, die Wahrscheinlichkeit, dass das Proporzsystem mit Absprachen und "Unabhängigen" Direktkandidaten unterlaufen wird, ist recht gross und muss bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden.

Ruedi
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 12:40 Uhr:   

Der Text ist an und für sich klar, die Kriterien der Auslegung, die spätestens vor Bundesgericht angewendet werden, ebenso.
"Berücksichtigen" bedeutet eben nicht "anrechnen". Im Unterschied zum deutschen System ist die Zahl der Abgeordneten fixiert. Also kann es keine Augleichs- oder Überhangmandate geben, die die Zahl der Sitze ändern würden (weder positiv noch negativ). Die einzige verfassungskonforme Auslegung, die möglich scheint, geht dahin, dass Direktmandate angerechnet werden, wenn dies möglich ist, sonst wird der Proporz geschwächt.
Verfassungssystematisch steht die Wahl in Einerwahlkreisen VOR der Regelung zum Proporz und ist daher höher zu werten als der Proporz.
Eine gesetzliche Einschränkung z. B. unabhängiger Kandidaten u. dgl. halte ich nach dem Verfassungstext und der bekannten bundesgerichtlichen Rechtsprechung für unzulässig. Das bedeutet in Konsequenz, dass das Auftreten einzelner unabhängiger Kandidaten oder von nicht-kompensationsfähigen Direktmandaten unweigerlich zu Lasten des Proporzes gehen muss.
Die Direktwahlen sind eben übergeordnet, nicht der Verhältniswahl gleich- oder untergeordnet. Auch eine Verteilung nach Verhältnissen im ganzen Wahlgebiet ist nicht explizit vorgeschrieben (könnte aber im Gesetz vorgesehen werden, in der Schweiz üblich ist es an sich nicht).
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Martin Fehndrich
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 13:06 Uhr:   

Bei einem Grabenwahlsystem gibt es kein Berücksichtigen/Anrechnen der Teilergebnisse.

Philipps Beschreibung im Eingangsposting sieht vielen Kurzbeschreibungen des Bundestagswahlsytem ähnlich, aus denen nicht klar hervorgeht, daß es sich nicht um ein Grabenwahlsystem handelt ist.

Überhangmandate kann es natürlich auch gegeben, nur gibt es nicht nur keine Ausgleismandate, sondern die anderen Parteien erhalten dann weniger Sitze (wie in Schottland). Also Quasi negative Ausgleichsmandate.

Aus Absatz 4 folgt, daß die Sitze der einzelen Bezirke festgelegt werden und es keine Verrechnung zwischen den Bezirken geben kann.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 13:29 Uhr:   

Das ist einfach Unsinn. Bei einer fixierten Zahl von Sitzen kann es keine Überhangmandate geben.
Ob eine Kurzbeschreibung einer andern Kurzbeschreibung ähnlich sieht, halte ich nicht für ein massgebendes Kriterium. Wer hinschaut und sich von liebgewordenen Denkmustern löst, wird erkennen, dass es sich um zwei deutlich verschiedene Systeme handelt.

Man kann natürlich alles zerreden, bis nichts mehr klar ist. Das ist dann allerdings das Problem derer, die da reden, ändert an den Tatsachen aber nichts.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 13:48 Uhr:   

@Philipp:
> Bei einer fixierten Zahl von Sitzen kann es keine Überhangmandate
> geben.
Doch. Ihr habt nur beim Begriff "Überhang" einen unterschiedlichen Bezug im Hinterkopf.
Du beziehst es offenbar darauf, daß diese Mandate über die normale Zahl von Parlamentssitzen raushängen - was natürlich beim Graubündner System nicht geht.
Martins Sprachgebrauch (falls er es so meint, wie ich das verstehe) bezieht sich darauf, daß die Mandate über der normalen Fraktionsstärke der Partei hängen.

Auch beim deutschen Wahlrecht sind es ja gar nicht die als "Überhangmandate" Sitze selber, die die normale Parlamentszahl aufblähen (wenn dies überhaupt vorgesehen ist).
Das sind Wahlkreisabgeordnete in ganz normaler Anzahl (Hälfte des Parlaments). Erst durch den Ausgleich kann das Parlament ausgeweitet werden.

> Man kann natürlich alles zerreden, bis nichts mehr klar ist.
Bitte keinen Streit anfangen!
Eben lichten sich gerade die Nebel - und Martin hat Dir an keinem Punkt irgendeinen Vorwurf gemacht, sondern nur eine oberflächliche Ähnlichkeit zwischen Deiner (korrekten) Beschreibung und manchen (irreführenden) Kurzdarstellungen.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 13:53 Uhr:   

@Ruedi:
> Ich denke, die Wahrscheinlichkeit, dass das Proporzsystem mit
> Absprachen und "Unabhängigen" Direktkandidaten unterlaufen wird, ist
> recht gross ...
Warum so pessimistisch?
Die deutschen Parteien sind ja nun nicht zimperlich, wenn es um das Erreichen von Mehrheiten geht.
Aber meines Wissens hat es in 50 Jahren weder auf Bundes- noch irgendwo auf Landesebene einen Versuch gegeben, diese Möglichkeit zu verwenden.
Dabei wäre das Potential enorm. Hätte z. B. die CDU Baden-Würtemberg letztes Jahr auf eine Landesliste verzichtet (d.h. alle ihre Kandidaten wären nur Direktkandidaten gewesen), dann gäbe es wohl heute eine andere Regierung in Berlin.

> ... und muss bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden.
Sehr schwierig.
Denn mit welchen Kriterien willst Du einen Unabhängigen so klar abgrenzen, daß die Parteien da nichts mehr drehen könnten?
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 14:32 Uhr:   

@ Ralf

In Deutschland sind Strategien, den Proporz auszuhöhlen, mit großen Risiken sowohl für die Partei als auch die einzelnen Kandidaten verbunden. Die bestehen in Graubünden aber nicht oder kaum, wie weiter oben schon von mir beschrieben.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 17:31 Uhr:   

@Thomas:
> In Deutschland sind Strategien, den Proporz auszuhöhlen, mit großen
> Risiken sowohl für die Partei als auch die einzelnen Kandidaten
> verbunden.
Nicht unbedingt - es würde wohl bloß etwas anrüchig wirken.
Deswegen habe ich das Beispiel Baden-Würtemberg genommen.
Die 30 Direktmandate vom letzten Herbst sind eine sichere Bank, eher kriegt sie auch noch ein paar mehr (und wenn da ein schwarzer Besensteil aufgestellt würde).
Die vier Listenmandate hätte sie dann nicht bekommen - als Partei also eine leichte Einbuße.

Aber mit großer Wahrhscheinlichkeit wären dann bei der FDP über ein Dutzend Mandate mehr gelandet (größtenteils auf Kosten der SPD).
Das wäre dann für die Union der Platz als stärkste Fraktion geworden und eine klare schwarz/gelbe Mehrheit.

Wenns alle machen (auch für rot/grün gibt es passende Bundesländer), ist der Gag natürlich beschränkt.

Aber wer damit anfangen würde, hätte zumindestens bei einer Wahl einen klaren Vorteil
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Martin Fehndrich
Veröffentlicht am Freitag, 23. Mai 2003 - 22:33 Uhr:   

@Ralf
Du vergißt, daß die Zweitstimmen der erfolgreichen "listenlos" Erststimmenwähler nicht berücksichtigt werden. Einen Vorteil gibt es dann nur dadurch, daß ein Direktmandat i.d.R. unter 50% kostet, sonst geht der Schuß nach hinten los. Die FDP würde in den Wahlkreisen, in denen die CDU mit 40% scheitert, profitieren, und bei den Wählern, die eh CDU/FDP gesplittet hätten, verlieren.

@Philipp
Ich denke die Unterschiede / Gemeinsamkeiten sind deutlich herausgearbeitet worden:

1) Überhangmandate werden von den anderen Parteien abgezogen.
Hier könnte man über die Definition von Überhangmandaten diskutieren;
In diesem Sinne entstehen Übermandate, wenn eine Partei in einem Verteilungsschritt Mandate nach Proporz insgesamt zugeteilt bekommt, aber in einem vorhergehenden Verteilungsschritt schon mehr Sitze zugeteilt wurden und man irgendwo den Proporz, die Gesamtmandats oder die Direktmandate selbst anpacken muß.
2) Geringerer Anteil Direktmandate (womit sich Punkt 1 relativiert)
3) Abgeschlossene Wahlgebiete mit festen Sitzkontigenten ohne Verrechnung.

Auf die Kurzbescheibung
> Die restlichen ... Sitze (von ...) werden
> ... nach Verhältniswahlrecht vergeben.
bin ich nur eingegangen, weil genau so das Bundestagswahlsystem seit über 50 Jahren regelmäßig beschrieben wird und es sich eben nicht um ein Grabenwahlsystem handelt (auch wenn man es aus der Formulierung folgern könnte).
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c07
Veröffentlicht am Samstag, 24. Mai 2003 - 07:24 Uhr:   

Als "Grabenwahlsystem" würd ich dieses System sicher nicht bezeichnen. Das setzt doch eine klare Trennung der verschiedenen Sorten von Mandaten voraus, die hier nicht gegeben ist. Aber der Begriff "Verhältniswahlsystem" scheint mir ebenso unpassend zu sein, wenn es so bedeutende Ausnahmen vom Parteienproporz gibt. Selbst beim Bundestagswahlrecht ist er schon ein bisschen euphemistisch, auch wenn da große Ausnahmen bisher nur Theorie sind.

Martin:
> Du vergißt, daß die Zweitstimmen der erfolgreichen "listenlos"
> Erststimmenwähler nicht berücksichtigt werden.

Ja, den Fehler hab ich auch schon mal gemacht. Aber es spricht doch nichts dagegen, mit einer leeren Landesliste anzutreten. Damit könnte man sicher einem guten Teil der potenziellen Wähler klar machen, dass sie besser ihre Zweitpräferenz wählen sollten.

Allerdings setzen derartige Strategien ein ziemlich inniges Verhältnis zwischen zwei Parteien voraus, das in dem Maß wohl nirgends gegeben ist. Aber man könnte ja auch gezielt Parteien zu diesem Zweck gründen.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Montag, 26. Mai 2003 - 10:44 Uhr:   

@Martin:
> Du vergißt, daß die Zweitstimmen der erfolgreichen "listenlos"
> Erststimmenwähler nicht berücksichtigt werden.
Ja, das habe ich völlig vergessen.
Entsprechend kann man meine entsprechenden Ausführungen streichen - stimmt alles nicht.
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Stefan Müller
Veröffentlicht am Sonntag, 01. Juni 2003 - 02:27 Uhr:   

@c07:
An diese Idee, (Schein-)Parteien zu gründen, habe ich beim durchlesen dieses Threads auch schon gedacht. In einigen Kantonen der Schweiz gibt es dafür ja auch schon gewisse Ansätze. Ich denke da an Wahlen z.B. in Zürich, Luzern oder anderen Kantonen, wo z.B. die SP mit der Liste "SP-Frauen" oder "SP-Gewerkschaften" oder JUSO" angetreten sind oder in einem Fall die FDP mit einer Liste "FDP Südost" und einer Liste "FDP Nordwest" oder so ähnlich. Diese sind zwar in der Regel durch Listenverbindungen miteinander verbunden und fungieren als Chance für die WählerInnen, bestimmte "Benachteiligtengruppen" stärker proportional in der Gesamtfraktion zu berücksichtigen. Aber von dieser Praxis zu der Praxis aus wahltaktischen "Scheinlisten" zu gründen ist es vielleicht nur ein kleiner Schritt. Natürlich dürfte es dann keine Listenverbindungen geben...

Viele Grüße!
Stefan
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Juni 2003 - 23:53 Uhr:   

Tja, schlechte Nachrichten für die notorischen Besserwisser, die über negative Überhangmandate und andere Formen der Antimaterie debattieren:
Die Nachzählung hat eine knappe Mehrheit zu Gunsten des bisherigen Rechtes mit Majorzwahl in den 39 Kreisen ergeben.
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Ruedi Lais
Veröffentlicht am Mittwoch, 02. Juli 2003 - 08:21 Uhr:   

Die Regierung des Kantons Graubünden lässt die Abstimmung über das "Bündner Modell" oder das bisherige Majorz-System wiederholen. Grund: Die Gemeinden haben Stimmzettel, die aus verschiedenen Gründen ungültig waren (zT Briefwahl)nicht unterschiedlich behandelt. Zwar sei das Resultat von 24 Stimmen mehr für den Majorz nicht nachweislich falsch, aber das Vertrauen der StimmbürgerInnen könne nur mit einer Wiederholung wieder hergestellt werden.

Die Sonne Floridas lacht über unserer "Ferienecke" !

Ruedi
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Freitag, 11. Juli 2003 - 14:52 Uhr:   

Mich würde mal interessieren, wieviele Stimmen bei Bundestagswahlen falsch gezählt oder falsch protokolliert werden (in Holland wurde auch schon mal ein Wahllokal vergessen und das hatte Einfluß auch die Sitzverteilung, so etwas habe ich aus Deutschland aber noch nicht gehört).Ich fürchte, das könnten Hunderttausende sein. Bei komplizierter Stimmgebung wie in vielen Kommunalwahlgesetzen potenzieren sich die Fehlermöglichkeiten noch.
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c07
Veröffentlicht am Freitag, 11. Juli 2003 - 16:49 Uhr:   

Konkret weiß ich von einem Stimmbezirk in München (1286), bei dem FDP und Grüne (Differenz 63 Stimmen) vertauscht sind. Das Wahlamt hat mir diesen Fehler bestätigt, und nachdem ich daraufhin eine Kopie des Ergebnisprotokolls bekommen hab, hab ich festgestellt, dass auch Aufbruch und Schill (Differenz 1 Stimme) vertauscht sind (nur die Schnellmeldung war hier falsch, ist aber unüberprüft als endgültiges Ergebnis übernommen worden). FDP/Grüne sind noch vom Landeswahlausschuss korrigiert worden, aber die Stimme für die PRO fehlt auch noch im amtlichen Endergebnis.

Ich geh davon aus, dass solche Fehler regelmäßig passieren. Wirklich auffällig sind sie nur, wenn es (wie in diesem Fall) bei mehreren gebietsgleichen Briefwahlbezirken einen groben Ausreißer gibt. Von einem Bürgerentscheid, wo ich mal die Ergebnisprotokolle im Wahlamt direkt eingesehen hab, weiß ich, dass selbst banale Rechenfehler in der Bildung von Zwischensummen öfters vorkommen. Ungefähr 3% aller Protokolle waren in sich inkonsistent. Dazu kommen dann noch Fehler, die man nur erahnen kann, wie z.B. Ja- und Nein-Stimmen komplett vertauscht, sowie die eigentlichen Zählfehler.

Nach meinen Erfahrungen geh ich davon aus, dass je nach Komplexität der Wahl mindestens jede hundertste bis tausendste Stimme falsch gezählt wird. Allerdings werden sich in aller Regel die Fehler gegenseitig ausgleichen, so dass der Gesamtfehler weitaus geringer ist.
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Martin Jäger
Veröffentlicht am Donnerstag, 21. August 2003 - 23:19 Uhr:   

Und nun kämpfen wir am 14. September erneut für das clevere System "Bündner Modell"...
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Montag, 15. September 2003 - 11:36 Uhr:   

Das Bündner Modell ist nunmehr endgültig gescheitert. In Graubünden bleibt es beim Mehrheitswahlrecht wie eh und je.
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Norbert Schröder
Veröffentlicht am Montag, 14. Juni 2004 - 12:21 Uhr:   

die europawahlen der reinste flop wer sieht das anders?
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c07
Veröffentlicht am Montag, 14. Juni 2004 - 12:57 Uhr:   

Weil die Graubündener nicht mitgewählt haben?
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Freitag, 10. September 2004 - 23:49 Uhr:   

Nochmals eine Runde in Sachen "Grabenwahlrecht", um die ideologische und phraseologische Auseinandersetzung hier erneut anzuheizen, nachdem ja gewisse Personen meine Äusserung, das (abgelehnte) "Bündner Modell" sei oder wirke sich zumindest aus wie ein Grabenwahlrecht heftigst bestritten haben.

Bei weiterem Nachdenken über die Wahl des Nationalrates in der Schweiz stellte sich mir die Frage, ob es sich dabei nicht de facto ebenfalls um ein Grabenwahlrecht handle. Zur Erinnerung: Der Nationalrat wird so gewählt, dass jeder Kanton entsprechend seiner Bevölkerungszahl anteilmässig Sitze erhält, aber mindestens 1 Sitz. Anschliessend bildet jeder Kanton für die ihm zugeteilte Anzahl Sitze einen eigenen, von den andern völlig unabhängigen Wahlkreis, d. h. es entscheidet das Ergebnis im jeweiligen Kanton allein über die Zusammensetzung der Delegation dieses Kantons. Eine Umverteilung von Sitzen unter den Kantonen oder ein Verhältnisausgleich findet nicht statt.
Wenn man sich nun die gegenwärtige Verteilung anschaut, so ergibt sich folgendes Bild:
- 6 Kantone haben je nur 1 Sitz (zusammen 6 Sitze);
- 13 Kantone haben 2 bis 8 Sitze (zusammen 68 Sitze);
- 5 Kantone haben 10 bis 18 Sitze (zusammen 66 Sitze);
- 2 Kantone haben über 20 Sitze (zusammen 60 Sitze).
In den Kantonen mit 2 und mehr Sitzen gilt das Prinzip der Verhältniswahl, in den Kantonen mit 1 Sitz hingegen die relative Mehrheitswahl (vermutlich dachten die Urheber dieser Regelung, dass die relative Mehrheitswahl sachlich der Verhältniswahl am nächsten stehe).
Das bedeutet, dass es eine Teilung des Wahlsystems in Wahlkreise mit Verhältnis- und solche mit relativer Mehrheitswahl gibt, was meiner unmassgeblichen Meinung nach die Definition des Grabenwahlrechts erfüllen dürfe.
(Möchte man das Problem der Einerwahlkreise vermeiden, so liesse sich auch das alte Berner System anwenden: Mindestsitzzahl von 2 pro Wahlkreis bei ebenfalls 26 Wahlkreisen [früher sogar 27] und 200 Sitzen insgesamt.)
Es stellt sich aber auch die Frage, ob man Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen und in grossen sachlich völlig gleichsetzen kann. Bei 2 oder 3 Sitzen steht Verhältniswahl im Ergebnis wohl eher der relativen Mehrheitswahl nahe als der "reinen" Verhältniswahl. Die Frage ist die, bei welcher Mindestzahl von zu vergebenden Sitzen man die Grenze ziehen will, über der die Verhältniswahl wirklich "zu spielen" beginnt. 10 scheint dafür nicht ungeeignet (zumal 9 nicht vorkommt).
Bei den Kantonen im "Mittelfeld" mit 10 bis 18 Sitzen ist der Effekt der verhältnismässigen Verteilung schon zu spühren. Dann tritt zu den beiden grössten Kantonen mit 26 und 34 Sitzen ein deutlicher Unterschied auf, diese beiden sind "eine Klasse für sich".
Hinzu kommt, dass in der Realität so gut wie keine Aussicht darauf besteht, dass es irgendwann keine Kantone mehr geben wird, die nur 1 Sitz stellen - diese sind geographisch zu klein und meis auch mit kaum zu besiedelndem Gebiet wie Hochalpen u. dgl. versehen, so dass es kaum vorstellbar ist, rein räumlich dort soviele Menschen anzusiedeln, dass sie den Kantonen mit 2 Sitzen gleichkommen (wobei die dadurch bewirkte Verschiebung der Gesamtproportionalität noch nicht einmal eingerechnet ist).
De facto lässt sich also die Spaltung in Kantone mit Verhältnis- und mit relativem Mehrheitswahlrecht feststellen, ferner eine deutliche Klassenverschiedenheit innerhalb der Gruppe mit Verhältniswahlrecht, was sich in der effektiven Verteilung in deutlichen Unterschieden äussert.
Die einzige Frage ist nun noch die, ob dies ausreicht, um von einem Grabenwahlrecht zu sprechen.

Ein eigenartiges Modell ist das neue Bieler Modell, das für die Wahl der Stadtregierung eingeführt wurde: Die Regierung besteht aus 8 Mitgliedern, von denen 4 "ständig", d. h. vollamtlich sind und 4 "nichtständig", d. h. im Nebenamt (Teilzeit). Die 4 ständigen Mitglieder leiten neben der Arbeit im Regierungskollegium jeweils noch vollamtlich einen Bereich der Stadtverwaltung, die 4 nichtständigen treten üblicherweise nur zu den Kollegiumssitzungen zusammen. Die Entscheide gehen aber stets vom Kollegium der 8 aus.
Für die Wahl gilt nun folgendes: Gleichzeitig wird getrennt dreifach gewählt: Auf einem Wahlzettel wählen die Wahlberechtigten 4 ständige Mitglieder, auf einem andern Wahlzettel 4 nichtständige und schliesslich auf einem dritten Wahlzettel aus den Reihen der ständigen Mitglieder einen Präsidenten. Für die Wahl des Präsidenten gilt naturgemäss Mehrheitswahlrecht, für die Wahlen der ständigen und der nichtständigen Mitglieder je die Verhältniswahl, wobei keine irgendwie geartete Verrechnung zwischen beiden Wahlen stattfindet.
Kommt es im Kollegium der 8 zu Stimmengleichheit, entscheidet die Stimme des Präsidenten.
Die Eigenart dieses Systems besteht nun darin, dass in der Praxis folgendes Szenario wahrscheinlich ist: Bei ungefähr je hälftiger Stärke des bürgerlichen und des sozialistischen Lagers führt die Wahl von 4 + 4 zu einer Verteilung 2,2,2,2, d. h. es stehen sich am Ende ziemlich sicher je 4 Bürgerliche und 4 Sozialisten (bzw. zum bürgerlichen oder sozialistischen Bündnis gehörende Abgeordnete) gegenüber. Um eine klare Mehrheit zu schaffen, müsste eine Seite in einer der beiden Teilwahlen nahezu 75% der Stimmen holen (was praktisch kaum vorstellbar ist), um 3 Sitze von 4 zu erringen. Würde eine Seite dies schaffen, würde sie es vermutlich auch gleichzeitig in beiden Teilwahlen schaffen und überdies vermutlich ihre Kandidatur für das Präsidium durchdrücken, womit sie dann 6:2 plus das Präsidium stellen würde. Da dies unter den gegebenen politischen Umständen nahezu illusorisch erscheint, ergibt sich letztlich, dass die systematisch nachgeordnete Wahl des Präsidiums (würde eine Person die Mehrheit erreichen, die nicht gleichzeitig auch als ständiges Mitglied gewählt würde, würde diese Wahl verfallen!) letztlich zu Richtungswahl wird.
Nun haben wir hier den Fall, dass getrennt gewählt wird, wenn auch nach je demselben Verfahren. Dazu stellt sich dann die Frage, ob es angezeigt sei, dies unter die Grabenwahlsysteme zu zählen (nach der Definition eigentlich nicht, obwohl es sich eindeutig um ein gespaltenes Wahlverfahren handelt).
Eine andere, davon unabhängige Frage wäre die, ob es sich bei dieser Konstruktion nicht um einen schlechten politischen Scherz handle.

Wie dem auch sei, nun heisst es: "Feuer frei" für Argumente, Einwände, Pro und Contra, Kritik, Polemik usw. usf.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Samstag, 11. September 2004 - 09:02 Uhr:   

"Bei 2 oder 3 Sitzen steht Verhältniswahl im Ergebnis wohl eher der relativen Mehrheitswahl nahe als der "reinen" Verhältniswahl."

Eher nein, bei zwei Sitzen wird meistens die zweitstärkste Partei erheblich bevorzugt und bei drei Sitzen hat die stärkste nur dann (bei d'hondt) einen erheblichen Vorteil, wenn sie mehr als doppelt so viele Stimmen kriegt wie die Drittstärkste.

Bei vier zu wählenden Sitzen reichen übrigens 60% plus eine Stimme bei d'Hondt immer zu 3 Sitzen.

Von einem Grabenwahlsystem würde ich in der Schweiz nicht sprechen, auch wenn die größeren Kantone tendenziell eine etwas proportionalere Verteilung haben. Die 6 Einerkantone fallen nicht so ins Gewicht.
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c07
Veröffentlicht am Montag, 13. September 2004 - 21:02 Uhr:   

Philipp:
> Das bedeutet, dass es eine Teilung des Wahlsystems in Wahlkreise mit
> Verhältnis- und solche mit relativer Mehrheitswahl gibt, was meiner
> unmassgeblichen Meinung nach die Definition des Grabenwahlrechts
> erfüllen dürfe.

Das ist halt eine Definitionsfrage. Für mich ist an einem Grabenwahlrecht wesentlich, dass beide Seiten des Grabens von den selben Wählern bestimmt werden. Im Ganzen kann man ohnehin nicht von einer Verhältniswahl reden, wenn es zwischen vielen relativ kleinen Wahlkreisen keinen Verhältnisausgleich gibt. Das ist halt ein Mischtyp aus Mehrheits- und Verhältniswahl. Eigentlich machen diese Begriffe hier eh keinen Sinn, weil weder eine Mehrheitsbildung noch der Parteienproporz vorrangiges Ziel sind. Es geht hier stattdessen vor allem um den Regionalproporz.

Eine relative Mehrheitswahl ist sowieso nichts anderes als eine Verhältniswahl, bei der nur 1 Sitz zu verteilen ist. Der Begriff "Verhältniswahl" ist dann natürlich nicht mehr sehr treffend, aber das ist er auch sonst nicht, wenn die Zahl der Sitze nicht viel größer als die Zahl der aussichtsreichen Listen ist (entscheidend für den Charakter einer Verhältniswahl ist weniger eine absolute Sitzzahl als das Verhältnis von Sitzen zu Listen).

Thomas:
> Bei vier zu wählenden Sitzen reichen übrigens 60% plus eine Stimme
> bei d'Hondt immer zu 3 Sitzen.

Bei Sainte-Laguë und Hare/Niemeyer sind auch nur 62,5% nötig. Selbst bei Adams braucht es keine 75%, sondern nur 2/3 der Stimmen.

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