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Wahlrechtsreform, Überhangmandate, Gr...

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Mark Tröger
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 09. Oktober 2018 - 14:26 Uhr:   

Hallo!

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat die Reform des Bundestagswahlrechts mit der Quadratur des Kreises vergleichen. Und tatsächlich, egal welches Problem man versucht zu beheben, woanders taucht dadurch stets ein neues Problem auf:
- Behält man das jetzige Wahlrecht bei, ist eine weitere Aufblähung des Bundestages auf 800, 900 oder gar über 1000 Abgeordnete zu erwarten.
- Schafft man die Ausgleichsmandate wieder ab oder begrenzt sie, kommt es zu einer Bevorteilung der größeren Parteien, die im Detail zufällig und verfassungswidrig ist.
- Zieht man wie von den Grünen vorgeschlagen in einem Bundesland gewonnene Überhangmandate von den Listenmandaten in anderen Bundesländern ab, kommt es zu zufälligen Über- bzw. Unterrepräsentation von Bundesländern. Ich schätze auch dies wäre verfassungswidrig. Außerdem würde dadurch das Problem der CSU-Überhangmandate nicht gelöst.
- Verringert man den Anteil der Direktmandate, führt dies zu geringerer Bürgernähe der direkt gewählten Abgeordneten und verringert dies zugleich ihren Anteil gegenüber den indirekt über die Liste Gewählten.

Meines Erachtens wäre eine Verringerung der Anzahl der Wahlkreise noch das geringste Übel, neben der Beibehaltung des status quo. Allerdings wird der ststus quo spätestens dann nicht mehr toleriert werden, wenn der Bundestag aus Platzgründen ein anderes Gebäude als den Reichstag umziehen muss.

Besser wäre meines Erachtens aber ein kompletter Systemwechsel. Die Personalisierte Verhältniswahl hat massive Probleme, auch unabhängig von Überhang- und Ausgleichsmandaten:
- Die Ergebnisse der Erststimmen in den Wahlkreisen korrelieren meist sehr stark mit den Ergebnissen der Zweitstimmen. Das heißt die Direktkandidaten werden mehr aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit als aufgrund ihrer Person gewählt. Formal werden sie zwar als Person gewählt, aber man belügt sich selbst, wenn man meint, dass die Parteizugehörigkeit für die Wählerschaft insgesamt nicht das wichtigere Kriterium wäre. Eine Wahl zwischen Personen wäre eher innerhalb der einzelnen Parteien sinnvoll.
- Direktkandidaten sind häufig zusätzlich über die Landeslisten abgesichert. In solchen Fällen, in denen für die um das Direktmandat konkurrierenden Personen der Einzug in den Bundestag garnicht auf dem Spiel steht, wird das Ganze zur Farce. Direktkandidaten zu verbieten gleichzeitig auch auf den Listen zu kandidieren wäre undemokratisch und absurd. Abgeordneten, die sowohl über die Liste als auch den Wahlkreis gewählt wurden, doppeltes Stimmgewicht im Bundestag zu geben, würde im Parlamentsaltag nicht funktionieren, da dort z. B. auch per Hand abgestimmt wird. Und sollte die Anzahl der Wahlkreise im Vergleich zur Gesamtzahl der Abgeordneten verringert werden, würde sich das Problem noch verschärfen, da es noch wahrscheinlicher wäre, dass Direktkandidaten über die Landeslisten abgesichert wären.

Das heißt praktisch wird die sogenannte Personenwahl häufig nicht durch die Person sondern durch die Parteizugehörigkeit entschieden, hat aber auf die Zusammensetzung des Paralaments eh keine Auswirkung, da die Gewählten über die Landesliste abgesichert sind. Dieses System sollte meines Erachtens abgeschafft werden. Entweder man schafft das Mehrheitswahlelement ab, oder man wertet es auf.

Es gibt durchaus eine Möglichkeit, das Mehrheitswahlelement aufzuwerten ohne das Verhältniswahlprinzip auf nicht hinnehmbare Weise abzuschwächen. Das Bundesverfassungsgericht hält die Fünfprozenthürde für zulässig aufgrund des Argumentes der Regierungsstabilität. Ein Grabenwahlsystem hätte auch mit einem geringen Anteil von beispielsweise 10% direkt gewählter Abgeordneter eine ähnliche stabilisierende Wirkung auf die Regierung. Im Vergleich zur Fünfprozenthürde würde es aber statt bei einer Schwächung/Ausschaltung der kleinsten Parteien bei einer Stärkung der größten Parteien ansetzen. In das Stärkeverhältnis der Parteien würde es aber weniger eingreifen als die Fünfprozenthürde. Eine Partei, die 0% statt 4% erhält, wird um 100% geschwächt. Eine Partei die 44% statt 40% kriegt wird hingegen nur um 10% gestärkt. Durch die Einführung Grabenwahlrechts mit geringem Anteil von Direktmandaten bei gleichzeitiger Abschaffung der Fünfprozenthürde könnte man also zu mehr Gerechtigkeit im Sinne der Verhältniswahl gelangen, bei der gleichen stabilisierenden Wirkung auf die Regierung.

Allerdings hätte man auch bei diesem System immernoch das Problem, dass Direktkandidaten in der Regel über die Listen abgesichert wären.

Um das zu verhindern, könnte man die Direktwahl komplett abschaffen, und dafür Listenwahlkreise in der Größe kleinerer und mittlerer Bundesländer einführen, in denen der Wähler neben der Stimme für die Partei auch eine Stimme für einen beliebigen Kandidaten auf der Liste seiner Partei abgeben kann. Statt der Reihenfolge auf der Liste wäre dann die Anzahl der Personenstimmen ausschlaggebend, wer von der Liste gewählt ist. Zu große Wahlkreise wären zu vermeiden, um zu große Stimmzettel zu vermeiden.
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Richard Seyfried
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 30. Oktober 2018 - 02:00 Uhr:   

Gebe Ihnen weitgehend recht, etwa bei folgenden Aussagen:

"Eine Wahl zwischen Personen wäre eher innerhalb der einzelnen Parteien sinnvoll"
Nur über ein Vorzugsstimmenwahlrecht wie etwa ganz stark in Südtirol kann die Personenwahl wirklich Bedeutung erlangen. So wie das derzeit in Deutschland gehandhabt wird, ist es tatsächlich eine aufwändige Farce. De facto entscheidend ist nur, wer von der Partei in einem aussichtsreichen Wahlkreis aufgestellt wird. Da könnte man gleich eine starre Liste machen und sich viel Aufwand ersparen. Innerparteiliche Demokratie mit Umreihung innerhalb der Partei ist da wesentlich aussagekräftiger.

"Entweder man schafft das Mehrheitswahlelement ab, oder man wertet es auf."
Die 5% Hürde ist, wie sie richtig ausführen tatsächlich sehr wenig effektiv. Sie schadet einer Partei mit 4,9% der Stimmen unverhältnismäßig und bringt den großen Parteien sehr wenig für die Mehrheitsbildung. Mehrheitsbildende Elemente, bei denen die Großen einen Bonus erhalten, wären da weit effektiver. Diese Boni für die stärkste Partei sind international ja durchaus üblich, etwa in Italien oder Griechenland.
Deutschland sollte da möglichst rasch nachziehen, ehe eine Unregierbarkeit droht. Minderheitenfreundliche Mehrheitswahlmodelle gibt es genug, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minderheitenfreundliches_Mehrheitswahlrecht

Andernfalls regieren sich schwierige Koalitionsmodelle wie derzeit die Große Koalition oder schwer vereinbare 3-er Koalitionen zu Tode. Hauptprofiteur wäre in Deutschland wohl die AfD, solange sie sich an den Koalitionsverhandlungen nicht beteiligen darf/muss und in der Opposition in Ruhe wachsen kann. Weimarer Zustände "light" sind da durchaus absehbar.
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Jan W.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 30. Oktober 2018 - 16:00 Uhr:   

Die jetzige Situation mit 5%-Hürde und Grundmandatsklausel (der Vollständigkeit halber: und der Minderheitenklausel) ist eine brauchbare Definition für die Parlamentarische Existenzberechtigung, auch wenn ich Methoden wie den Quadratbuckel* bevorzugen würde.
Darüber hinaus gehende Verzerrungsformeln wollen etwas erreichen, was nicht statthaft ist: Mehrheiten zu schaffen, wo keine Mehrheiten sind.


*) Unterschreitet die Stimmzahl S einer Partei den Sperrklauselwert von SK = abgerundet((Anzahl der gültigen Stimmen)*(5/100)), so werden im Rahmen der Sitzverteilung nur S²/SK Stimmen (als Variante S³/SK²) gewertet.
Eine 4%-Partei erlitte also keinen Totalverlust sondern würde ihre Stimmen zu 80% (Variante: 64%) gewertet bekommen.
Dies würde die 4,999%-Partei und die 5,001%-Partei nahezu gleich behandeln, mit dem Restrisiko, dass das letzte Mandat an die größere Partei geht, bei deutlicherem Unterschreiten schlägt aber der Kürzungsmechanismus immer härter zu.
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Mark Tröger
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 30. Oktober 2018 - 19:19 Uhr:   

Zitat Jan W.:
Die jetzige Situation mit 5%-Hürde und Grundmandatsklausel (der Vollständigkeit halber: und der Minderheitenklausel) ist eine brauchbare Definition für die Parlamentarische Existenzberechtigung, auch wenn ich Methoden wie den Quadratbuckel* bevorzugen würde.
Darüber hinaus gehende Verzerrungsformeln wollen etwas erreichen, was nicht statthaft ist: Mehrheiten zu schaffen, wo keine Mehrheiten sind.


Die Fünfprozenthürde gibt es nur, um im Sinne der Stabilität Mehrheiten zu schaffen, wo keine sind. Dort wo Stabilität weniger wichtig ist (Kommunal- und Europaebene), wurde sie für verfassungswidrig erklärt.

Nun sorgt die Fünfprozenthürde nicht nur nach der Wahl für Stabilität durch den Ausschluss der kleinen Parteien sondern auch schon vorbeugend vor der Wahl, weil Abweichler innerhalb der Parteien meist keine Aussicht haben durch Parteineugründungen erfolgreich zu sein. Dies führt meines Erachtens zu einer Erstarrung der Parteien und der Politik.

Wenn man hingegen die Stabilität fördern würde indem man die stärksten Parteien begünstigt, könnte man sowohl eine lebendige Parteienlandschaft im Bereich der Parteineugründungen erreichen als auch am Ende stabile Mehrheiten im Parlament ermöglichen.
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Jan W.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 31. Oktober 2018 - 00:18 Uhr:   

Ein Bonus für die relativ stärkste Partei würde genau diese vor der Zersplitterung, die man an anderer Stelle fördert schützen ... und die Opposition gezielt spalten ...
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Mark Tröger
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 31. Oktober 2018 - 12:44 Uhr:   

Das Mehrheitswahlrecht schützt alle um Direktmandate konkurrierenden Parteien vor Zersplitterung.

Um mit der stärksten Partei um Direktmandate konkurrieren zu können gibt es bei den kleineren meist oppositionellen Parteien einen Druck sich zu einer schlagkräftigen Partei zusammenzuschließen.

Im Falle, dass es so eine schlagkräftige oppositionelle Partei nicht gibt, kann sich auf einmal auch die stärkste Partei es eher leisten Absplitterungen zuzulassen.

Aus diesen beiden Gründen gibt es im Mehrheitswahlrecht auch genauso viele oder noch mehr Regierungswechsel als im Verhältniswahlrecht.

Und einen Grund, die zarten Pflänzchen des Ideenwettbewerbs der Parteien unter 5% zu zertreten sehe ich auch bei dosierter Anwendung des Mehrheitswahlrechts nicht.
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Markus Richter
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 31. Oktober 2018 - 18:21 Uhr:   

Mark Tröger: "Um das zu verhindern, könnte man die Direktwahl komplett abschaffen, und dafür Listenwahlkreise in der Größe kleinerer und mittlerer Bundesländer einführen, in denen der Wähler neben der Stimme für die Partei auch eine Stimme für einen beliebigen Kandidaten auf der Liste seiner Partei abgeben kann. Statt der Reihenfolge auf der Liste wäre dann die Anzahl der Personenstimmen ausschlaggebend, wer von der Liste gewählt ist. Zu große Wahlkreise wären zu vermeiden, um zu große Stimmzettel zu vermeiden."

Das halte ich in der Tat für die eleganteste Variante mit großer Bürgerbeteiligung. Das Hauptproblem wäre wohl eine sinnvolle Wahlkreiseinteilung, ansonsten sehe ich kaum Hindernisse (theoretisch, nicht praktisch)
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görd
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Veröffentlicht am Montag, 05. November 2018 - 19:44 Uhr:   

Wenn man die Direktwahl abschafft, gibt es aber keine Möglichkeit mehr für unabhängige Kandidaten.
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Werner Fischer
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 06. November 2018 - 08:51 Uhr:   

Richtig, aber die gibt es jetzt auch nur rein theoretisch. Hat es denn schon mal ein Einzelbewerber in den Bundestag geschafft, seit es das Zweistimmen-Wahlrecht gibt? Nein! Die jetzige Regelung für Einzelbewerber ist mit vielen Nachteilen gespickt (z.B. wg. Drohung mit Wegfall der Zweitstimme). Ich finde, man kann sie problemlos abschaffen.

Das sage ich, weil ich mich seit Jahren für unabhängige Einzelbewerber einsetze und selbst schon als solcher angetreten bin.
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Richard Seyfried
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 06. November 2018 - 18:34 Uhr:   

Görd: "Wenn man die Direktwahl abschafft, gibt es aber keine Möglichkeit mehr für unabhängige Kandidaten."

Das stimmt so nicht. Ein Einzelbewerber kann ja auch bei Mehrpersonenwahlkreisen problemlos antreten. Ob er dann wirklich eine "Liste" mit nur einem Namen abgibt, oder Unterstützer formal als weitere Kandidaten benennt, bleibt ihm dabei selbst überlassen.

Es wäre rechnerisch sogar deutlich leichter, als Einzelbewerber ins Parlament einzuziehen, wenn man nicht in genau einem Wahlkreis "gewinnen" muss. Dafür benötigt ein Kandidat in der Regel etwa 30-50% der Stimmen im Wahlkreis.

Habe ich aber z.B. einen 9-Personen Wahlkreis, so reichen bereits 10% der Stimmen.

Wenn mans ganz perfekt haben will:
Um im Falle eines überraschenden Wahlsiegs zu kurze Kandidatenlisten (z.B.Einzelbewerber, der genug Stimmen für 3 Mandate erhält) zu vermeiden, könnte man auch ein Alternative Vote einführen, mit dem der Wähler festlegen kann, wem die übrigen Stimmen zufallen sollen.
Ist aber ein eher theoretisches Problem. In der Praxis muss man froh sein, wenns überhaupt mal irgendwo ein Einzelbewerber schafft. Das würde aber zumindest etwas erleichtert und nicht wie Görd meint, unmöglich.
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Marcel G.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Montag, 17. Dezember 2018 - 19:29 Uhr:   

Ich halte von einem Grabenwahlrecht wenig, zumal der mehrheitsverstärkende Effekt einer Überzahl an Direktmandaten an anderer Stelle bereits am Beispiel der BT-Wahl 2005 widerlegt wurde. Mit einer geringeren Anzahl Direktmandate, ähnlich dem aktuellen italienischen Wahlsystem, wird sich kein mehrheitsverstärkender Effekt einstellen.

Für sehr viel brauchbarer halte ich in diesem Zusammenhang das sog. "minderheitenfreundliche Mehrheitswahlrecht", das ja eigentlich ein Verhältniswahlsystem mit Mehrheitsbonus ist. Dabei erhält die stärkste Partei unter bestimmten Voraussetzungen einen Mehrheitsbonus, mit dem sie auf etwas mehr als 50 Prozent der Sitze kommt. Varianten eines solchen Wahlrechts finden in Frankreich und Italien auf den regionalen und lokalen Ebenen Anwendung, sowie national in Griechenland und San Marino und bis vor wenigen Jahren auch in Italien.

Idealerweise verbindet man ein minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht mit offenen oder lose gebundenen Listen in Wahlkreisen mit fünf oder sechs Sitzen, d.h. der Wähler kann durch kumulieren und panaschieren oder durch Setzen einer oder mehrerer Vorzugsstimmen Einfluss auf Zusammensetzung und/oder Reihenfolge der gewählten Liste nehmen. Die geringe Wahlkreisgröße stellt die Verbindung zwischen Wähler und Kandidaten sowie die Proportionalität sicher.
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Mark Tröger
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 18. Dezember 2018 - 04:32 Uhr:   

"Ich halte von einem Grabenwahlrecht wenig, zumal der mehrheitsverstärkende Effekt einer Überzahl an Direktmandaten an anderer Stelle bereits am Beispiel der BT-Wahl 2005 widerlegt wurde."

Das lag damals am negativen Stimmgewicht durch die Verrechnung von Direktmandaten und Listenmandaten. Dieser Effekt kann bei einem Grabenwahlrecht jedoch nicht auftreten, da Direkt- und Listenmandate komplett unabhängig voneinander berechnet werden.


"Mit einer geringeren Anzahl Direktmandate, ähnlich dem aktuellen italienischen Wahlsystem, wird sich kein mehrheitsverstärkender Effekt einstellen."

Der Vergleich mit Italien ist passender. Dort herrscht ein Grabenwahlrecht. Bei der letzten Wahl hat die Mitte-Rechts-Koalition als stärkste Koalition 48% der Direktmandate geholt, obwohl die Koalition nur 32,7% der Stimmen erhielt. Es gibt also einen mehrheitsverstärkenden Effekt. Man kann natürlich den Standpunkt vertreten, er wäre nicht stark genug.


"Für sehr viel brauchbarer halte ich in diesem Zusammenhang das sog. "minderheitenfreundliche Mehrheitswahlrecht", das ja eigentlich ein Verhältniswahlsystem mit Mehrheitsbonus ist."

Ein solches System hielte ich für sehr willkürlich. Warum soll eine Partei die nur 1 Stimme Vorsprung hat, den gleichen oder sogar einen noch größeren Bonus bekommen als eine Partei die Millionen Stimmen Vorsprung hat? Man sollte die Politik m. E. nicht derart vom Zufall abhängig machen.

Mehrheits- und Grabenwahlrechtssysteme belohnen hingegen große Vorsprünge stark und kleine Vorsprünge nur schwach. Das halte ich für wesentlich gerechter.

Wenn Sie allerdings die Personenwahl aufgrund der Gefahr von Parochialismus ablehnen, gibt es noch eine dritte Lösung, die Vorsprünge entsprechend ihrer Größe belohnt, aber ohne die Mehrheitswahl in Wahlkreisen mit Partikularinteressen auskommt:

Man potenziert die Stimmenzahl für die Parteien bzw. Koalitionen mit einer bestimmten Hochzahl, und berechnet auf dieser Grundlage die Mandate:

Ein Beispiel mit der Hochzahl 1,5:

Union: 33 Stimmen -> 189,6 -> 45,3% Sitze
SPD: 20 Stimmen -> 89,4 -> 21,4% Sitze
AfD: 13 Stimmen -> 46,9 -> 11,2% Sitze
FDP: 11 Stimmen -> 36,5 -> 8,7% Sitze
Linke: 9 Stimmen -> 27,0 -> 6,5% Sitze
Grüne: 9 Stimmen -> 27,0 -> 6,5% Sitze
FW: 1 Stimme -> 1,0 -> 0,2% Sitze
PARTEI: 1 Stimme -> 1,0 -> 0,2% Sitze

Da die Spaltung eines Lagers in mehrere Parteien bei diesem Verfahren dem Lager insgesamt Stimmen kostet, kann es sinnvoll sein, wie in Italien Koalitionen zuzulassen. Die Stimmen für die Parteien in einer Koalition werden dabei zunächst zusammengezählt, dann die Sitze für die Koalition bestimmt und erst am Ende an die Parteien unterverteilt.

Beispiel mit Koalition Union-FDP-FW und SPD-Grüne (Hochzahl 1,5):

Union-FDP-FW: 45 Stimmen -> 301,9 -> 56,6% Sitze (Union: 41,5%, FDP: 13,8%, FW: 1,3%)
SPD-Grüne: 29 Stimmen -> 156,2 -> 29,3% Sitze (SPD: 20,2%, Grüne 9,1%)
AfD: 13 Stimmen -> 46,9 -> 8,8% Sitze
Linke: 9 Stimmen -> 27,0 -> 5,3% Sitze
PARTEI: 1 Stimme -> 1,0 -> 0,2% Sitze

Beispiel mit der Linken in SPD-Grüner-Koalition (Hochzahl 1,5):

Union-FDP-FW: 45 Stimmen -> 301,9 -> 51,7% Sitze (Union: 37,9%, FDP: 12,6%, FW: 1,1%)
SPD-Grüne-Linke: 38 Stimmen -> 234,2 -> 40,1% Sitze (SPD:21,1%, Grüne 9,5%, Linke 9,5%)
AfD: 13 Stimmen -> 46,9 -> 8,0% Sitze
PARTEI: 1 Stimme -> 1,0 -> 0,2% Sitze

Die Hochzahl kann je nachdem eingestellt werden, wie groß man den mehrheitsbegünstigenden Effekt haben will.
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Marcel G.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 18. Dezember 2018 - 15:11 Uhr:   

Dieser Effekt kann bei einem Grabenwahlrecht jedoch nicht auftreten, da Direkt- und Listenmandate komplett unabhängig voneinander berechnet werden.

Das meine ich gar nicht. Ich rede von einem politologischen Aufsatz, der eine extreme Variante des Grabenwahlrechts vorsieht, bei der fünf Sechstel der Sitze im Bundestag per einfacher Mehrheitswahl und ein Sechstel per Listenwahl besetzt werden: http://lspwpp.sowi.uni-mannheim.de/team/lehrstuhlinhaber/Aufs%C3%A4tze%20in%20Fachzeitschriften/Schoen_2007_Eine_optimale_Loesung_-_Eine_Replik_auf_Gerd_Strohmeier.pdf

Auf Seite 3 wird festgestellt, dass auch bei einem solchen Übergewicht der Direktmandate keine der beiden großen Parteien 2005 aus eigener Kraft eine Mehrheit bekommen hätte. Damit ist der Zweck einer solch extremen Wahlrechtsreform nicht erfüllt, nämlich gleichzeitig sowohl für klare Verhältnisse als auch Minderheitenrepräsentation zu sorgen.

Bei der letzten Wahl hat die Mitte-Rechts-Koalition als stärkste Koalition 48% der Direktmandate geholt, obwohl die Koalition nur 32,7% der Stimmen erhielt. Es gibt also einen mehrheitsverstärkenden Effekt. Man kann natürlich den Standpunkt vertreten, er wäre nicht stark genug.

Nur auf Direktmandate bezogen ergibt die Rechnung nach meinem Dafürhalten wenig Sinn. Insgesamt war der mehrheitsverstärkende Effekt eher gering, was an der resultierenden Notwendigkeit einer Koalition zu erkennen ist. Das M5S bekam 227 Sitze bei 32,68 Prozent der Stimmen, was einen mehrheitsverstärkenden Effekt von gerade mal 22 Sitzen bedeutet.

Ein solches System hielte ich für sehr willkürlich. Warum soll eine Partei die nur 1 Stimme Vorsprung hat, den gleichen oder sogar einen noch größeren Bonus bekommen als eine Partei die Millionen Stimmen Vorsprung hat?

Darum schrieb ich ja auch, dass die stärkste Partei den Mehrheitsbonus unter bestimmten Voraussetzungen bekommt. Unter bestimmten Voraussetzungen verstehe ich z.B. einen zweiten Wahlgang zwischen den stärksten Parteien/Koalitionen, um zu entscheiden, wer von beiden den Mehrheitsbonus letztlich erhält - ähnlich dem italienischen Wahlrecht vom 2015. Das können zwei, drei, oder sogar vier Parteien/Koalitionen sein. Ich kann nicht erkennen, was hieran willkürlich sein soll.

Tatsächlich jedoch muss beim minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrecht der Artenschutz für die Opposition verstärkt werden. Die Gefahr, dass eine Partei CSU-mäßig quasi automatisch über viele Jahre das politische System unumwunden dominiert, birgt natürlich die Gefahr der oppositionellen Dezimierung. Dezimierung deshalb, weil die Mehrheitspartei in dem ansonsten nach den Gesichtspunkten der Verhältniswahl ausgestalteten System die Opposition zur Spaltung animieren kann. Um dies zu verhindern, wären Regeln denkbar, die Koalitionen gegenüber einzelnen Parteien begünstigen, wie bspw. Sperrklauseln, die einzelne Parteien nur solange aussperren, wie sie keiner festen Koalition angehören. Dies hat zudem den Vorteil, dass Koalitionen vor statt nach der Wahl gebildet werden und der Wähler daher weiß, worauf er sich einlässt wenn er jemandem die Stimme gibt.

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