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Erstarrte Systeme

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Frank Schmidt
Veröffentlicht am Dienstag, 13. Mai 2003 - 15:01 Uhr:   

Im neuen SPIEGEL steht ja so einiges über das verkrustete deutsche System, allerdings fehlen die Hinweise auf die Verkrustungen in anderen Staaten. Und die übermächtige Stellung der Parteien wird zwar angesprochen, aber die Forderung nach dem unabhängigen Abgeordneten, der eben nicht nach Partei-Stimmliste abstimmt, fehlt.

Und was das 'große Vorbild USA' angeht: auch dort liegt einiges im Argen. Während die Gouverneure nicht im Bund mitregieren können, sind die Einzelstaaten dafür zuständig, die Wahlkreise neu zuzuschneiden, wenn dies nötig sein sollte - natürlich im Sinn der Mehrheitspartei dieses Staats (Gerrymandering). Kleine Parteien haben kaum Chancen, und die Positionen der beiden Großen schwanken zwischen Ähnlichkeit und Extremen, wie bei der Wahl 2000: vorher erschienen Bush und Gore sehr ähnlich, nachher setzte Bush ultrakonservative Positionen durch.

Hat noch jemand Ideen, was man noch ändern könnte? An der nächsten Verfassung (der der EU) wird nämlich gerade geschrieben; da sollte man doch aus alten Fehlern lernen...
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Dienstag, 13. Mai 2003 - 15:25 Uhr:   

> Im neuen SPIEGEL steht ja so einiges über das verkrustete deutsche
> System,
Das ist halt derzeit ein populäres Thema, das kann sich ein SPIEGEL nicht entgehen lassen. Aber in der Regel wird das leider nur sehr oberflächlich diskutiert...

> allerdings fehlen die Hinweise auf die Verkrustungen in anderen
> Staaten.
Damit kann ich leben - jeder fasse sich an die eigene Nase.

> Und die übermächtige Stellung der Parteien wird zwar angesprochen,
Aber ohne zu sagen, woher die kommt: Nämlich von der übermächtigen Stellung, die der Staat in den letzten Jahrzehnten eingenommen hat.
Wenn städtische Wohnungen, Intendantenposten, Schulleiterstellen, Wasserwerksdirektoren, Fördergelder, usw. nach Parteibuch vergeben werden - dann liegt das halt im Kern daran, daß alle diese Bereiche von Politikern kontrolliert werden.

> aber die Forderung nach dem unabhängigen Abgeordneten, der eben nicht
> nach Partei-Stimmliste abstimmt, fehlt.
Was ist denn ein wirklich unabhängiger Abgeordneter?
Die Abgrenzung von der Fraktionsdisziplin ist nur die halbe Miete.
Ist er auch finanziell so unabhängig, daß er nicht mit allen Mitteln seine Wiederwahl sichern muß?
Wird er auch sachorientiert entscheiden, oder nur populistisch?
Fördert das nicht noch mehr den Klientel-Egoismus, wenn die über eine Partei organisierte Gesamtverantwortung fehlt?

Mir fällt das so leicht keine Ideallösung ein ...
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c07
Veröffentlicht am Dienstag, 13. Mai 2003 - 19:01 Uhr:   

Frank:
> Und was das 'große Vorbild USA' angeht: auch dort liegt einiges im Argen.

Ich weiß nicht, wie man auf die Idee kommen kann, das politische System der USA als "großes Vorbild" zu bezeichnen. Tut das irgendwer, der ein weniger schlechtes kennt? Nach einigem Nachdenken fällt mir nur ein einziger zumindest interessanter Aspekt von dort ein: Das Registrieren für eine Partei.

> An der nächsten Verfassung (der der EU) wird nämlich gerade geschrieben

Bezüglich dem politischen System? Das ist doch selbst in den minimalsten Grundzügen noch völlig offen, und der Status Quo kann ja wohl kaum Grundlage für was sein, was man "System" nennen kann. Aber ohne ein geregeltes gemeinsames politisches System ist eine Verfassung natürlich generell sinnlos.

Ralf:
> Wenn städtische Wohnungen, Intendantenposten, Schulleiterstellen,
> Wasserwerksdirektoren, Fördergelder, usw. nach Parteibuch vergeben
> werden - dann liegt das halt im Kern daran, daß alle diese Bereiche
> von Politikern kontrolliert werden.

Wenn ich mal von den Wohnungen abseh (das ist Korruption), kann die Beurteilung der Qualität der Bewerber natürlich je nach Parteisicht stark unterschiedlich ausfallen. Je einflussreicher die Position ist, desto weniger hab ich dran auszusetzen (spätestens bei der Bundesregierung werden mir dabei die meisten zustimmen). Der Grat zu ungerechtfertigter Begünstigung ist natürlich ziemlich schmal, aber es gibt für mich keine bessere Alternative. Wo die Gesellschaft regulierend eingreifen will, sollten die Entscheidungen auch von Politikern getroffen werden (wenn nicht direkt vom Volk oder den Abgeordneten).
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Nimreem
Veröffentlicht am Dienstag, 13. Mai 2003 - 22:08 Uhr:   

Der SPIEGEL bezeichnet auch eher Großbritannien, Holland und Schweden (allerdings auch die USA) als Vorbild in Punkte klare Entscheidung und keine Blockademöglichkeiten aufgrund des politischen Systems. Meistens ist das falsch.

1. USA: Es wird behauptet, dass man nicht zufrieden sein muss, wie der Präsident entscheidet, aber wenigstens entscheidet einer. Doch kommt gerade aus den USA der Begriff "lame duck". Gegenwärtig ist das nicht der Fall, aber häufig genug gab es diese Blockade in den USA.

2. Großbritannien: Hier stimme ich dem SPIEGEL zu. Vor allem eben aufgrund des Mehrheitswahlrechtes, aber es gibt dort natürlich auch keine zweite Kammer, die ernsthaft blockieren kann.

3. Holland: Es gibt eine erste Kammer (Senatoren der Provinzen), die ein Veto einlegen kann. Aber diese kann nur "ja oder nein" sagen. Vermittlung existiert nicht. Dadurch äussern die Senatoren ihre Änderungswünsche so, dass die zweite Kammer (das Parlament) sie gleich berücksichtigt. "Konfrontation und Blockade sind so ausgeschlossen." Das ist Unsinn. Gerade so könnte man ja viel leichter blockieren. Eine Vermittlung sollte doch eigentlich die Blockade verringern. In Deutschland zeigt sich (Steuerreform, Zuwanderungsgesetz), dass ein Nein durchaus möglich ist. Anscheinend wollen das die Senatoren in Holland nicht, weil sie den Schaden sehen. Aber institutionell ausgeschlossen ist das nicht.

4. Schweden: Eine Minderheitsregierung wird von der Mehrheit der Oppositionsparteien unterstützt. Schön. Auch hier: das nicht blockiert wird, liegt wohl eher in der Mentalität als im politischen System begründet. Möglich wäre das bei Minderheitenregierungen natürlich.
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Nimreem
Veröffentlicht am Dienstag, 13. Mai 2003 - 22:14 Uhr:   

Interessanter sind aber die 10 Hauptthesen des SPIEGEL:

1. Die Ministerpräsidenten dürfen im Bund nicht mehr mitregieren. Der Bundesrat muss abgeschafft werden oder neue Aufgaben bekommen.

2. Das Kartell der Länder muss gebrochen werden. Absprachen und Konsens-Pflege bringen Stillstand. Stattdessen müssen die Länder, durch Neugliederung gestärkt, miteinander und mit den europäischen Nachbarn in Konkurrenz treten.

3. Die Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern müssen neu aufgeteilt werden. Vor allem über ihre Steuern sollen die Länder selbst bestimmen dürfen.

4. Der Bund bekommt ganz neue Vermittlungsaufgaben zwischen Europa und den Regionen.

5. Politiker werden in wichtige Ämter direkt vom Volk gewählt. Das macht sie unabhängiger.

6. Mit Plebisziten können Gesetzesbeschlüsse des Parlaments erzwungen oder rückgängig gemacht werden.

7. Die Parteien sind vom Grundgesetz mit zu viel Macht ausgestattet, sie müssen sich mehr um Meinungsbildung und politische Programme kümmern.

8. Die Macht der Verbände berucht auf einem veralteten Pluralismus-Konzept. Der häufig rücksichtslos genutzte Einfluss von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und anderen Interessengruppen muss grundgesetzlich eingeschränkt werden.

9. Der Rechtsstaat behindert die Bürger, statt sie zu schützen. Gesetze müssen einfacher werden, ihre Zahl sollte zurückgehen. Die gesetzlichen Handlungsspielräume für die Regierung müssen größer werden.

10. Die Rechtsweggarantie des Grundgesetzes geht zu weit. Mit weniger Justiz und weniger Richtern werden Staat und Gesellschaft beweglicher.

Von mir bewusst hier kein Kommentar.
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gelegentlicher Besucher
Veröffentlicht am Dienstag, 13. Mai 2003 - 23:12 Uhr:   

@Nimreem

>Doch kommt gerade aus den USA der Begriff "lame duck".

Das hat allerdings nichts mit unserer "lahmen Ente" oder Stillstand zu tun. Eine lame duck ist ein Amtsinhaber (insbesondere Präsident), der trotz Abwahl noch eine Weile im Amt ist. In den USA war das vor dem 20. Zusatzartikel zur Verfassung ein echtes Problem, weil die Weile sehr lang war.

Wahr ist, dass es auch in den USA (und wohl allen menschlichen Gemeinwesen) politische Blokaden gibt. Klassisches amerikanisches Beispiel wäre, dass der Senat zwar mit 51 (oder 50+Vizepräsident)
Stimmen entscheidet aber 60 Stimmen braucht um die Debatte zu schließen. Wenn es der Opposition wirklich wichtig ist, kann sie eine Entscheidung also einfach durch genug Gefasel verhindern. Gegenwärtig gibt es einige von Bush vorgeschlagene Bundesrichter die bald zwei Jahre auf ihre Anhörung warten obwohl die republikanische Mehrheit sie bestätigen will.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Dienstag, 13. Mai 2003 - 23:14 Uhr:   

@Nimreem
Die Punkte 1 bis 5 und 8 sind Allgemeinplätze. Und direkte WAhl macht Politiker keineswegs zwingend unabhängiger (wovon eigentlich?). In den USA werden die Abgeordneten gleich direkt von den Lobbys finanziert. Fast immer gewinnt der Kandidat, der das meiste Geld in die Kampagne investiert hat. Die sind eher noch abhängiger als bei uns. WAs auch die These widerlegt, die Parteien an sich seien an allem schuld, denn Parteien wie bei uns gibt es in Amerika eigentlich nicht.
Plebiszite würden den Reformstau eher noch verschärfen. Es ist immer leichter, Menschen gegen etwas zu mobilisieren als für etwas. Das sieht man auch in der Schweiz (auch wenn die Lage da natürlich deutlich anders ist). Bei Referenden gegen beschlossene Gesetze liegt die Erfolgsquote bei gut 50%, Volksinitiativen sind dagegen nur selten erfolgreich. Außerdem können Lobbygruppen auch bei Volksabstimmungen mit gut in Szene gesetzten Kampagnen großen Einfluß ausüben.

Dass sich in Deutschland nichts ändert liegt m.E. neben den von Ralf schon angeführten Gründen und der institutionellen Fehlkonstruktion im Bund-Länder-Verhältnis auch daran, daß wir doch noch immer im großen und ganzen diesselben Parteien wählen. Es ist ja kein Naturgesetz, daß Union und SPD immer mindestens 75% der Stimmen bekommen (im Bund).

Zu Holland: Erstmal taugt das politische System dort sicher nicht als Vorbild. Da muß man sich z.B. nur mal das monatelange Gewürge bei der Regierungsbildung ansehen. Aber das ist noch nicht einmal ein Extremfall. 1977 brauchte man 208 Tage, um nach der Wahl eine Regierung auf die Beine zu stellen. Auch sonst ist da m.E. einiges im Argen. Ein Referendum gab es in Holland übrigens noch nie.
Daß es dort selten zu einer Blockade kommt (letztmals 1999) liegt schlicht und einfach daran, das bisher jede Regierung, die in der Zweiten Kammer eine Mehrheit hatte, auch in der ERsten Kammer eine besaß. Die Senatoren werden zwar von den Mitgliedern der Provinzialstaaten gwählt, das geschieht aber in aller Regel über landesweite Listen. Die Senatoren sind somit keine Vertreter ihrer Provinz, sondern de facto ihrer Partei.
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gelegentlicher Besucher
Veröffentlicht am Dienstag, 13. Mai 2003 - 23:32 Uhr:   

@ich selbst

Mir fällt gerade auf, dass ich stillschweigend die Anwesenheit aller 100
Senatoren unterstellt habe. Eigentlich sind die Regeln:
Entscheidung benötigt Mehrheit der anwesenden Senatoren.
Bei Gleichstand entscheidet der Vizepräsident.
Cloture (Debattenschluß) benötigt die Mehrheit von 3/5 der eingeschworenen Senatoren (also mit Abwesenden aber ohne Vakanzen)
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c07
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 07:45 Uhr:   

Zu den Spiegel-Thesen (die ich nicht im Original vor mir liegen hab):

> 5. Politiker werden in wichtige Ämter direkt vom Volk gewählt.
> Das macht sie unabhängiger.

Zumindest bezüglich Blockademöglichkeiten ist das auf jeden Fall kontraproduktiv. Die Abhängigkeit von einer möglicherweise konträren Mehrheit sinkt ja nur dann wirklich, wenn gleichzeitig diktatorische Rechte gewährt werden. Wirklich unabhängig ist eher wer, der sich auf Gleichgesinnte verlassen kann, von denen er gewählt worden ist.

> 7. Die Parteien sind vom Grundgesetz mit zu viel Macht ausgestattet,
> sie müssen sich mehr um Meinungsbildung und politische Programme kümmern.

Das ist schon in sich wiedersprüchlich. Zur Meinungsbildung ist auf jeden Fall eine gewisse Macht (und insbesondere auch Finanzausstattung) notwendig. Richtig könnte höchstens sein, dass die Vielfalt zu gering ist, weil sich die Macht auf zu wenig Parteien konzentriert. Aber hinsichtlich Blockademöglichkeiten ist eine große Zahl an Parteien natürlich auch problematisch. Wer aber nur darauf optimieren will, landet bei einem Einparteiensystem.

> 8. Die Macht der Verbände berucht auf einem veralteten Pluralismus-Konzept.

Fast alle Verbände haben doch nur auf informeller Ebene Macht, mit ein paar Ausnahmen bei den Tarifparteien und Kirchen, die wirklich fragwürdig sind. Sollten etwa Verbandsvertreter ein Betätigungsverbot in den Parteien bekommen? Das wär doch pervers.

> Die gesetzlichen Handlungsspielräume für die Regierung müssen größer werden.

Das Problem ist also die Demokratie...

Thomas:
> Plebiszite würden den Reformstau eher noch verschärfen.
> Es ist immer leichter, Menschen gegen etwas zu mobilisieren als für etwas.

Mal abgesehen davon, dass ich Reformen gegen den explizit ausgedrückten Willen einer Mehrheit in einer Demokratie für wenig sinnvoll halt, stimmt das bestenfalls für Inititativen gegen bestehende Gesetze. Wenn es kein zu hartes Quorum gibt, haben vom Volk ausgehende Reformen ziemlich gute Chancen. Nicht umsonst ist es zumindest in Bayern üblich, stets irgendwas positiv Formuliertes einem unerwünschten Volks- bzw. Bürgerbegehren entgegenzusetzen. Eine reine Nein-Kampagne hat viel schlechtere Voraussetzungen.
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Nimreem
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 09:23 Uhr:   

@ c07,

kann ich aus der NGO, bei der ich aktiv bin, bestätigen. Wenn eine Kampagne gestartet wird, zu einer Demo aufgerufen wird, ein Banner gemalt wird, fragen wir uns immer (und das nicht, weil wir es schöner finden, sondern weil wir wissen, dass wir so unser Anliegen besser anbringen können), wie können wir es formulieren, dass wir "für" und nicht "gegen" etwas sind.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 11:58 Uhr:   

@ c07

Man kann eine Ablehnung immer auch positiv formulieren, z.B. "Wir sind gegen Reformen weil wir für den Erhalt des Sozialstaates sind". Nur ist es dann so, daß die Ablehnung zwar sehr konkret ist, was man stattdessen will ist dagegen entweder sehr vage formuliert oder ist nichts anderes als der Erhalt des Status quo. Denn sobald man konkreter wird nimmt auch die Ablehnung zu. Mit der vagen Andeutung eines Gegenkonzeptes wird nur die starre Abwehrhaltung kaschiert.
Das sieht man gerade auch bei NGOs. Die Globalisierungsgegener beispielsweise sind so ziemlich gegen alles, was mit wirtschaftlichem Fortschritt zu tun hat. Gegenkonzepte haben sie aber keine und das können sie auch nicht, weil die Interessen viel zu widersprüchlich sind. Die Grüppchen aus den Drittweltstaaten beispielsweise beklagen die Abschottung der Indusriestaaten. Gewerkschafter aus reichen Ländern aber wollen ihre Märkte gerade gegen billige Konkurrenz aus ärmeren Ländern abschotten. Solche Gegensätze sind unüberbrückbar, das kann man nur mit wolkigem Geschwafel über eine gerechte Welt zukleistern. Das hört sich dann zwar konstruktiv an ist aber völlig inhaltsleer und destruktiv. Globalisierungsgegner sind in Deutschland nur Leute, die einfach aus Prinzip gegen irgend etwas sein müssen. Früher war man halt gegen NATO-Doppelbeschluß, Startbahn West, Wackersdorf, Gorleben etc. etc., heute ist man eben gegen die Globalisierung.
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Nimreen
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 12:17 Uhr:   

@ Thomas,

erstens gibt es keine Globalisierungsgegner sondern nur Globalisierungskritiker, d.h. sie sind durchaus für die Globalisierung, nur nicht in der heutigen Form. Zweitens haben sie durchaus Konzepte: angefangen von der Tobin-Steuer bis zur Umgestaltung der WTO. Diese Konzepte mögen dir ja nicht gefallen, aber es gibt sie. Drittens ist mir keine Gewerkschaft bekannt, die sich für eine Abschottung ihrer Branche von den Entwicklungsländern einsetzt - ausser die Bauern. Und diese sind eben nicht Teil der globalisierungskritischen Bewegung.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 13:01 Uhr:   

@ Nimreem
Naja, die langen Übergangsfristen für Arbeitnehmer aus den EU-Beitrittsländern sind auch auf den Einfluß der Gewerkschaften zurückzuführen. Über den Sinn oder Unsinn der Tobin Tax will ich hier nicht diskutiern, aber welch höchst unsoziale Folgen eine Behinderung des freien Floatings einer Währung haben kann, ist ja gerade in Argentinien zu beobachten. Aber die Befürworter der Tobin Tax wissen auch genau, daß ihre Einführung höchst unwahrscheinlich ist und spätestens wenn es darum ginge, die Einnahmen zu verteilen gäbe es mächtig Krach.
Ungewollt bestätigst du ja auch meine These, Gegner von irgend etwas würden versuchen ihrer Abwehrhaltung ein positiveres Gesicht zu geben, indem du die Globalisierungsgegner Globalisierungskritiker nennst. Da gibt es zwar strenggenommen einen Unterschied, aber meistens läuft Kritik doch auf Gegnerschaft hinaus.
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c07
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 13:08 Uhr:   

Thomas:

Wer ein frisch beschlossenes Gesetz oder einen konkurrierenden Volksentscheid ablehnt, braucht schon sehr konkrete Gegenkonzepte, um das ins Positive zu wenden. Die mobilisierende Wirkung entsteht ja gerade aus der beabsichtigten Änderung des Status quo. Für dessen Erhalt kannst du höchstens dann wen hinterm Ofen hervorholen, wenns an die Existenz geht oder ein sehr gutes Feindbild verfügbar ist. Eben das wird ja als gewichtigstes Argument gegen Plebiszite eingewendet, wobei aber mit der Gewöhnung an Volksentscheide auch die Bereitschaft steigt, unsinnige Forderungen aktiv abzulehnen. Und bloß mit der "vagen Andeutung eines Gegenkonzepts" kannst du eh kein Volksbegehren machen.

Globalisierung ist ja der Status quo und kein Zustand, der nur angestrebt wird. Wer sie akzeptiert, tut das in aller Regel, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Die Gegner sind hier in der aktiven Position. Bei deinen anderen Beispielen haben viele ihre Existenz bedroht gesehen; teilweise war damals sicher auch diffuser genereller Wiederstand gegen das Establishment dabei. Aber diese Proteste waren wahrscheinlich auch nur regional gesehen mehrheitsfähig.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 13:41 Uhr:   

Zu den Thesen des Spiegels doch auch einige Bemerkungen:

1. Die Ministerpräsidenten dürfen im Bund nicht mehr mitregieren. Der Bundesrat muss abgeschafft werden oder neue Aufgaben bekommen.

=> Der BR ist vom GG nicht als Vertretung oder verlängerter Arm der Ministerpräsidenten gedacht. Ja, sie werden im Zusammenhang mit dem BR nicht einmal vom GG erwähnt! Indessen ist aber festzuhalten, dass in einem Bundesstaat die Länderregierungen bzw. deren Chefs, die Ministerpräsidenten immer einen gewissen Einfluss haben werden, der sich überregional oder national auswirkt, evtl. sogar in die Aussenpolitik hinein erstrecken kann (in der Schweiz gegenwärtig z. B. Zürich/Flughafenstreit, obwohl die Regierungen dort keinerlei Vertretung im Bund haben). In Konsequenz müsste man die Länder auflösen und einen Einheitsstaat schaffen.

2. Das Kartell der Länder muss gebrochen werden. Absprachen und Konsens-Pflege bringen Stillstand. Stattdessen müssen die Länder, durch Neugliederung gestärkt, miteinander und mit den europäischen Nachbarn in Konkurrenz treten.

=> Was für ein Kartell soll das sein? Und wie und worum sollen Länder konkurrieren? Länder sind teils gewachsene Einheiten, historisch, geographisch, durch Sprachen, Religionen, Volkszugehörigkeiten usw. bestimmt. In Länder wird man hineingeboren wie in Familien, und im allgemeinen pflegen Menschen ihre Eltern zu lieben oder wenigstens zu mögen, und ebenso pflegen sie an ihren Ländern zu hängen, was man je nach dem Heimatliebe, Patriotismus oder Heimweh nennt. Länder können also wohl kaum so konkurrieren wie Bratwurststände, Imbissbuden oder Discounter.

3. Die Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern müssen neu aufgeteilt werden. Vor allem über ihre Steuern sollen die Länder selbst bestimmen dürfen.

=> Das ist eine Forderung, die sich grundsätzlich vernünftig anhört. Allerdings ist zu fragen, was das dann konkret heissen soll. Wo nicht eine Instanz allein zuständig ist, gibt es immer mehr oder weniger Überschneidungen, Unklarheiten, Koordinationsprobleme, Kompetenzstreitigkeiten. Ich glaube nicht, dass dieses Problem ein für alle Mal gelöst werden kann, sondern dauernd und immer wiede neu gelöst werden muss.

4. Der Bund bekommt ganz neue Vermittlungsaufgaben zwischen Europa und den Regionen.

=> Auch dies ist eine These, die in ihrer Allgemeinheit niemand bestreiten wird. Die interessante Frage ist aber die: Wecleh Aufgaben?

5. Politiker werden in wichtige Ämter direkt vom Volk gewählt. Das macht sie unabhängiger.

=> Das dürfte nur bedingt zutreffen. Die Frage ist, in welche Ämter, wie gewählt, von wem gewählt (bundesweit, regional, lokal) usw. Schlimmstenfalls fördert dies einfach nur die Tendenzen der TV-Demokratie: Auftreten ist wichtiger als politische Standpunkte, Geld entscheidet im Wahlkampf, Köpfe statt Parolen, Populismus pur usw.

6. Mit Plebisziten können Gesetzesbeschlüsse des Parlaments erzwungen oder rückgängig gemacht werden.

=> Es ist mir nie klar geworden, warum in Deutschland durchwegs von Plebisziten die Rede ist, mit welcher Begrifflichkeit man sich in eine ganz bestimmte Tradition stellt, nämlich in jene des obrigkeitlichen Staates, der gelegentlich seine Untertanen zur Bestätigung seiner Politik an die Urnen ruft. Der Begriff des Plebiszits ist so definiert, dass die Initiative von oben ausgeht und das Volk bloss ja oder nein sagen kann. Das würde m. E. die Politik in Deutschland kaum wesentlich beeinflussen und wenn schon eher zum Schlechteren hin. Ein System, bei dem Volksentscheide in bestimmten Fällen automatisch (z. B. bei Verfassungsänderungen) oder auf Volksbegehren hin stattfinden und bei dem evtl. auch die Wahl zwischen z. B. zwei gegensätzlichen Vorlagen stattfinden könnte, könnte allerdings der Politik schon gut tun. Z. B. könnte man sich denken, dass Änderungen des GG, die zwar in einer der beiden Kammern angenommen, in der andern abgelehnt oder von beiden zwar mehrheitlich befürwortet, aber nicht mit 2/3-Mehrheit angenommen wurden, anschliessend dem Volk vorgelegt würden, das eine solche Änderung dann doch annehmen könnte. Damit liessen sich gewisse Blockaden vielleicht schon überwinden. Auch hier wieder muss ich meinen Refrain wiederholen: Es kommt sehr auf die konkrete Augestaltung an.
Im übrigen sollte man vielleicht auch überlegen, ob es sinnvoll sei, in einem Land ohne Tradition mit Volksentscheiden nicht vielleicht eher diesen einmal auf unteren Ebenen einzuführen und mit der bundesweiten Einführung zuzuwarten, bis sich eine Tradition auf unterer Ebene ausgebildet hat, Erfahrungen gesammelt wurden und die Gefahr des Missbrauchs in der einen oder andern Richtung gering geworden ist.

7. Die Parteien sind vom Grundgesetz mit zu viel Macht ausgestattet, sie müssen sich mehr um Meinungsbildung und politische Programme kümmern.

=> Tja, Meinungsbildung bedeutet aber auch Machtausübung. Und politische Programme sind da, verwirklicht zu werden. Parteien stellen Kandidaturen, und diese sind dazu da, Macht in Form von Mitsprache in politischen Gremien auszuüben usw. Ich glaube nicht, dass im GG den Parteien zuviel Macht zugestanden werde, sie werden im GG ja kaum erwähnt (Garantie der Parteibildung, Auflagen gegen Missbräuche, Finanzierung), Organe des Staates sind sie nicht.

8. Die Macht der Verbände berucht auf einem veralteten Pluralismus-Konzept. Der häufig rücksichtslos genutzte Einfluss von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und anderen Interessengruppen muss grundgesetzlich eingeschränkt werden.

=> Und wie soll man das machen? Verbände verbieten? Die freie Meinungsäusserung beschränken, Gewerkschaften aufheben? Diese These ist m. E. schlicht absurd, da sie ausser Acht lässt, dass Politik nicht im lufleeren Raum der Ideen stattfinden, sondern inmitten einer Gesellschaft in der alles mit allem zusammenhängt.

9. Der Rechtsstaat behindert die Bürger, statt sie zu schützen. Gesetze müssen einfacher werden, ihre Zahl sollte zurückgehen. Die gesetzlichen Handlungsspielräume für die Regierung müssen größer werden.

=> Die Alternative zum Rechtsstaat wäre die Anarchie oder die Diktatur bzw. Willkürstaat. Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass Konflikte offen und fair vor richterlichen Behörden ausgetragen werden und dass im übrigen alles staatliche Handeln an Gesetze gebunden ist. Es kann, wenn man diese beiden Grundsätze bejaht, nur darum gehen, wie die Gesetze im einzelnen formuliert sind, und da gibt es in Deutschland vielleicht eine Tendenz zur Gründlichkeit und Lückenlosigkeit, die ihresgleichen weltweit sucht. Aber das ist kein Problem des Rechtsstaates.

10. Die Rechtsweggarantie des Grundgesetzes geht zu weit. Mit weniger Justiz und weniger Richtern werden Staat und Gesellschaft beweglicher.

=> Rechtsweggarantien sind aus einem bestimmten Grund geschaffen worden und stellen einen Schutz der Bürger da, der jeweils Schwächeren in einem Streit usf. Eine solche These klingt daher übel nach Tyrannei. Ich glaube im Gegenteil, dass die vor der Justiz ausgetragenen Konflikte zugenommen haben, WEIL die Gesellschaft beweglicher geworden ist. Durch mehr Bewegung gibt es auch mehr Zusammenstösse, und diese neigen nun einmal dazu, in einem Rechtsstaat bei der Justiz anzufallen.

Kurz: Ich halte diese Thesen insgesamt für wenig durchdacht und sogar für gefährlich.
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c07
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 14:23 Uhr:   

Philipp:
> Länder sind teils gewachsene Einheiten, historisch, geographisch,
> durch Sprachen, Religionen, Volkszugehörigkeiten usw. bestimmt.

All das stimmt für die meisten deutschen Länder kaum. Nur Hamburg, Bremen, das Saarland und Bayern haben eine halbwegs ungebrochene nennenswerte eigene Geschichte. Allein weil sie ein Gebiet umgrenzen, geben sie aber trotzdem Heimat und können deshalb wirklich nicht wie Bratwurststände miteinander konkurrieren.

Die Idee, Verfassungsänderungen, die zwar eine parlamentarische Mehrheit, aber keine ausreichend qualifizierte, haben, dem Volk vorzulegen, wär übrigens ein ziemlich risikoloser Einstieg in die Volksgesetzgebung, der zugleich aktuelle Probleme lösen helfen könnte.
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Nimreem
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 14:54 Uhr:   

@ Thomas,

nein, z.B. im Landwirtschaftssektor plädieren die Globalisierungskritiker für globalere Märkte (= weniger Abschottung der Industriestaaten) als wir gegenwärtig haben. Ähnliches gilt für Umweltschutz- und Sicherheitsaspekte (z.B. Öltanker). Das ist keine grundsätzliche Gegnerschaft der Globalisierung.

Und die Tobin Tax könnte durchaus national oder auch EU-weit eingeführt werden. So jedenfalls das Ergebnis einer Studie. Sicherlich kann es auch andere Studien mit anderen Ergebnissen geben, aber dass die Studie falsch ist, ist nicht nachgewiesen.

Und zu den Gewerkschaften: das kann man nur sagen, wenn man den Arbeitsmarkt betrachtet. Da stimme ich dir zu, wenngleich dies auch aus Sicht der Gewerkschaften nur kurzfristig sein soll. Beim Gütermarkt kenne ich solche Gewerkschaftsäusserungen aber nicht.
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Nimreem
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 15:14 Uhr:   

@ Phillip,

in den meisten Punkten stimme ich dir zu. Dennoch die Kritik an deinen Ausführungen:

ad 1) Da kauf dir mal den aktuellen SPIEGEL. Kann ich wirklich nicht kurz wiedergeben. Aber in einem langen Artikel beschreibt der SPIEGEL die Entstehungsgeschichte des Bundesrates im GG. War mir auch neu. Zuerst stand er nicht drin, er wurde aber von den Ländern (vor allem Bayern) reingeschrieben (gegen den Willen der "Bonner" Schumacher, Dehler und vor allem Adenauer). Diese wollten eine Art US-Senat. Also eine Kammer frei gewählter Abgeordneter, die auch nicht abhängig von den Gouverneuren sind. Allerdings ist natürlich richtig, was der SPIEGEL nicht schreibt, dass zwischen einem SPD-Bundestag und einem CDU-Bundesrat auch eine Blockade existieren könnte. Dann eigentlich sogar noch stärker, denn gegenwärtig entscheiden die Ministerpräsidenten - zumindest verbal - zum Wohle ihres Bundesland. Und die oder eine Entscheidung ist ja auch mit Investition des Bundes im entscheidenden Bundesland erkauft worden. Das wäre dann nicht mehr möglich, wenn es klar um Parteipolitik ginge.

ad 2) Es gibt die A- und die B-Länder. Und da herrscht natürlich ein Kartell. Nicht zwingend, wie gesagt manchmal sind Länder aus dem Kartell "herausgekauft" worden. Aber grundsätzlich besteht dieses Kartell, jedenfalls in wichtigen Fragen.
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Thilo
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 16:43 Uhr:   

Ich finde es gut, dass der Spiegel das Thema aufgreift. Der gegenwärtigen Zustand ist in der Tat bedenklich. So stimme ich der Aussage voll zu, dass die Entscheidungsfindung in den Wechselwirkungen von Bundestag, Bundesrat und vor allem den 16 Landesregierungen untereinander für den Wähler nicht mehr durchschaubar ist. Klare und öffentliche Zurechenbarkeit von politischer Verantwortung ist aber die Grundvoraussetzung für wirksame demokratischer Kontrolle.

Ein weiteres Problem, das nicht angesprochen wurde, sehen ich in der Unterteilung in "zustimmungspflichtige" und "Einspruchsgesetze". Diese Zweigleisigkeit der Gesetzgebung erscheint mir auch insgesamt eher schädlich zu sein.

Bei der Formulierung von Gesetzesvorlagen sollte es nicht darauf ankommen, dass die formale Zustimmungspflichtigkeit vermieden (oder wegen parteipolitischer Spielchen heraufbeschworen) wird. So etwas führt zu einer "work-around" Gesetzgebung, bei der sachliche Fragen weiter in den Hintergrund treten und die sich bürokratischer Hilfskonstruktionen bedient. Wenn der Prozess der Bundesgesetzgebung einheitlich gestaltet ist, ist dieser Fehlanreiz nicht mehr gegeben.

Mein Vorschlag, um Verbesserungen in beiden Punkten zu erreichen wäre zunächst eine deutliche Entflechtung von Bundes- und Landeszuständigkeiten zu Gunsten der Länder, etwa durch die Rückverlagerung aller seit den sechziger Jahren geschaffenen so genannten Gemeinschaftsaufgaben in die ausschließliche Landeskompetenz.

Wünschenswert wäre darüber hinaus, die Aufteilung fast aller wichtigen Steuerarten zwischen Bund und Länder dadurch zu ersetzten, dass grundsätzlich indirekte Steuerarten dem Bund und direkte Steuerarten den Ländern und Gemeinden zustehen. Über die Ausgestaltung der (direkten) Steuergesetze sollten die Landesparlamente jeweils die volle Kompetenz erhalten. Der Bund sollte die Finanzhoheit der Länder nur in soweit einschränken dürfen, wie es internationale Verpflichtungen der Bundesrepublik etwa durch Regelungen zur Steuerharmonisierung innerhalb der EU erfordern.

Da diese Systemänderung zunächst den Bundesfinanzminister gegenüber seinen Länderkollegen bevorteilen würde (die Bedeutung indirekter Steuerarten haben in den letzten Jahren die der direkten überholt) könnte er im Gegenzug alle Kosten zur Unterstützung strukturschwacher Bundesländer übernehmen und damit den horizontalen Finanzausgleich zwischen den Ländern ersetzen.

Bei der beim Bund verbliebenen Gesetzgebung sollte die Unterscheidung in zustimmungspflichtige- und nicht zustimmungspflichtige Gesetze entfallen. Stattdessen schlage ich für alle Bundesgesetze die Möglichkeit eines (nur) aufschiebenden Vetos durch den Bundesrat vor. Wenn etwa der Bundesrat eine Gesetzesvorlage ablehnt, dann soll der Bundestag diesen Einspruch erst nach (z.B.) 26 Wochen mit Kanzlermehrheit überstimmen können. In der Zwischenzeit kann sich die Mehrheit im Bundestag noch um einen Kompromiss mit der Mehrheit der Länderregierungen bemühen. Oder aber sie entscheidet sich, die Sache auszusitzen. Mit der Aussicht darauf dürften sich jedoch die Mitglieder des Bundesrates eher zu einer ernsthaften Kompromisssuche bewegen lassen. So können sie das Ergebnis noch in ihrem Sinne verändern.

Gleichzeit ist den Mehrheitsparteien im Bundestag bei der nächsten Wahl die Ausrede genommen, sie hätten Missstände in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht beseitigen können, weil der Bundesrat sie dauerhaft blockiert habe. So kann der Wähler dann wirklich entscheiden, ob er sie durch Entzug seiner Stimme für ihre Versäumnisse abstrafen will oder nicht.

MfG
Thilo

Ein weiterer Denkanstoss zum Thema:
http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~mwieland/pol/pv-falle.html#Heading3
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 17:32 Uhr:   

Die Spiegel-Thesen halte ich weitgehend für populistischen Unsinn, vordergründig den gängigen Vorurteilen folgend.

Natürlich müssen Bund- und Länder-Kompetenzen mal wieder neu abgegrenzt werden (incl. Steuern), damit beide Ebenen handlungsfähiger werden.
Ansonsten aber ist das Geschwätz vom "Kartell" nur ein Beleg, daß die Autoren den Föderalismus nicht begriffen haben.

Grundsätzlich kann man in zwei Richtungen Fehler machen: Entweder zuviel "Checks and Balances" einbauen (das führt zu Blockade und Unbeweglichkeit) oder zu wenig (dann fehlt die Kontinuität und es wird zu hektisch und undurchdacht nur immer umgeändert).
Derzeit leiden wir unter dem einen Extrem, deswegen sollten wir nicht ins andere verfallen.

Das mit der Politikerdirektwahl ist eine ziemlich heikle Sache und ohne solide Umkonstruktion nicht sinnvoll machbar. Man hat sonst entweder Blockaden zwischen den Direktgewählten und politisch entgegengesetzten Mehrheiten und/oder die Direktgewählten mißbrauchen ihre Kompetenzen, um unter Vernachlässigung der Sacharbeit nur an der Wiederwahl zu arbeiten.

Ähnliches gilt für Volksabstimmungen (nicht "Plebiszite"). Auch da müssen erst einmal die Verantwortungsbereiche neu sortiert und abgegrenzt werden. Philipp Wälchli hat da schon das Nötige gesagt - dieses Verfahren muß man langsam und stufenweise einführen.

Bei den Verbänden werden zwei Aspekte unverstanden vermischt.
Ihr politischer Einfluß ist informell und kann und darf in einer Demokratie überhaupt nicht gesetzlich eingeschränkt werden. Wenn z. B. Schröder derzeit Zoff mit dem DGB hat, dann ist das ein Kampf um Argumente, Köpfe oder Lufthoheit - die Gewerkschaften haben aber keinen juristisch wirksamen Einfluß auf Parlament oder Regierung.

Die gesetzlichen Privilegien der Verbände könnte und sollte man natürlich abschaffen. Dazu hat ja schon Graf Lambsdorf vor 20 Jahren einen Entwurf vorgelegt, der immer noch aktuell ist (weil sich noch nie einer getraut hat, das durchzusetzen).

Und die Anti-Rechtsstaat/Rechtsweg-Vorwürfe des Spiegel sind ohne echte Substanz und bedenklich.
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Nimreem
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 18:05 Uhr:   

@ Thilo,

mit der Entflechtung stimme ich dir zu, obwohl ich auch mit Philipp zu Bedenken gebe, dass das nicht wirklich einfach ist. Nimm die Universitäten: lass es Landesaufgabe sein, aber spätestens bei Subvention von F+E ist auch der Bund wieder im Spiel. Möglich auch, dass einige Gebäude heute dem Bund gehören. Die müssten also dann zuerst die Länder abkaufen.

Wenn aber Entflechtung dann mehr in Richtung Bund und nicht Länder. Die Welt wird nun mal immer globaler. Viele Steuergesetze (sagst du ja auch) werden immer mehr in Europa entschieden. Viele Gesetze und Verordnungen auch. Universitäts- und Schulabschlüsse müssen europaweit - wenn nicht weltweit - angeglichen werden. Wenn ein Ausländer in Deutschland studieren will, wird es schwer, wenn er sich mit 16 verschiedenen Prüfungsordnungen rumschlagen muss bei der Auswahl, welche Uni er sich aussucht.

Natürlich kann man nicht wirklich die Länder ganz abschaffen, da wird das Beharrungsvermögen zu stark sein (auch in der Bevölkerung). Aber die Richtung muss klar sein.
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Thilo
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 19:38 Uhr:   

Hallo Nimreem,

danke für die Antwort! Nun, um das Problem zu lösen könnte man ja auch nicht die Länder sondern den Bund abschaffen und einzeln der EU beitreten.

Wenn ich so etwas wie die optimale Größe einer politischen Einheit festlegen sollte, würde ich sie irgendwo im Bereich zwischen einer und fünfzehn Millionen Einwohnern vermuten. Bei kleineren Einheiten fehlen die Ressourcen, um viele staatlichen Einrichtungen in gewünschter Qualität vorhalten zu können. Außerdem besteht die Gefahr einer Korruption der Nähe. Wenn "jeder jeden kennt", wenn der beschränkte Pressemarkt lokalen Medienmonopole herausbildet, werden persönliche Abhängigkeiten zu groß.

Andererseits entsteht bei Einheiten, die etwa die Größe Bayerns oder NRWs überschreiten, eine Intransparenz durch Unüberschaubarkeit und Bürgerferne. Zwischen Parlament und Bürger müssen mehrere verwaltungstechnische Zwischenebenen errichtet werden, was unnötige Distanz schafft. Außerdem geht ein großes Stück regionaler Verbundenheit der Politik verloren, die durchaus positiv zu sehen ist. Von einem sächsischen Kultusminister z.B. wird man immer mehr Hingabe bei der Pflege der Dresdner Museenlandschaft erwarten, als von einem Verantwortlichen in Berlin, der neben Dresden noch vier oder fünf ähnlich bedeutende Sammlungen in anderen Regionen Deutschlands zu betreuen hat.

Dass der 82-Millionen Staat Deutschland also nicht zentralistisch verwaltet wird, ist eine sehr gute Entscheidung.

Das Argument, wir "vereinigen Europa da können wir uns keine deutsche Landesfürsten mehr leisten", zieht meiner Meinung nach nicht. Im Gegenteil viele deutsche Bundesländer sind größer als die meisten EU-Staaten.

Warum soll es ein Problem sein, wenn ein ausländischer Student sich auch zwischen dem niedersächsischen oder thüringischen Hochschulsystem entscheiden kann, so wie er es jetzt schon zwischen einem finnischen, schwedischen oder schottischen tut? Er wird sich wahrscheinlich vor allem an dem Ruf orientieren, den sich die Universität in einem Bundeslandes in seinem Fachgebiet erarbeitet hat. Das ist doch ein Ansporn für die Landeswissenschaftminister, ihre Sache besser als andere zu machen.

Mehr Wettbewerbsföderalismus erscheint mir gerade im Universitätsbereich, eine gute Idee zu sein. Das galt für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg als deutsche Universitäten die größte Anziehungskraft für Ausländer entwickelten. Damals waren die Hochschulen der Stolz der einzelenen Landesfürsten und wurden entsprechend gefördert und als Ausdruck ihrer Weltläufigkeit angesehen. Auch heute brauchen wir zum Erreichen internationaler Standarts nicht die Zuständigkeit einer Zwischenkoordinationsebene "Bund", dafür werden die Länder direkt sorgen, wie die kleineren politischen Einheiten in Europa sonst auch tun.

einen schönen Abend noch
Thilo
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Nimreem
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. Mai 2003 - 22:32 Uhr:   

Moin Thilo,

"Das Argument, wir "vereinigen Europa da können wir uns keine deutsche Landesfürsten mehr leisten", zieht meiner Meinung nach nicht. Im Gegenteil viele deutsche Bundesländer sind größer als die meisten EU-Staaten."

Ich bin ja auch dagegen, dass wir so viele kleine EU-Staaten haben. Insofern ist das ein Argument. Allerdings mein Wunsch z.B. auf eine Vereinigung der baltischen Länder brauchen wir hier nicht wirklich zu diskutieren (oder Schweden, Finnland und Norwegen zu einem). ;)

Optimale Grösse ist für mich bei einem Staat mit 50-100 Mio. 1 Mio. hat Slowenien. Wie sollen die denn eine Verteidigung aufbauen? Aussenpolitisches Gewicht erzeugen? Eine Wirtschaft von globalen Format aufbauen? Das geht dann wieder nur in Bündnissen (EU). Da kann man diese Einheit aber gleich grösser wählen. Selbst Berlin hat über 3 Mio. Einwohner. Ein Drittel Berlin wäre für dich schon eine ausreichende Grösse für einen eigenen Staat?
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Cram
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Mai 2003 - 01:02 Uhr:   

Man kann in den letzten Jahren zwei verschiedene poltische Tendenzen ausmachen: einmal die Globalisierung und der Zusammenschluß zu größeren Einheiten und die engere Integration dieser Einheiten (bes. EU, aber auch Nafta, abgeschwächt ASEAN). Daneben gibt es aber auch die Tendenz zur Regionalisierung (Devolution). Sei es in Spanien oder in Italien, die Region haben größere Kompetenzen bekommen und streben nach Autonomie. Und selbst in GB, das traditionell ein Zentralstaate ist wurde nicht nur in Nordirland sondern auch in Schottland ein Parlament geschaffen. Die zunehmende Tendenz zur Föderalisierung kommt auch dadurch zum Ausdruck das es in Europa ein Ausschuß der Regionen geschaffen wurde dessen Bedeutung zunimmt und der den Regionen eben DIREKT Einflußmöglichkeiten gibt ohne Umwege über nationale Regierungen.
Bei der zukünftigen Entwicklung der EU wird gerade wichtig sein die Regionen zu beteiligen. Die Europäische Union kann nicht nur die Sache von nationalen Regierungen sein. Die EU-Politik greift in so viele Bereiche ein, das in den betroffenen Bereichen die die Regionen und deren Kompetenzen betreffen auch die Regionen stärker mitreden müssen. Dies würde auch die Distanz und bürgerferne der EU reduzieren helfen.
Europäische Integration und Regionalisierung sind letzlich zwei Seiten der selben Medaille. In der globalisierten Welt wird eine größere Zusammenarbeit der Staaten notwendig und gerade aus wirtschaftlichen Gründen ist zwischen den wirtschaftlich so stark verflochtenen europäischen Staaten eine Wirtschafts- und Währungsunion insgesamt vorteilhaft (es bedeutet aber natürlich auch das der Druck zur Strukturanpassung größer wird und damit der Reformdruck wächst. Bislang ist Deutschland dem kaum nachgekommen, gerade was die Reform des Arbeitsmarktes und der Sozialversicherungssysteme betrifft - der Preis für diese Versäumnisse ist natürlich eine hohe Arbeitslosigkeit)
Zugleich wächst aber auch das Bedürfnis nach überschaubareren Einheiten. Die Region, die häufig historische Einheiten sind bieten diese. Den deutschen Bundesländern wird oft entgegengehalten das sie diese nicht hätten. Es wird gesagt nur Hamburg, Bremen, das Saarland und Bayern haben eine halbwegs ungebrochene nennenswerte eigene Geschichte. Nun: Sachsen hat z.B. das auch, wenngleich das heutige Sachsen kleiner ist als Sachsen zu seiner Hochzeit. Thüringen war zwar keine politische Einheit, aber die Region wurde historisch als Thüringen bezeichnet, da sie eben z.B. von der Sprache (besser gesagt Dialekt) eine Einheit bildete. Eine Identifikation der Bewohner mit ihrem Bundesland ist weitgehend vorhanden.
Ähnlich ist es in Hessen, das ebenfalls lange keine politische Einheit war, aber dennoch eine landsmannschaftliche Einheit darstellt, die auf eine lange Tradition zurückreicht, trotz der Spaltung in die Herzogtümer Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel und die freie Reichsstadt Frankfurt.
Was die übrigen Bundesländer betrifft, so ist deren Geschichte oft kürzer. Niedersachsen und Sachsen-Anhalt waren beispielsweise preußische Provinzen. Berlin war einst das Zentrum Brandenburg-Preußens (von daher erscheint auch aus historischer Sicht eine Vereinigung sinnvoll). Mecklenburg hat auch eine recht lange historische Tradition (das dem der deutsche Teil Vorpommerns hinzugeschlagen wurde ist praktisch zwangsläufig gewesen, den irgendwo mußte man ihn ja einfügen, er macht aber nur einen kleinen Teil des Bundeslandes aus das ansonsten auf einer gewachsenen Struktur basiert). Schleswig-Holstein hat ebenfalls keine sonderlich lange Tradition. Die westdeutschen und südwestdeutschen Länder wurden erst nach dem 2. Weltkrieg gebildet und haben damit eine recht kurze Tradition. Aber: auch 58 Jahre oder im Fall Baden-Würtembergs 51 Jahre sind Geschichte. "Historische Einheiten" müssen nicht vor Jahrhunderten entstanden sein, sie können auch kürzeren Datums sein und sie können ja auch noch im entstehen begriffen sein. Schließlich sind wir ja nicht "am Ende der Geschichte".
Die EU ist im übrigen der Versuch der Schaffung einer neuen politischen Einheit und Struktur. Sie ist weder Nationalstaat noch Staat (im klassischen Sinne) noch eine pure Freihandelszone oder Konföderation.
Sie ist damit historisch ohne Beispiel. Wem man sich nun darauf stützen würde es dürfe nur historisch gewachsenen Einheiten geben, dürfte man sich auf so ein Experiment gar nicht einlassen.
Man würde sich damit allerdings selbst der Möglichkeit berauben neue Einheiten zu bilden oder die Struktur von Einheiten zu verändern (von loser Freihandelszone in eine Wirtschafts- und Währungsunion) oder diese zu erweitern.
Das kann letzlich keine Option sein.


Was übrigens die Bildungspolitik anbetrifft: da könnten wir wirklich mehr Wertbewerb gebrauchen. Die Qualitätsunterschiede sind ja schon innerhalb Deutschlands gewaltig. Ich denke das allgemein bekannt ist welche Länder Schlußlicht sind und wer dort regiert: na ja: wenn Berlin sich nicht von der Vergleichsstudie gedrückt hätte wäre es wohl auf dem letzten Platz: so ist es halt Bremen.

Die Schulsysteme sind in den Staaten sehr unterschiedlich.

Was die Hochschulen und die Berufsausbildung betrifft gibt es ja schon Übereinkünfte über die Anerkennungen. Darauf läßt sich ja aufbauen.
Ansonsten sollte aber auch hier der Vielfalt und dem Wettbewerb Raum gegeben werden. Eine einheitliche uniforme Ausbildung ist nicht wünschenswert weder in Deutschland noch in ganz Europa. Jede Hochschule muß auch in der Lage sein eigene Schwerpunkte zu setzen und jedes Land bzw. in Deutschland Bundesland eigene Konzepte umzusetzen.
Ziel sollte daher nicht eine Gleichartigkeit von Bildungsabschlüssen sein, sondern eine Gleichwertigkeit.
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Cram
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Mai 2003 - 01:17 Uhr:   

@Nimreem
"Ich bin ja auch dagegen, dass wir so viele kleine EU-Staaten haben. Insofern ist das ein Argument. Allerdings mein Wunsch z.B. auf eine Vereinigung der baltischen Länder brauchen wir hier nicht wirklich zu diskutieren (oder Schweden, Finnland und Norwegen zu einem)."
Tja: wie können es die baltischen Staaten nur wagen die so einfach als erste die "friedliebende" Sowjetunion verlassen haben, drei verschiedene Sprache sprechen und dann auch noch drei verschiedene Staaten bilden wie sie das bereits nach dem ersten Weltkrieg taten als es ihnen zum ersten Mal gelang von Rußland unabhängig zu werden (diesen Status haben sie im übrigen gerade dank Deutschlands Politik unter Hitler wieder verloren (Hitler-Stalin-Pakt).
Und wie können es die Finnen wagen die zunächst lage von Schweden und dann von Rußland beherrscht wurden einen eigenen Staat zu haben.
Übrigens: Schweden gehört gar nicht dem Euro an, Finnland als einziges skandinavisches Land schon und Norwegen ist gar nicht EU-Mitglied. Im übrigen gehörte es einst zu Dänemark von dem es sich 1814 unabhängig machte.
Ach übrigens: die bösen Iren haben sich auch einst von GB unabhängig gemacht. Diese üble Kleinstaaterei muß doch beseitigt werden.
Und Portugal müßte man wirklich Spanien zuschlagen wie im 16 Jhr.
Und wenn wir gerade dabei sein. Österreich ist auch recht klein und die Schweiz verhält sich doch recht starrköpfig. Warum vereinigen wir sie nicht alle mit Deutschland.
Und Benelux wird natürlich zwischen Deutschland und Frankreich aufgeteilt.
Das schlimmste an den osteuropäischen Kleinstaaten ist aus deiner Sicht aber doch bestimmt das sie so garstig sind und sich nicht der deutsch-französischen Achse einfach unterordnen, sondern ihr Verhältnis zu den USA pflegen, das auch die Hauptachse ihrer (aber nicht nur ihrer) Sicherheitspolitik darstellt. Das ist nun wirklich vollkommen unverzeihlich und zeugt nun wirklich von schlechter Erziehung.
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Nimreem
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Mai 2003 - 06:48 Uhr:   

@ Cram,

ich wollte nicht durch ganz Europa gehen. Ansonsten hätte ich Spanien/Portugal sowie Großbritannien/Irland selbst aufgeführt. Aber das gilt auch nicht nur für Europa, aber ich glaube nicht, dass ich hier weitermachen sollte. Dass es historische Gründe für diese Kleinstaaterei gibt sowohl im Baltikum wie in Skandinavien ist mir bekannt. Dass niemand (ok, vielleicht 0,01%, wenn überhaupt) der Bevölkerung dort eine solche Vereinigung wollen und sie somit auf absehbare Zeit utopisch ist, ist mir auch bekannt. Dass die drei skandinavischen Länder anders zur (und in der) EU stehen, ebenfalls. Dennoch wäre ich, würde es nur nach mir gehen, für diese Vereinigung. Nur geht es nicht nach mir, ist mir schon bekannt. Es war ja auch nur als Antwort auf Thilo gedacht, dass es andere Kleinstaaten in der EU gibt. Ebenso wie ich gegen zusätzliche deutsche Kleinstaaten in der EU wäre, finde ich auch die vielen nicht-deutschen Kleinstaaten in der EU nicht gut. Aber das können wir als Deutsche natürlich nicht ändern, müssen wir akzeptieren. Gut finden müssen wir das ja nicht. Ich bleibe dabei: ich wünsche mir Staaten von 50-100 Mio. Einwohnern, so dass mir ein "vereinigtes Skandinavien" zu klein wäre (ein vereinigtes Baltikum sowieso).

Was die EU-Regionen betrifft: dabei sollen ja vor allem Beziehungen zwischen Ländern gefördert werden. Meinetwegen östlich Holland und westlich NRW näher aneinander zu binden. Dafür benötigt man nicht zwingend deutsche Bundesländer.

Was das Bildungswesen betrifft: Gegen Wettbewerb der Universitäten ist ja nichts zu sagen. Aber wenn es soweit geht, dass die Abschlüsse nicht mehr vergleichbar sind (und darum ging es mir), dann ist das nicht sinnvoll. Es muss schon eine Konkurrenz in einem Rahmen sein. Und das zumindest EU-weit.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Mai 2003 - 07:59 Uhr:   

Generell teile ich Thilos Ansichten, was eine Entflechtung der Gesetze zwischen Bund und Ländern und die Verteilung direkter und indirekter Steuern angeht. Entsprechend habe ich mich ja auch im Thread: "Notwendige Verfassungsänderungen" geäußert. Insofern stimme ich den Positionen des "Spiegel" zu. Es ist doch wirklich zu fragen, warum in Großbritannien schneller Entscheidungen getroffen werden können (vgl. etwa die Reformen Margaret Thatchers): weil dort im politischen System nicht "blockiert" werden kann. Allerdings hat Ralf auch recht, dass dadurch keine Kontinuität gegeben ist. Gesetzgebung kann sich bei Regierungswechseln um 180 Grad drehen. Ich möchte einen Minimalvorschlag machen, der eine erste "durchsetzbare" Reform darstellen würde: meines Erachtens sollten "Enthaltungen" im Bundesrat in der Tat "Enthaltungen" sein und nicht als de-facto-"Nein"-Stimmen gewertet werden (sowohl im Fall der Zustimmungspflichtigen und der Einspruchsgesetze). Was das Element der Volkswahl der Politiker angeht, so teile ich Ralfs Bedenken, obwohl ich meine frühere Position zu diesem Thema (völlige Ablehnung einer solchen Maßnahme wegen der historischen Erfahrungen in Weimar) aufgegeben habe. Ich bin allerdings der Ansicht, die in der Politikwissenschaft ja nicht häufig anzutreffen ist, dass im Falle der Einführung der Direktwahl eines Politikers dessen Machtkompetenzen gerade nicht ausgeweitet werden sollten (wie allgemein gefordert), sondern beschnitten werden sollten, damit Blockaden, Cohabationen und Machtmissbräuche nicht vorkommen. Den Befürwortern der Direktwahl von Stadtoberhäuptern kann ich nur mahnend Ralfs Position nochmal verdeutlichen: Blockade wird wahrscheinlicher (USA bei "gegensätzlichen" Mehrheiten Präsident - Kongress, Frankreich, Polen). Die Tatsache der kompliziert gestalteten Abwahl der Bürgermeister in Hessen (gerade wieder in Hanau und Maintal zu beobachten), die - bei erwiesener Unfähigkeit - 30% aller Wahlberechtigten (!) benötigt, dürfte ein warnendes Beispiel sein. Die frühere hessische Magistratsverfassung, die keine Direktwahl der Stadtoberhäupter vorsah, verhinderte gegensätzliche "Mehrheiten" und war meines Erachtens praktikabler.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Mai 2003 - 09:52 Uhr:   

Man sollte sich vielleicht etwas von der Frage lösen, ob nun eine politische Einheit als souveräner Staat dasteht oder nicht. Das ist nämlich für die meisten praktischen Fragen gar nicht so relevant.

Natürlich hat Nimreem recht, daß ein 1-Millionen-Staat wie Slowenien gewisse Politikbereiche wie Verteidigung oder Außenpolitik gar nicht selber machen kann, sondern nur im Verbund mit anderen Staaten. Aber genauso kann ein 50-100-Millionen-Staat bestimmte Sachen nicht mehr effizient zentral regeln, sondern muß das nach unten abgeben.

Man hat eigentlich eine Art natürlicher Gliederung in der Aufgabenhierarchie:

Ein guter Teil der Staatsaufgaben wird am besten auf Gemeinde-/Kreis-Ebene erledigt. Dazu gehören z. B. Schulwesen, normale Sozialversorgung, Infrastruktur, ...

Die nächste Ebene sind Regionen in der Größe von etwas 500 000 Einwohnern bis maximal 2-3 Millionen. Dort können Hochschulen und Kultureinrichtungen organisiert werden, Spezialthemen im Sozialbereich und der Großteil des Verkehrswesens. Und vor allem auch der größte Teil der Kultur- und Denkmalspflege, insbesondere auch die Pflege einer eigenen Sprache.
Ich halte es nicht für Zufall, daß einige der großen deutschen Bundesländer sich in Regierungsbezirke aufgeteilt haben. Diese Bundesländer sind schlicht zu groß geschnitten für die optimale Erledigung dieser Aufgaben, und die Regierungsbezirke wären eigentlich die brauchbaren Regionen.

Dann kommt die Ebene der Großregionen, entsprechend z. B. der Bundesrepublik. Und wenn man es einmal genau überlegt, gibt es gar nicht so viele Aufgaben, die dort wirklich am effizientesten angesiedelt wären - die überregionale Verkehrsinfrastruktur zählt wohl dazu. Für klassische Aufgaben wie Verteidigung sind heute selbst die großen Nationalstaaten eigentlich zu klein (deswegen die vielen Kooperationen, vor allem im Rüstungswesen), das wird mittelfristig genauso europäisch werden wie es die früher nationale Währungspolitik schon geworden ist.

Und noch obendrüber wäre dann die europäische Ebene. Die übernimmt mittelfristig auch den Großteil der Außenpolitik.
Ob nun in dieser Hierarchie das Attribut "selbständiger Nationalstaat" an der Größe "Region" oder "Großregion" hängt, ist dann relativ egal.
Fahne, Staatsoberhaupt,Fußball-Nationalmannschaft und UN-Mitgliedschaft kann sich Luxemburg genauso leisten wie Deutschland.

Und deswegen wäre es völlig überflüssiger Aufwand, gegen hohen emotionalen Widerstand z. B. die Baltenrepubliken zu vereinigen, nur um Kleinstaaterei zu vermeiden.
Ihre Aufgaben als Region können Estland oder Litauen genauso erfüllen wie Schleswig-Holstein oder Galizien. Der Rest wird weiter oben oder unten erledigt.
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Nimreem
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Mai 2003 - 11:17 Uhr:   

@ Ralf,

was meinst du mit organisieren des Bildungswesen? Sicher die Kommunen müssen entscheiden, wo die Schulen gebaut werden, wie viel Lehrer die bekommen etc. Wenn du das meinst, dann stimme ich dir zu.

Zur Organisation gehören aber auch die Prüfungen. Ein Schulwechsel von Bundesland zu Bundesland ist schon heute problematisch. Die Schulferien bundesweit abzustimmen, ist auch sinnvoll. Wenn du das auch mit Organisation meintest, stimme ich dir nicht zu.
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c07
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Mai 2003 - 11:26 Uhr:   

Cram:

Sachsen hat keine eigene ungebrochene Geschichte mehr. Es hat 2 Generationen lang nicht existiert. Mit ähnlicher Berechtigung könnte man ein Deutschland in den Grenzen von 1937 propagieren, auch wenn da der Rückgriff auf ehemalige Identifikationen etwas schwerer sein wird (gewisse Kreise sind aber trotzdem durchaus erfolgreich dabei).

Die wesentlichen Mundartgrenzen decken sich nur in den allerwenigsten Fällen mit Ländergrenzen. Insbesondere gehört Thüringen südlich des Thüringer Walds großteils zum Ostfränkischen, was eine oberdeutsche Mundart ist, während Thüringisch zu den mitteldeutschen Mundarten zählt. Umgekehrt gehört z.B. Unterfranken westlich vom Spessart zum Hessischen.

> "Historische Einheiten" müssen nicht vor Jahrhunderten entstanden sein,
> sie können auch kürzeren Datums sein und sie können ja auch noch im entstehen
> begriffen sein. Schließlich sind wir ja nicht "am Ende der Geschichte".

Eben, sie können sogar rein zukünftig sein. Ich bestreite ja nicht, dass es sinnvolle regionale Gliederungen geben kann, sondern nur, dass das die heutigen Länder in besonderem Maß bereits sind. Die "landsmannschaftlichen Einheiten" decken sich auch nur selten halbwegs mit den Ländern, und sie sind in der Auflösung begriffen (ich begrüße das nicht, aber es ist eine Tatsache und wird gerade von der EU und den dahinter stehenden Werten sehr gefördert)

> wenn Berlin sich nicht von der Vergleichsstudie gedrückt hätte
> wäre es wohl auf dem letzten Platz

Berlin hat sich nicht gedrückt, sondern die Teilnahme (die ja freiwillig ist) war zu gering. Es gibt aber in PISA-E Zahlen für die Gymnasien, wo die Schüler in ausreichender Zahl teilgenommen haben. Danach liegt Berlin bei überdurchschnittlicher Streuung im unteren Mittelfeld; in Mathematik eher niedriger, in Naturwissenschaften eher höher. Wegen dem extrem hohen Gymnasialanteil in Berlin ist insgesamt wohl ein ziemlich genau durchschnittlicher Wert zu erwarten.

> Ziel sollte daher nicht eine Gleichartigkeit von Bildungsabschlüssen sein,
> sondern eine Gleichwertigkeit.

Mit Blick auf die wirtschaftliche Verwertbarkeit, die ja heute das Hauptziel von Bildung ist, läuft das allerdings ziemlich auf dasselbe hinaus.
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Cram
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Mai 2003 - 18:44 Uhr:   

@co7

"Sachsen hat keine eigene ungebrochene Geschichte mehr. Es hat 2 Generationen lang nicht existiert."
Was heisst hier eigene ungebrochene Geschichte> Deutschland hat insgesamt eine sehr gebrochene Geschichte. Aber auch ein Land wie Polen, das ja praktisch von 1791-1918 und 1939-1945 keine eigene Geschichte hatte und inwieweit die polnische Geschichte von 1945-1990 eine eigene Geschichte war (Breschnew-Doktrin(gilt natuerlich fuer den ganzen ehemaligen Ostblock)).

"Ich bestreite ja nicht, dass es sinnvolle regionale Gliederungen geben kann, sondern nur, dass das die heutigen Länder in besonderem Maß bereits sind."
Sie koennen sich ja fuer eine Reform des foederalen Systems einsetzen. Das was bislang allerdings meist geaendert wurde ist der GG-Artikel zu Laenderneuaufteilung. Es scheint insgesamt kein so grosses Bestreben von den Buergern zu geben an der Struktur der Bundeslaender etwas zu veraendern. Daraus koennte man ja auch schliessen das sie so schlecht nicht sind (Aenderung im Fall Berlin-Brandenburg vorbehalten).
Die westdeutschen Laender haben nun alle mehr als 50 Jahre Geschichte hinter sich und haben damit Geschichte.


"> Ziel sollte daher nicht eine Gleichartigkeit der
Bildungsabschlüssen sein,
> sondern eine Gleichwertigkeit.

Mit Blick auf die wirtschaftliche Verwertbarkeit, die ja heute das Hauptziel von Bildung ist, läuft das allerdings ziemlich auf dasselbe hinaus."

Gerade in einer immer komplexerer werden Strukturen kommt es auf eine immmer speziellere Ausbildung und auch auf Zusatzqualifikationen an. Und gerade dabei koennen und sollten Hochschulen ihre individuellen Staerken entwickeln. Auch die Bildungssystem der verschiedenen Laender haben ihre unterschiedlichen Staerken und Schwaechen. Eine Vereinheitlichung der Ausbildung im Sinne einer Gleichartigkeit wuerde diesen Differenzierungsreichtum zerstoeren.
Was sehr wohl sinnvoll waere ist eine Gleichwertigkeit: Qualitaetskontrollen und Festlegung von Qualitaetsstandards den ein Studienabschluss haben sollte waeren dann einheitlich zu regeln. Auf welchen Weg das zu erreichen ist ist eine dezentral zu entscheidende Aufgabe.
Zudem kann eine modulare Zusammensetzung von Studiengaenge und eine konkrete Auflistung im Abschlusszeugnis welche Faecher belegt worden zeigen welche besonderen Schwerpunkte der Absolvent belegt hat. Schon heute gibt es ja in vielen Studiengaengen schon eine sehr starke Spezialisierung, so dass ein Abschluss gerade nicht Gleichartig ist. Und die Tendenz geht in Richtung groesser Differenzierung und damit weniger Gleichartigkeit. Umso wichtiger ist es deshalb auf die Gleichwertigkeit zu achten.
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c07
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Mai 2003 - 19:32 Uhr:   

Cram:
> Deutschland hat insgesamt eine sehr gebrochene Geschichte.

Ich hab kein Problem damit, das Gesagte auch auf Deutschland insgesamt zu beziehen. Für mich ist z.B. die Wiedervereinigung ebenso wenig selbstverständlich gewesen wie mir eine Vereinigung mit Österreich oder sonst einem Land tabu wär. Für den größeren Teil der westdeutschen Bevölkerung war die DDR ja tatsächlich fremder als Frankreich oder Italien.

> Es scheint insgesamt kein so grosses Bestreben von den Buergern zu geben
> an der Struktur der Bundeslaender etwas zu veraendern.
> Daraus koennte man ja auch schliessen das sie so schlecht nicht sind

... oder nicht so wichtig.

> Und die Tendenz geht in Richtung groesser Differenzierung
> und damit weniger Gleichartigkeit. Umso wichtiger ist es deshalb
> auf die Gleichwertigkeit zu achten.

Größere Differenzierung bezieht sich heute aber fast immer auf konkrete Fähigkeiten, die vermittelt werden. Und wer sie nicht hat, kann nicht gleichwertig eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Deshalb baut man ja z.B. schon seit etlichen Jahren die Differenzierung in der gymnasialen Oberstufe wieder ab, weil durch die Verschiedenartigkeit des Abiturs (auch innerhalb eines Lands) eben die gleichwertige Hochschulreife praktisch nicht mehr vorhanden war, auch wenn es sie auf dem Papier noch gegeben hat.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Freitag, 16. Mai 2003 - 11:44 Uhr:   

@Nimreem:
> was meinst du mit organisieren des Bildungswesen?
Fast alles kann lokal organisiert werden: Gebäude, Material, Lehrereinstellung ...
In den Ländern mit guten PISA-Ergebnissen funktioniert das ganz hervorragend - die Länderbehörden tragen offensichtlich kaum etwas zum Schulerfolg bei.

Nur bei der Organisation von vergleichbaren Prüfungen und Abschlüssen muß etwas nach oben gehen - weit nach oben am Besten, also wohl auf die EU-Ebene.
Aber dafür fallen keine 5% des Bildungsaufwands an.
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Nimreem
Veröffentlicht am Freitag, 16. Mai 2003 - 17:22 Uhr:   

@ Ralf,

ich halte es nicht für sinnvoll, wenn es unterschiedliche Lehrbücher von Schule zu Schule gibt. Ein Schulwechsel wird dann nämlich sehr schwierig. Meines Wissens gibt es dies in Staaten mit guten PISA-Ergebnissen auch nicht. Deutsche Bundesländer mit guten PISA-Ergebnissen sind mir nicht bekannt.
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Cram
Veröffentlicht am Freitag, 16. Mai 2003 - 17:45 Uhr:   

@Nimreem,
"Deutsche Bundesländer mit guten PISA-Ergebnissen sind mir nicht bekannt."
- Tja. Viele scheinen es nicht zu wissen aber Bayern ist ein Bundesland Deutschlands.
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Nimreem
Veröffentlicht am Freitag, 16. Mai 2003 - 18:16 Uhr:   

@ Cram,

allerdings hatte auch Bayern kein gutes PISA-Ergebnis.
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Cram
Veröffentlicht am Freitag, 16. Mai 2003 - 18:22 Uhr:   

@c07,
"Größere Differenzierung bezieht sich heute aber fast immer auf konkrete Fähigkeiten, die vermittelt werden. Und wer sie nicht hat, kann nicht gleichwertig eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Deshalb baut man ja z.B. schon seit etlichen Jahren die Differenzierung in der gymnasialen Oberstufe wieder ab, weil durch die Verschiedenartigkeit des Abiturs (auch innerhalb eines Lands) eben die gleichwertige Hochschulreife praktisch nicht mehr vorhanden war"

Das Abitur ist ja gerade keine Form der Spezialisierung, es stellt ja die allgemeine Hochschulreife dar.
Das ist ein Unterschied zu anderen Ländern, in denen es keine allgemeine Hochschulreife gibt sondern in denen entweder durch Test die Eignung ermittelt wird oder wo eine fachbezogene Hochschulreife besteht.
In GB erfordert z.B. die Aufnahme in einem Studiengang xy das A-Level in den Fächern x, y, z.
Da man in Deutschland aber am Abitur als allgemeiner Hochschulreife festhält ist es folglich richtig das man keine Spezialisierung und nur in geringen Maße eine Differenzierung machen kann.
Diese erfolgt in Deutschland eben zu einem späteren Zeitpunkt.
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Cram
Veröffentlicht am Freitag, 16. Mai 2003 - 18:34 Uhr:   

@Nimreem,

Bayern lag als einziges Bundesland über den Durchschnittswert der Pisa-Ergebnisse. Alle anderen Bundesländer lagen unterhalb des Durchschnitts (Baden-Würtemberg nur leicht unterhalb, andere weit unterhalb wie Bremen).
Damit lag Bayern immerhin im vorderen Mittelfeld. Das ist nicht so schlecht, wenngleich natürlich immer noch verbesserungswürdig (wobei: wann ist etwas nicht verbesserungswürdig?).
Die meisten anderen Bundesländer lagen hingegen im hinteren Mittelfeld oder gar weit im Hinterfeld.
Es ist in der Tat bezeichnend das es in einem Land so gravierende Qualitätsunterschiede im Bildungswesen gibt.
In vielen Bundesländern wurden in der Bildungspolitik eben falsche Weichenstellungen getroffen, besonders in den 70er-Jahren. Das wirkt fort.
Es ist ja doch bezeichnend welche Bundesländer gut abschneiden und welche schlecht: ganz zufällig fällt das mit konservativ -(liberalen) auf der einen und rot-(grünen) auf der anderen zusammen.

Die Pisa-Studie unterstreicht ja nur was vielen Menschen ja ohnehin bekannt ist. Ein Schulwechsel nach Bayern erfordert meist das der Schüler eine Klasse zurückgestuft werden muß. Das liegt sicherlich nicht daran das Bayern klüger oder nicht-Bayern dümmer sind, es liegt aber eben an der Qualität des Schulsystem in vielen anderen Bundesländern.
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Nimreem
Veröffentlicht am Freitag, 16. Mai 2003 - 19:33 Uhr:   

@ Cram,

eben. Gut ist das nicht. Es gab Länder, die knapp über und Länder, die knapp unterm Durchschnitt waren. Eine grosse Differenz zwischen den deutschen Bundesländern habe ich in der Analyse nicht erkennen können. Schleswig-Holstein war z.B. bei den naturwissenschaftlichen Ländern auf Platz 1. Ansonsten nicht so weit oben. Da muss man schon genauer analysieren.
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c07
Veröffentlicht am Freitag, 16. Mai 2003 - 20:59 Uhr:   

Nimreem:
> Schleswig-Holstein war z.B. bei den naturwissenschaftlichen Ländern auf Platz 1.

Das ist nicht richtig. Es war in PISA sogar im innerdeutschen Vergleich leicht (nicht signifikant) unterdurchschnittlich. Lediglich in PISA-E, und auch da nur bei den Gymnasien und nur ohne die deutschen Ergänzungsaufgaben, liegt es vorn (jeweils Naturwissenschaften). Das liegt vor allem an den exorbitant hohen Durchfallerraten in Schleswig-Holstein. Damit sind dort die Schüler in PISA-E schon deutlich älter, während sich PISA auf Gleichaltrige ohne Rücksicht auf die Klassenstufe bezieht. Außerdem wird dort auch noch später eingeschult und der Gymnasialanteil ist sehr gering.

Allerdings stimmen die meisten Ursachenanalysen, die so verbreitet werden, auch nicht. Der größte Teil der Unterschiede lässt sich schlicht darauf zurückführen, wieviel Unterrichtsstunden die Probanden im Lauf ihrer Schulbahn hinter sich gebracht haben. Wer früh einschult, wenig durchfallen lässt und viel Geld in viele Schulstunden (u.a. auch im Gegensatz zu möglichst kleinen Klassen und zulasten eines 10./13. Schuljahrs) investiert, ist im Vorteil. Ob dabei andere Bildungsziele auf der Strecke bleiben, ist natürlich eine andere Frage (ich will das aber nicht automatisch unterstellen). Außerdem ist ein möglichst wenig gegliedertes Schulsystem günstig (damit mein ich nicht die üblichen Gesamtschulen, die das meist nur nach außen verstecken).

Der Unterschied zwischen den Ländern ist jedenfalls schon sehr bedeutend. Nur bringt es nichts, das blind durch die jeweilige ideologische Brille zu betrachten, wie es leider fast immer passiert. Die aktuellen Maßnahmen dürften zu einem guten Teil kontraproduktiv sein.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Freitag, 16. Mai 2003 - 21:39 Uhr:   

Ich würde gerne noch einmal auf einen wesentlichen Aspekt der Diskussion kommen, den Ralf angesprochenen hat:
Grundsätzlich kann man in zwei Richtungen Fehler machen: Entweder zuviel "Checks and Balances" einbauen (das führt zu Blockade und Unbeweglichkeit) oder zu wenig (dann fehlt die Kontinuität und es wird zu hektisch und undurchdacht nur immer umgeändert).
Derzeit leiden wir unter dem einen Extrem, deswegen sollten wir nicht ins andere verfallen.

Ich kann dem eigentlich voll zustimmen. Mir ist kein politisches System bekannt, welches diese "Fehler" vermeidet. In Großbritannien gibt es eine "Diktatur des Premierministers" mit relativer Mehrheitswahl und stabilen Verhältnissen und der Möglichkeit der Unterhausmehrheit, de facto alles zu bestimmen (die Vetomöglichkeiten des Oberhauses sind unbedeutend). Dies führte zu extremen Schwankungen. Dann haben wir das bundesdeutsche Modell mit den oben ausführlich besprochenen Vor- und Nachteilen. Die vielen Checks und Balances wurden aber auch als Reaktion auf die Nazi-Diktatur eingebaut. Nicht umsonst hatte ja Carlo Schmid (SPD) Bedenken gegen einen Bundesrat, da er die oben geschilderten Verhältnisse (Blockade beider Parlamentskammern) vorausgesehen hat. Im Spiegel stand ja die Geschichte, wie der bayerische Ministerpräsident Ehard von der CSU und der sozialdemokratische Innenminister von NRW nach Herrenchiemsee die Bundesratsidee umsetzte. Seit der sozial-liberalen Koalition blockierte die Unionsmehrheit die sozial-liberalen Gesetze, seit 1990 und der SPD-Mehrheit im Bundesrat die SPD die Gesetze der Regierung Kohl. Und dies bedeutet - aufgrund der Tatsache, dass Enthaltungen wie "Nein"-Stimmen gewertet werden - , dass zu einem Kompromiss neben der Regierungskoalition immer ein Teil der Opposition zustimmen muss, also entweder jetzt Union oder FDP. Schlimmer noch dürfte es werden, wenn die PDS wider Erwarten doch mit Fraktionsstärke in den Bundestag zurückkehren sollte und dann gegen die PDS nur eine große Koalition oder eine Ampel regieren könnte. Heute bedeutet dies ja schon folgendes: Wenn sich rot-grün mit der Union alleine einigt (gegen den Willen von PDS und FDP, wie jüngst geschehen), könnte die PDS Enthaltungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, die FDP Enthaltungen in Baden-Württemberg, Hamburg, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz erzwingen. Sollte die Brandenburger Große Koalition durch eine SPD/PDS-Regierung ersetzt werden, würde sich noch Brandenburg enthalten, also schon 7 der 16 Bundesländer. Und dies kann doch - gerade in einem wachsenden Europa, welches weitere Zuständigkeiten an sich ziehen wird, nicht wahr sein !!!! Hier "erstarrt" dann der Konsens, es gibt keinerlei Reformen - wie bei der "Cohabitation" in Frankreich von 1986-88, 1993-95, 1997-2002 - typisch im übrigen für semipräsidiable Systeme. Da wir ein ideales Verfassungssystem nicht finden werden, nochmals:

1.) die Kompetenzen von Bund und Ländern müssen entzerrt werden, d.h. die Länder erhalten eindeutige Kompetenzen und mehr Rechte (z.B. Steuerrechte), allerdings entfällt dann die Mitbestimmung der Länder bei Bundesgesetzen. Voraussetzung wäre dann allerdings die Einführung des Konnexitätsprinzipes, also einer Regelung - analog etwa zu Hessen, dass vom Bund auf die Länder und von den Ländern auf Kommunen und Städte verlagerte Aufgaben von diesen zu finanzieren wären. Dann müssten diese Ebenen über eigene Einnahmequellen verfügen. Eine stabile Steuer- und Einkommensbasis ist also unabdingbare Voraussetzung einer solchen klaren Trenung von Kompetenzen in einem Bundesstaat. Wie auch immer: eindeutige Verantwortung der Bundesregierung für Bundesangelegenheiten, der Länder für Länderregelungen und der Städte für kommunale Regelungen müssten festgeschrieben werden. Sonst gibt es keine eindeutigen Verantwortlichkeiten.


2.) Als Mindestreform (falls obiges nicht klappt) müssten jedoch Enthaltungen auch als Enthaltungen gewertet werden und sich nicht wie Nein-Stimmen auswirken. Allerdings setzte dies eine Mindestzustimmung von Ländern voraus, damit nicht bei Stimmenthaltung aller Länder die Zustimmung oder Ablehnung eines Landes Gesetzentscheidungen ermöglicht oder verhindert.

3.) Angesichts des Anwachsens der kleineren Parteien (PDS, Schill etc.) wäre zu überlegen, ob eine stärkere Gewichtung von Elementen des Mehrheitswahlsystems (Grabenwahl etc.) nicht zu einer Stabilisierung von Mehrheiten führen würde. Ich glaube nämlich, dass die Ära, in denen eine große und eine kleine Partei über eine absolute Parlamentsmehrheit verfügen (also rot-grün, schwarz-gelb, SPD/FDP) dem Ende entgegen gehen wird und wir damit mehr Instabilität im Bundestag bekommen werden.

4.) Es muss eine genaue Abstimmung zwischen Bundes- und europäischen Kompetenzen geben, je nachdem, wie die zukünftige europäische Verfassung (Giscard-Konvent) aussehen wird.

5.) Zur stärkeren Legitimatiion einer neuen Verfassung sollte diese von der Bevölkerung angenommen werden und nicht nur eine Ergänzung des Grundgesetzes darstellen. Ich denke, es war ein Fehler, nach Auflösung der DDR die alten Bundesländer durch Art. 23 in den Geltungsbereich des Grundgesetzes aufzunehmen und die Chance nicht zu nutzen, die offensichtlichen Konstruktionsfehler des Grundgesetzes (siehe v.a. Art. 81 GG mit den "Notstandsbefugnissen" des Bundespräsidenten) nicht zu korrigieren. Auch außenpolitisch (veränderte Rolle der Bundeswehr) dürfte eine Modernisierung des GG letztlich unumgänglich machen.

6.) Bei aller Notwendigkeit eines Bundesverfassungsgerichtes sollte sich ein solches auf grundsätzliche Interpretationen der Verfassung beschränken und in bestimmten Angelegenheiten (wie der Supreme Court in den USA) auch zurückhalten. Detaillierte Verfassungsvorgaben zur Steuergesetzgebung, wie sie etwa Paul Kirchhoff oft in den von ihm mitbestimmten Urteilen durchgesetzt hat, dürfte es meines Erachtens nicht mehr geben. Hier übernimmt das BVerfG meines Erachtens zu starke gesetzgeberische Funktion. Es kann nicht angehen, dass die Judikative der Exekutive bis ins Detail die Gesetzgebung vorschreibt, wie dies teilweise geschehen ist.

Soweit erste Vorschläge, um die "Erstarrung" unseres Systems, welches ich sehe und bedaure, zu überwinden. Letztlich muss ich allerdings auch sagen, dass mir ein System wie in Großbritannien, in dem wenigstens Entscheidungen getroffen werden, mehr zusagt als ein System, in dem lauter Checks und Ballances zur gegenseitigen politischen und parlamentarischen Blockade führen. Wenigstens sind in Großbritannien Reformen möglich und Verantwortlichkeiten klar geregelt, wenn dies auch - siehe Zitat Ralf oben - zu starken Diskontinuitäten führen könnt
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Montag, 19. Mai 2003 - 11:52 Uhr:   

@Nimreem:
> ich halte es nicht für sinnvoll, wenn es unterschiedliche Lehrbücher
> von Schule zu Schule gibt. Ein Schulwechsel wird dann nämlich sehr
> schwierig. Meines Wissens gibt es dies in Staaten mit guten
> PISA-Ergebnissen auch nicht.
Hmmm, meines Wissens haben gerade die Skandinavier ganz weitgehende Autonomie der Schulen haben. Das geht ja soweit, daß die die Lehrer nicht nur anstellen und entlassen können, sondern dabei völlig frei in den Gehaltsverhandlungen sind. Und auf jeden Fall ist es Ziel, den Schulen bei der Methodik freie Hand zu lassen.
Da würde es mich überraschen, wenn ausgerechnet Schulbücher vorgeschrieben wären.

Die Vergleichbarkeit wird dort mit minimalen Lehrplänen, aber landesweit verbindlichen Abschlußprüfungen hergestellt.
Das scheint Schulwechsel nicht zu behindern, obwohl die Schulen auf völlig verschiedenen Wegen zum zentral definierten Ziel gelangen. Wie das genau funktioniert, weiß ich nicht, ich wollte auch nicht in eine PISA-Diskussion einsteigen.

Aber nach diesem Muster stelle ich mir die politische Abgrenzung vor: Der wesentliche Teil der Schulbildung (incl. Vorschulen und Kindergärten) wird kommunal geregelt.
Nur ganz wenige Kompetenzen müssen nach oben - und dann m. E. möglichst nach ganz oben.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Montag, 19. Mai 2003 - 12:02 Uhr:   

@Bernhard Nowak:
> Seit der sozial-liberalen Koalition blockierte die Unionsmehrheit die
> sozial-liberalen Gesetze, seit 1990 und der SPD-Mehrheit im Bundesrat
> die SPD die Gesetze der Regierung Kohl.
Das habe ich ganz anders in Erinnerung.
Die jeweils anderen Mehrheiten in der Länderkammer haben selbstverständlich Einfluß gehabt. Aber angestrebt wurde immer nur Mitsprache, und dann wurde auch immer ein Kompromiß gefunden, dem zugestimmt wurde (und der entsprach im wesentlichen dem Bundestagswunsch, der Bundesrat hat einige Punkte abgeändert).

Es war darum auch damals immer ein gewisses Thema, ob eine Bundesregierung nun durch eine Landtagswahl die Bundesratsmehrheit gewonnen oder verloren hatte - aber da ging es nur um einige Optionen mehr, nicht grundsätzlich um ihre Handlungsfähigkeit.
Deswegen war die ganze Konstruktion auch nie ein großes Thema.
Der echte Blockade-Aspekt kam erst 1997 mit Lafontaine. Die von ihm (gegen erheblichen Widerstand klassisch konstruktiv denkender SPDler durchgesetzte) Ablehnung der Steuerreform war grundsätzlicher Natur. Es ging ihm nicht darum, einzelne Paragraphen im Sinne der SPD zu verändern - er wollte die Handlungsfähigkeit der Regierung als solche verhindern. Seitdem hat das Thema eine ganz andere Brisanz.

Letztes Jahr hat die Union dann zurück-blockiert. Beim Zuwanderungsgesetz ging es ihr auch nicht mehr um einzelne Punkte (Schily war ihr ja maximal entgegengekommen), sondern um die grundsätzliche Ablehnung.

Beide Beispiele halte ich aber doch für extreme Ausnahmen. Beim Hartz-Konzept haben sich beide Seiten dann wieder ganz klassisch zusammengerauft und eine Lösung verabschiedet.
Der derzeitige Reformstau hat m. E. ganz bestimmt nichts mit dem Bundesrat zu tun, die meisten Punkte könnte die Regierung ganz normal und alleine mit dem Bundestag angehen und ansonsten ja mit ihren Vorschlägen in den Bundesrat reingehen.

Ich unterstütze daher ganz klar die Neuregelung der Kompetenzen mit weitgehender Aufgabentrennung (nicht aber Deine weitergehenden Vorstellungen mit Grabenwahlrecht etc.).
Aber das sind eigentlich nicht die zentralen Probleme.Wenn Politiker sich nicht trauen, Reformen vorzulegen, dann helfen auch zusätzliche Kompetenzen nichts.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Montag, 19. Mai 2003 - 18:48 Uhr:   

Ralf: Polen-Vertrag, Ostverträge etc. sind Beispiele einer Unions-Blockadepolitik im Bundesrat in den 1970-ger Jahren. Beide Verräge konnten nur auf Druck der FDP in der damaligen niedersächsischen Regierung Albrecht bzw. in der saarländischen Regierung Röder, der sich von der FDP tolerieren ließ, da es im Landtag ein Patt zwischen Union einerseits und SPD und FDP andererseits gab, durchgesetzt werden. Umgekehrt: die von der Regierung Kohl angestrebte Mehrwertsteuererhöhung kam damals nur zustande, weil der Brandenburger Ministerpräsident Stolpe umfiel und die Erhöhung mittrug. Also ich denke, Beispiele gibt es genug. Allerdings glaube ich, dass die Unionswähler der Union eine reine Blockadepolitik sehr übelnehmen würden. Eine Blockade des Hartz-Konzeptes hätten die Unionswähler nicht verstanden. Einverstanden bin ich mit Deiner Ansicht, dass die Union beim Zuwanderungsgesetz und die SPD seit 1997 mit Lafontaine blockiert hat. Ansonsten stehe ich zu meinen obigen Ausführungen, wiederholen will ich sie hier nicht.
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Thomas Frings
Veröffentlicht am Dienstag, 20. Mai 2003 - 12:15 Uhr:   

@ Bernhard Nowak

Das kann so nicht stimmen. Röder regierte von 1970 bis 1975 im Saarland alleine. In Niedersachsen regierte die SPD von 1970 bis 1974 alleine und dann bis zum Rücktritt von Kubel und der Wahl von Albrecht durch Heckenschützen im sozialliberalen Lager zusammen mit der FDP.
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Ralf Arnemann.de
Veröffentlicht am Dienstag, 20. Mai 2003 - 13:12 Uhr:   

Egal wie das mit den Ostverträgen nun genau war: Ich fühle mich durch diese Beispiel ohnehin bestätigt ;-)
Denn ich habe ja NICHT behauptet, daß da immer eitel Sonnenschein war. Da wurde bei abweichenden Mehrheiten sehr wohl hart gekämpft - das ist ja auch irgendwie Sinn dieser Konstruktion.

Aber es wurde eben nicht blockiert, sondern am Ende gab es ein Ergebnis. Die Ostverträge sind eben durchgegangen, und die Bundesregierung konnte ihre Ostpolitik machen. Und ähnliches gilt für die Kohl-Regierung später.
Die echte Blockade OHNE Einigungsabsicht gab es erst mit Lafontaine.

Aber wir sind uns ja einig, daß wir weder die Blockade noch den völligen Verzicht auf "checks und balances" wollen.
Wie passen da Bernhards Vorschläge rein?

1) Entflechtung der Ebenen
Volle Zustimmung. Insbesondere für den Zusatz, daß auch die kommunale Ebene sauber geregelt werden muß.

2) Enthaltungen
Wenn Punkt 1) erledigt ist, wäre 2) für mich überflüssig.
Bei den wenigen wichtigen Sachen, die dann noch in den Bundesrat kommen, sollte auch eine qualifizierte, also positive Mehrheit nötig sein.

3) Mehrheits/Grabenwahlrecht
Das lehne ich aus prinzipiellen Gründen völlig ab. Und ich sehe auch nicht, daß hier überhaupt Handlungsbedarf ist.
4) Europa
Korrekt - auch diese Ebene muß klar abgegrenzt werden. Da läuft derzeit zu viel ganz oben, und es sind meist die falschen Sachen.

5) Volksabstimmung
Hmmm. Grundsätzlich bin ich für mehr Volksabstimmungen. Und natürlich wäre das auch hier nicht verkehrt.
Aber "lohnen" würde es sich nur, wenn im GG auch substantiell was geändert wird - das sehe ich noch nicht.
Kontraproduktiv wäre eine pro-Forma-Abstimmung ohne großen Disput, mit beschämend niedriger Beteiligung.

6) Verfassungsgericht
Im Prinzip Zustimmung.
Wobei aber umgekehrt anzumerken ist, daß diese Neigung des Gerichts ja sich deswegen entwickelt hat, daß die Politik vorhergehende Urteile ganz krass und bewußt mißachtet hat. Gerade in der Steuergesetzgebung ist es ja inzwischen fast so, daß ganz klar verfassungswidrige Gesetze ungerührt verabschiedet werden, weil man die Jahre bis zu einem Urteil locker abkassieren will.
Es wäre absolut notwendig, hier wieder eine neue Basis zu finden.
Aber wie das geschehen könnte, ist mir völlig unklar.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Dienstag, 20. Mai 2003 - 21:50 Uhr:   

@Thomas:
Die Polenverträge wurden von der Regierung Albrecht vorerst blockiert, dann auf Druck der FDP in Niedersachsen, die Albrecht tolerierte, "durchgelassen". Amtsperiode Röder: ich beziehe mich auf die Wahl nach 1975, bei der Röder sich von der FDP tolerieren ließ, da SPD und FDP, die Röder ablösen wollten, genauso viel Stimmen im Parlament hatten wie die CDU.

Ansonsten zu Ralfs Äußerungen: dem kann man durchaus zustimmen bzw. es so sehen. Der Einwand mit dem Verfassungsgericht ist korrekt, der Einwand bei Punkt 2 auch. Punkt 2 war von mir auch nur so gemeint, dass er als "Mindestreform" nötig sei, falls Punkt 1 nicht klappt.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Samstag, 07. Februar 2004 - 01:25 Uhr:   

Im Zusammenhang mit dem Schröder-Rücktritt vom Amt des SPD-Vorsitzenden ist mir dieser Thread aufgefallen. Es wird jetzt sehr auf die Reformfähigkeit bzw. -unfähigkeit der SPD gesprochen. Worüber aber weniger gesprochen wird, ist die Reformfähigkeit von Politik in "erstarrten Systemen", wie der Titel-Thread hier lautet, d.h. Systemen, in denen es häufiger zu einer Art Zwangs-Cohabitation kommt. Nicht umsonst wurde dieser Thread ja mit der Diskussion einer Spiegel-Serie über Mängel in unserem Grundgesetz eingeleitet. Das Dilemma der SPD ist ja auch, dass sie die von ihr als richtig erkannte Politik, für die sie gewählt wurde, gegen eine Unionsmehrheit im Bundesrat nicht durchsetzen kann (private Vermögenssteuer, Ausbildungsabgabe etc.) und steuerrechtliche Veränderungen (z.B. Devisenbeschränkungen im Sinne der Besteuerung von Aktienströmen) nur europa- oder gar weltweit durchsetzbar ist.

Dies führt doch zu der grundsätzlichen Frage: sind politische Systeme wie Großbritannien, in denen die Regierung für die gewählte Legislaturperiode ihre Politik ohne Rücksicht auf die Opposition durchsetzen kann, "reformfähiger" als "erstarrte Cohabitatons-Systeme?" Ich meine nach den kleinen Schritten Steuerreform: ja. "Cohabitations-Systeme" - so will ich sie mal nennen - führen doch dazu, dass die Verantwortung für politische Maßnahmen nicht mehr erkennbar ist (weil die Opposition eingebunden wird) und nur in kleinsten Kompromissen besteht (auf die sich jeweils Regierung und Opposition einigen können). Dies ist doch in Frankreich exemplarisch zu sehen: in Zeiten, in denen - wie jetzt - Staatspräsident und Regierungsmehrheit identisch sind, Staatschef und Regierung also an einem "Strang" ziehen, wird mehr erreicht als in Zeiten der Cohabitation. Die in dem Thread: "Verfassungsänderungen" und auch hier diskutierten Veränderungen - in unserem System insbesondere in der Stellung des Bundesrates zu zustimmungspflichtigen Gesetzen und Reform, dass Enthaltungen echte Enthaltungen und keine de-facto-Nein-Stimmen sind. Selbst eine große Koalition hätte - wie kürzlich festgestellt wurde - ja keine Mehrheit im Bundesrat. Den Schröder-Rücktritt also nur mit mangelnder Reformfähigkeit der SPD zu erklären, greift meines Erachtens zu kurz: es ist schon die Reformunfähigkeit "erstarrter Systeme" , die dauerhaft einen Zustand der "Cohabitation", also in eine Art Zwangs-Zusammenarbeit von Regierungs- und Oppositionsparteien und somit entweder lediglich einen Kompromiss auf kleinstem gemeinsamen Nenner ermöglichen oder zu jahrelangem Stillstand bei Reformen führen, die die wahre Ursache für die Reformunfähgikeit unseres Landes und aller Länder, die solche Systeme verfassungsbedingt besitzen, darstellen. Nach erneuter Lektüre dieses Threads wurde ich in meiner diesbezüglichen Auffassung bestätigt.
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Juwie
Veröffentlicht am Samstag, 07. Februar 2004 - 11:56 Uhr:   

Meines Erachtens entsteht das Problem der "Erstarrung" des deutschen Systems weniger durch die Beteiligung der Länder an der Bundespolitik als durch unser zentripedales (d.h. bundespolitisch) orientiertes Parteiensystem. Dadurch werden alle themen zu bundespolitischen.

Auch ein Senatsmodell für die "zweite Kammer" würde dieses Problem wohl nicht lösen, weil die Senatoren noch viel weniger Verteter des Landes als solche ihrer Partei sind (auch eine Direktwahl der Senatoren würde dieses Problem wohl nicht beheben).

Alle Verweise auf die USA oder die Schweiz hinken deshalb auch, weil deren Parteien wesentlich dezentraler organisiert sind.

Abhilfe? Die bundespolitische Orientierung der deutschen Politik werden wir nicht beseitigen können, die steckt in der politischen Kultur (wir Deutsche sind einfach keine "echten" Föderalisten, abgesehen von einem gewissen "Folkloreföderalismus"). Die Strategie müsste m.E. darin bestehen, diese Tatsache bei Reformüberlegungen einfach zu berücksichtigen und nicht zu ignorieren.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Samstag, 07. Februar 2004 - 12:11 Uhr:   

Es fragt sich, ob die Reformunfähigkeit eines Systems tatsächlich nur an der Ausgestaltung der Verfassung hängt. Gerade das Beispiel Frankreich zeigt m. E. gerade, dass dem nicht unbedingt so zu sein braucht. Unter der Regierung Jupé ging es z. B. um die Rentenreform. Präsident, Regierung, beide Parlamentskammern waren im wesentlichen politisch gleich zusammengesetzt. Aber ein Streik der Bahnangestellten zwang die Regierung am Schluss doch, das Projekt abzuändern und wenigstens jenen, die kurz vor der Pensionierung standen, mit Übergangsregelungen entgegen zu kommen statt das Rentenalter in einem Schritt zu erhöhen. Oder das Sprachengesetz der Regierung Balladure wurde vom Verfassungsrat arg zerzaust und im Kern letztlich ausser Kraft gesetzt. Vielleicht wären diese Pleiten erspart geblieben, hätten sich die entsprechenden Regierungen vorher mit betroffenen Verbänden, der Opposition usw. zusammengesetzt.
Es ist sachlich m. E. durchaus richtig zu sagen, ein Rentenalter 58 sei heute weder sachlich gerechtfertigt (es stammt aus der Zeit der Dampflokomotiven mit offenen Führerständen, auf denen man Kohle schaufeln musste!) noch könne man es sich weiterhin leisten; aber wenn man einem 57jährigen sagt, er müsse jetzt plötzlich mehrere Jahre länger arbeiten, dann ist es klar, dass er das nicht gut aufnimmt - Parteizugehörigkeit hin oder her. Der einzige gangbare Weg in einer solchen Situation ist nach meiner Auffassung der, sich mit den Betroffenen an einen Tisch zu setzen, ihnen zu erklären, worum es geht, und Massnahmen zu diskutieren, wie die nötigen Änderungen so umgesetzt werden können, dass sie für alle Seiten erträglich sind.
Will man das nicht, dann muss man mit Streik, Ungehorsam, evtl. Aufständen bis hin zu Bürgerkrieg und Militärputsch rechnen.
Gerade in Frankreich sind grosse Streiks Tradition, wobei es nicht nur oppositionelle Wähler sind, die mitmachen, sondern oft genug die eigenen Wähler ebenfalls.
Wenn es aber richtig und sinnvoll ist, nicht bloss mit sich allein zu Rate zu gehen, sondern sich auch mit andern zusammenzusetzen, verschiedene Lösungen zu diskutieren und sie schliesslich dafür zu gewinnen, dass sie mitmachen statt bremsen, dann kann in einer Verfassung, die solche Konsultationsmechanismen vorsieht, nicht prinzipiell ein Grund für Blockaden liegen.
Das GG schreibt vor, dass das GG nur durch ein Gesetz, das seinen Wortlaut ausdrücklich ändert und das von BT und BR mit je 2/3-Mehrheit beschlossen wurde, geändert werden kann. Ein alberto findet, wie hier mehrfach geäussert, viel zu leicht. Eine wesentlich weiter verbreitete Auffassung findet, das GG könne nur sehr SCHWER geändert werden. Wenn das deutsche GG nur sehr schwer geändert werden kann, wie steht es denn dann mit der Verfassung der USA?
Die Verfassung der USA kann nur geändert werden, wenn eine Vorlage in beiden Kammern des Kongresses mit 2/3-Mehrheit verabschiedet wurde; diese Vorlage muss sodann entweder durch die Parlamente von 3/4 der Bundesstaaten (die mit Ausnahme Nebraskas alle ebenfalls zwei Parlamentskammern haben) oder (wenn der Kongress dies beschliesst) durch eigens gewählte Versammlungen in 3/4 aller Bundesstaaten gebilligt werden. In neuerer Zeit wurde zudem meist vorgesehen, dass solche Verfassungsänderungen die Ratifikation durch 3/4 der Staaten binnen 7 oder 9 Jahren erhalten müssten, um in Kraft zu treten.
Nehmen wir also die Hürden für eine Verfassungsänderung in Deutschland und in den USA als Kriterium, so müsste eigentlich in den USA ein noch viel grösserer Reformstau herrschen als in Deutschland.
Vergleichen wir beide Systeme weiter miteinander: In Deutschland kann der Bundesrat Gesetze in der Regel nur verzögern. Gewissen Gesetzen muss er zustimmen. Wirklich blockierend kann er nur wirken, wenn er mit 2/3-Mehrheit seiner gesamten Stimmen Einspruch erhebt. Die Bundesregierung hat aber einen eigenen Bereich, in dem sie selbständig handeln und entscheiden kann. Hat sie eine Mehrheit im Bundestag, kann sie auf diesen gestützt Gesetze erlassen, Wahlen und Ernennungen vornehmen, Beschlüsse in Einzelfällen erwirken u. v. a. m. In den USA hingegen Haben Senat und Repräsentantenhaus in der Gesetzgebung gleiche Rechte; beide Kammern können Gesetze verzögern oder verhindern. Der Präsident kann Ernennungen meistens nur vornehmen, wenn der Senat zustimmt. Der Bereich, in dem die Regierung frei handeln kann, ist durch die grösseren Rechte der Gliedstaaten und durch die Kompetenzen des Kongresses und der Gerichte eher enger umrissen als in Deutschland. Die Legislaturperiode beträgt zudem nur 2 Jahre, dann kann die Mehrheit in einer oder in beiden Parlamentskammern evtl. ändern. Die Regierung kann ausserdem keine Parlamentskammer auflösen. Das einzige Recht, das ein Präsident der USA der deutschen Bundesregierung wirklich voraushat, ist das Veto-Recht, das aber eher verhindernder Natur ist. Die Bundesregierung kann hingegen Den Bundestag auflösen lassen, eine Vorlage mit der Vertrauensfrage verbinden oder den Gesetzgebungszwang anwenden.
Wenn also die verfassungsrechtliche Stellung der wichtigsten politischen Organe ein Kriterium sein sollte, dann müsste eigentlich in den USA der grössere Reformstau herrschen als in Deutschland.
Deshalb überzeugt mich die Diagnose eigentlich nicht. Vielleicht gibt es durchaus wünschbare Änderungen, aber die Probleme liegen wohl doch eher in anderen Ursachen begründet.
Z. B. hat jetzt Schröder den Parteivorsitz an Müntefering abgegeben. In einem andern Thread wird dies als Schwächezeichen interpretiert. Spekulationen werden angestellt, ob Schröder durchhalte oder was nun geschehen bzw. alles nicht geschehen könne.
Aber ich lebe in einem Land, in dem es an der Tagesordnung ist, dass Regierungsmitglieder keinen Parteiorganen angehören, selbst Fraktionspräsidien nicht mit Parteiämtern verknüpft sind. Trotzdem funktioniert der Staat, können Regierungsmitglieder ihre Themen setzen und ihre Vorstellungen propagieren, trotzdem halten Gewählte vier Jahre lang durch und werden von ihrer Partei nicht im Stich gelassen.
Der Vorgang liesse sich vielleicht auch anders interpretieren: Da hat in einer Partei ein Vorgang stattgefunden, der eine echte Reform darstellt. Man nennt das "Entflechtung". Auch in Deutschland geht der Trend langfristig in die Richtung, dass staatliche und innerparteiliche Funktionen getrennt werden, dass Minister nicht gleichzeitig Abgeordnete sein können usw. Dies entspricht dem allgemeinen Trend zu mehr Transparenz.
Auch dies ist eine mögliche Interpretation. Wenn aber die vorherrschende Meinung dahin geht, in jedem Abweichen vom Bisherigen, Gewohnten, Hergebrachten eine Schwäche oder Verrat zu sehen, dann ist es nicht verwunderlich, dass in Deutschland keine Reformen stattfinden.
Wer würde denn in Deutschland eine Reform wagen, wenn er damit rechnen muss, bei der nächsten Wahl zu verlieren? Dann halt lieber durchwursteln. Und wagt dann doch jemand den grossen Wurf, wird sein Nachfolger alles rückgängig machen, weil er ja sonst ebenfalls die Wahl verlöre ...
Wie eingangs am Beispiel Frankreichs gezeigt, brauchen Blockaden und Widerstände keineswegs aus dem politischen System selbst zu kommen, sondern können aus der Gesellschaft oder anderswoher stammen. Wenn eine Mehrheit der Wahlberechtigten Reformen mit Nicht-Wahl abstraft, wird auch niemand Reformen einleiten wollen. Will eine Regierung "durchziehen" und macht einen Generalstreik mit, dann muss sie am Ende einen Rückzieher machen. Beschliesst ein Parlament ein tolles Gesetz, aber das Verfassungsgericht erklärt es für unzulässig, dann geht es eben so nicht.
Schliesslich stellt sich aber eine ganz andere Frage: Was versteht man unter "Reformen"? Zunächst ist "Reform" bloss ein Wort. Es ist leicht, "Reformen" zu fordern und deren Ausbleiben zu beklagen. Aber, bitte schön, was sollen Reformen bezwecken? In welchen Bereichen braucht es Reformen? Welche Folgen sollen sie haben? Soll einfach etwas geändert werden, was nächstes oder übernächstes Jahr wieder geändert wird bzw. geändert werden muss (weil es sich nicht bewährt hat), oder aber sollen Strukturen so verändert werden, dass sie Aussicht darauf haben, in 10, 20 oder 30 Jahren immer noch Bestand zu haben und nützlich zu sein? Wollen wir alles Bestehende zerschlagen und gleichsam aus dem Nichts aufbauen? (Deutschland hat dies, nebenbei bemerkt, vor rund 60 Jahren schon einmal durchlebt.) Oder wollen wir auf Bestehendem aufbauen und das Bewährte, Nützliche und Sinnvolle bewahren, nur das ändern, was sich nicht bewährt hat, was mangelhaft ist oder was sich kontraproduktiv ausgewirkt hat?
Oder wollen wir uns auf ganz Ungewisses einlassen in der Hoffnung, etwas völlig Neues, Unerhörtes zu wagen, dessen Folgen wir noch nicht abschätzen können?
Je nach dem, welche inhaltliche Füllung wir dem Begriff "Reform" verleihen, wird dabei etwas ganz anderes herausschauen, werden andere Methoden zur Umsetzung nötig sein.
Wenn ich von aussen die Diskussionen in Deutschland beobachte, dann habe ich den Eindruck, dass zwar eine Grundüberzeugung herrscht, es müsse "Reformen" geben, dass aber keineswegs (auch innerhalb politisch gleich orientierter Lager) Einigkeit darüber besteht, a) was für Reformen es sein sollten, b) in welche Richtung sie gehen müssten, c) wie weitgehend sie sein sollten, d) wie schnell sie ablaufen müssten und e) welcher Preis dafür in Kauf genommen werden dürfe. M. a. W. ist eigentlich alles an dem Begriff "Reform" so ziemlich unklar. M. E. erklärt sich von selbst, warum von einer solchen Situation ausgehend keine Reformen zu Stande kommen können.
Der Begriff "Reform" ist vielleicht primär Ausdruck eines unguten Gefühls, eines Missbehagens, einer diffusen Unzufriedenheit mit den Lebensbedingen ganz allgemein, ohne dass die meisten Leute, die dieses Gefühl empfinden, im Stande wären, klar anzugeben, worin denn dieses Missbehagen konkret begründet ist.
Damit will ich nicht etwa behaupten, dieses Missbehagen sei unbegründet; im Gegenteil kenne ich solche Situationen diffusen Miss- oder gar Unbehagens selbst zur Genüge. Sie sind nach meiner Erfahrung stets Anzeichen dafür, dass irgendwo etwas schief läuft. Nur sind die eigentlichen Probleme meist noch nicht sichtbar, es handelt sich um einen Vorlaufindikator kommenden Ungemachs. In einem überschaubaren Rahmen wie z. B. einer Verwaltung, einem Betrieb o. dgl. würde ich eine vertiefte Analyse anstellen lassen, um (möglicherweise) herauszubekommen, worin das Missbehagen gründet, und so rechtzeitig die sich abzeichnenden Probleme angehen zu können. Im Rahmen eines Landes ist eine solche Analyse hingegen wesentlich schwerer durchzuführen. Ein Punkt ist aber in beiden Fällen gleich: Die Probleme lassen sich nicht lösen, wenn sie nicht bekannt sind. Bevor man also SINNVOLL etwas tun kann (tun lässt sich immer irgend etwas, fragt sich nur, ob es dann auch sinnvoll sei), bedarf es stets einer klaren Diagnose.
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Bernhard Nowak
Veröffentlicht am Samstag, 07. Februar 2004 - 14:19 Uhr:   

64Philipp: "In Deutschland kann der Bundesrat Gesetze in der Regel nur verzögern. Gewissen Gesetzen muss er zustimmen. Wirklich blockierend kann er nur wirken, wenn er mit 2/3-Mehrheit seiner gesamten Stimmen Einspruch erhebt. Die Bundesregierung hat aber einen eigenen Bereich, in dem sie selbständig handeln und entscheiden kann. Hat sie eine Mehrheit im Bundestag, kann sie auf diesen gestützt Gesetze erlassen, Wahlen und Ernennungen vornehmen, Beschlüsse in Einzelfällen erwirken u. v. a. m." - Zitatende.

Diesem Teil Deiner sonst hochinteressanten Ausführungen stimme ich nicht zu. Die Bundesregierung ist in Deutschland nur handlungsfähig - und wir haben dies im Thread: "notwendige Verfassungsänderungen" diskutiert - wenn die Regierung sich auf die absolute Mehrheit der Länder, d.h. 35 Stimmen, stützen kann, da eben bereits Durchführungsgesetze durch die Länderkammer blockiert werden können. Nach Antje Vollmer in der "Zeit" und anderen sind dies z. Zt. rund 60-70% aller Gesetze. Und wenn dann wirklich nach Regierungswechseln in Nordrrein-Westfalen und Schleswig-Hostein eine Zweidrittelmehrheit von Union und FDP im Bundesrat herrscht, dann ist kein Gesetz der Regierung gegen die Opposition mehr durchsetzbar, da die Regierung dann im Bundestag zur Zurückweisung eines Einspruches eine Zweidrittelmehrheit besitzen müsste (§77 GG) und die hat sie nicht.

Ansonsten ist es natürlich richtig, dass gesellschaftliche Ereignisse (Regierung Juppe in Frankreich), politische Kultur und Traditionen, der Grad an Polarisierung zwischen den Parteien, aber eben auch die Verfassung (vgl. Großbritannien - Deutschland) die Reformfähigkeit eines Landes mitbestimmt.
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c07
Veröffentlicht am Samstag, 07. Februar 2004 - 16:12 Uhr:   

Juwie: Mir scheint, dass eher umgekehrt die Parteien deswegen bundespolitisch orientiert sind, weil alle wichtigen Themen bundespolitischer Natur sind, u.a. wegen der derzeitigen Kompetenzverteilung.


Philipp:
> Die Bundesregierung kann hingegen Den Bundestag auflösen lassen, eine Vorlage
> mit der Vertrauensfrage verbinden oder den Gesetzgebungszwang anwenden.

Wie kann sie den Bundestag auflösen lassen? Auflösung nach Vertrauensfrage und Gesetzgebungsnotstand setzen die Kooperation von weiteren Gremien voraus (Bundespräsident und Bundestag bzw. Bundesrat).

> Wenn aber die vorherrschende Meinung dahin geht, in jedem Abweichen vom
> Bisherigen, Gewohnten, Hergebrachten eine Schwäche oder Verrat zu sehen,
> dann ist es nicht verwunderlich, dass in Deutschland keine Reformen stattfinden.

Ja, das ist ein ganz wesentlicher Aspekt.

> Beschliesst ein Parlament ein tolles Gesetz, aber das Verfassungsgericht
> erklärt es für unzulässig, dann geht es eben so nicht.

Kann es sein, dass da ein wesentlicher Unterschied zu den USA besteht? Mir scheint, dass die Verfassung in anderen Ländern wesentlich dehnbarer ausgelegt wird als in Deutschland.

> M. a. W. ist eigentlich alles an dem Begriff "Reform" so ziemlich unklar.

Prinzipiell ja, aber zumindest die großen Parteien und die Mehrzahl der anderen gesellschaftlichen Kräfte meinen schon ungefähr dasselbe damit. Wirklich umstritten ist nur c (wie weitgehend sie sein sollten). Bei vielen Bürgern ist das Verlangen nach Reformen dagegen wohl wirklich nur Ausdruck allgemeinen Missbehagens. Die Diagnose ist eigentlich relativ eindeutig, aber sie ist noch nicht an der Basis angekommen, geschweigedenn eine Diskussion über die tatsächlichen Handlungsspielräume.
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Frank Schmidt
Veröffentlicht am Samstag, 07. Februar 2004 - 18:52 Uhr:   

Ich glaube mittlerweile, ein Teil der Reformunfähigkeit ist die bewusste Tendenz der Parteien, Reformen vorzuschlagen, die die andere Seite nie mittragen wird. Auf diese Weise wollen sie als Reformkräfte erscheinen, ohne negative Auswirkungen ihrer Vorschläge mittragen zu müssen.

Das Problem ist, dieses Spiel ist schon so lang im Gang, dass die Bürger mittlerweile so ziemlich alle Parteien für reformunwillig halten...
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Juwie
Veröffentlicht am Sonntag, 08. Februar 2004 - 15:03 Uhr:   

@ c07:
> Mir scheint, dass eher umgekehrt die Parteien deswegen bundespolitisch orientiert sind, weil alle wichtigen Themen bundespolitischer Natur sind, u.a. wegen der derzeitigen Kompetenzverteilung.

Ich würde die Meinung gerne teilen, denn dann hätten instiutionelle Reformen eine Chance. Allerdings bin ich skeptisch. Selbst in der Kultuspolitik, bei der die Kompetenzen eindeutig bei den Ländern liegen, haben wir schon seit Jahrzehnten eine umfangreiche Selbstkoordination der Länder, um "gleichwertige" Lebensverhältnisse herzustellen (dabei soll Föderalismus doch eher "Vielfalt in der Einheit" herstellen). Auch unterschiedliche Ladenschlussregelungen in Halle und Leipzig halten Deutsche für nicht akzeptabel.

Fazit: Deutsche sind eigentlich keine Föderalisten. Der deutsche Föderalismus dient dazu, "Einheitlichkeit" bzw. "Gleichwertigkeit" herzustellen - und das gelingttatsächlich tatsächlich besser als in zentralistischen Staaten wie Frankreich.
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Stephan Glutsch
Veröffentlicht am Sonntag, 08. Februar 2004 - 18:02 Uhr:   

Der Einschaetzung von Juwie, "Deutsche sind eigentlich keine Foederalisten", stimme ich zu. Darueber hinaus ist die Reformunfaehigkeit der Politik ein Spiegel der Reformunfaehigkeit der Waehler, das behauptet jedenfalls H.-O. Henkel in seinem neuen Buch. Die Haltung der meisten ist: Reformen ja, aber nur bei den anderen. Mir erscheint es geradezu gesetzmaessig, dass die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat meist entgegengesetzt sind. So duerfte die starke Mehrheit von Union und FDP im Bundesrat einige davon abhalten, bei der naechsten Bundestagswahl diese Parteien zu waehlen, denn dann muesste man ja die Konsequenzen seiner Wahlentscheidung tragen - nicht gerade eine Staerke der ueber 70 Jahre durch soziale Marktwirtschaft gepraegten Deutschen.

Bei den Linken ist die Neigung zum Zentralismus noch staerker, das geben sie aber nicht gerne zu. So wurde von der jetzigen Regierung der Posten eines Kulturstaatsministers dem durchgeknallten Herrn Naumann auf den Leib geschneidert. Der Versuch der Schaffung von Ganztagsschulen greift in die Laenderkompetenz ein, ebenso das Verbot von Studiengebuehren.

Dennoch koennte man durch Entflechtung von Bundes- und Landeskompetenzen den Foederalismus staerken. Vor allem sollten die Finanztransfers zwischen Bund und Laendern auf Null gebracht werden. Dann wird man nicht umhin kommen, dass, wie in den USA, die Laender eigene Steuern einnehmen. Um den Aufwand so gering wie moeglich zu halten, koennten der Bund z.B. alle indirekten und die Laender alle direkten Steuern einnehmen. Die Herrschaft der Parteizentralen ist ebenfalls ein grosses Problem. Die Einfuehrung der Direktwahl wuerde die Unabhaengigkeit der Kandidaten staerken.
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c07
Veröffentlicht am Montag, 09. Februar 2004 - 03:52 Uhr:   

Juwie: Teilweise hast du schon Recht, es gibt beide Aspekte.

> dabei soll Föderalismus doch eher "Vielfalt in der Einheit" herstellen

Naja, das ist doch erst sekundär reininterpretiert worden. Primär war er ein Mittel zur Machtbegrenzung. Im Prinzip ist er genau dafür designt, und in diesem Sinn funktioniert er auch ganz gut.

> Auch unterschiedliche Ladenschlussregelungen in Halle und Leipzig
> halten Deutsche für nicht akzeptabel.

Das liegt zum Teil einfach daran, dass die Länderaufteilung speziell im Osten übergestülpt ist. Halle/Leipzig ist da ein gutes Beispiel. Wo es unterschiedliche Identitäten gibt, werden auch Differenzierungen akzeptiert.

Stephan:
> Die Herrschaft der Parteizentralen ist ebenfalls ein grosses Problem.
> Die Einfuehrung der Direktwahl wuerde die Unabhaengigkeit der Kandidaten staerken.

Auch das ist eigentlich Absicht. Die Macht soll auf wenige Parteien beschränkt sein, um die Regierbarkeit sicherzustellen (siehe 5%-Hürde). Unabhängige Abgeordnete passen nicht in dieses Konzept.

Ich halt es auch nicht für sinnvoll, gleich ins andere Extrem zu fallen. Erst mal sollte das faktische Monopol weniger Parteien gelockert werden.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Montag, 09. Februar 2004 - 11:39 Uhr:   

@Philipp Wälchli:
> Es fragt sich, ob die Reformunfähigkeit eines Systems tatsächlich
> nur an der Ausgestaltung der Verfassung hängt.
Natürlich spielt auch die Verfassunglage eine Rolle, aber ich stimme Dir völlig zu, daß das eine Nebenrolle ist und "Reformfähigkeit" im wesentlichen eine inhaltliche Qualität ist, die eine Regierung halt mehr oder weniger haben kann (oder fast gar nicht ...).
Du hast einige sehr gute Beispiele angeführt.

Ich würde da noch Großbritannien nennen. Die Verfassung läßt da viel zu, und eine Thatcher (die nun wirklich "reformfähig" war) hat das genutzt. Aber schon bei Major gings dann in den Sumpf - mit der gelichen Verfassung. Ausschlaggebend waren bei ihm die eigenen Parteiabweichler, die er nicht überzeugen konnte und gegenüber denen es ihm auch nicht gelang, öffentlichen Druck aufzubauen.

Konkret in Deutschland ist es natürlich so, daß zuviel verflochten ist und der Bundesrat zu oft gefragt werden muß.
Aber ein guter Teil der Gesetzgebung (z. B. das Arbeitsrecht oder das Staatsbürgerschaftsrecht incl. Einwanderung!) kann sehr wohl vom Bundestag alleine geregelt werden - auch gegen die Länder.

Wenn Bernhard schreibt:
> Das Dilemma der SPD ist ja auch, dass sie die von ihr als richtig
> erkannte Politik, für die sie gewählt wurde, gegen eine
> Unionsmehrheit im Bundesrat nicht durchsetzen kann
Dann ist das m. E. nicht richtig.
Denn wenn die SPD eine Politik "als richtig erkannt" hätte, dann könnte sie auf eigene Faust einen guten Teil davon durchsetzen. Aber eben das tut sie nicht.
Im Gegenteil läßt sie sich bei Themen (Zuwanderung), die sie laut Programm für richtig hält, aber bei den Wählern unpopulär sind, von der Union bewußt ausbremsen.

Schröder ist letztlich daran gescheitert, daß er überhaupt kein Reformkonzept hat. Auch die Agenda 2010 besteht nur aus einigen unkoordinierten Einzelmaßnahmen und vielen ominösen Ankündigungen der Art, man stünde erst am Anfang und es müßten noch viele schmerzhafte Entscheidungen kommen.
Es wird aber weder konkret gesagt, wo welche Schmerzen kommen sollen, noch welcher Endzustand angestrebt wird, noch welche Vorteile dann am Ende wieder rumkommen sollen.

Jedes SPD-Mitglied und jeder Bürger bekommt also die volle Auswahl, sich vor möglichen Verschlechterungen fürchten zu können. Aber umgekehrt bleibt vage, wo er denn profitieren könnte.

Erst durch diese Ausgangslage wird der Bundesrat das große Problem.
In der Vergangenheit gab es ja auch oft Bundesregierungen ohne Mehrheit dort. Und die mußten dann da auch mal Zugeständnisse machen.
Aber wenn die Regierung ein komplettes Reformpaket vorlegt, dann wird sie das auch im Kern durchbekommen - die einzige Ausnahme in den letzten 50 Jahren war die Lafontaine-Total-Blockade gegen die Steuerreform 97. Das ist aber in der öffentlichen Meinung recht schlecht angekommen, hängt der SPD bis heute nach, und läßt sich kaum wiederholen.

Wenn es um "Reformunfähigkeit" derzeit geht, dann muß man auf Inhalte und handelnde Personen schauen, nicht so sehr auf die Verfassung.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Montag, 09. Februar 2004 - 13:43 Uhr:   

Gewiss spielt die Verfassung auch eine Rolle. Diese ist aber m. E. untergeordneter Natur. Gerade das Beispiel Grossbritannien zeigt, dass auch eine offen gehaltende Verfassung (in concreto gibt es keine geschriebene Verfassung) nicht beliebig Reformen zulässt. Thatcher konnte nur solange erfolgreich reformieren, wie sie von einer klaren Mehrheit der Fraktion, der Partei und der Wählerschaft getragen wurde. Verschiedene Projekte konnte sie nicht umsetzen, so die Wiedereinführung der Todesstrafe (im Unterhaus in einer freien Debatte gescheitert), die Privatisierung der Royal Mail (Aufstand der Hinterbänkler zusammen mit allgemeiner Unmutsäusserung der Bevölkerung) u. a. m. Schliesslich waren breite Kreise reformmüde oder sogar mit Teilen ihrer Reformen unzufrieden, sie wurde innerhalb der Partei gestürzt, und später verlor Major die Wahl. Die Regierung Blair hat dann z. B. die zentralisierte Verwaltung Londons, die Thatcher abschaffte, wieder eingeführt - ein Beispiel für eine Reform ohne nachhaltige Wirkung.
Im Prinzip lässt sich auch eine Verfassung denken, die sich nicht ändern lässt, indem sie z. B. jede Änderung explizit verbietet oder Änderungen von einem so hohen Quorum oder einem so komplizierten Verfahren abhängig macht, dass es in der Praxis auch bei 90% Übereinstimmung unter allen Politikern nicht erreicht bzw. durchgeführt werden kann.
Das bedeutet aber nicht, dass unter der Geltung einer solchen Verfassung keine Reformen möglich sind. Innerhalb des Rahmens der Verfassung sind sehr wohl verschiedene Gestaltungsspielräume verfügbar; ist zudem die Verfassung obwohl kaum oder gar nicht veränderlich im wesentlichen ein Organisationsstatut, das keine oder wenige inhaltliche Vorgaben macht, so haben die Organe des Staates gleichwohl reichlich Handlungsfreiheit.
Aber sogar dann, wenn es um Reformen geht, die die Verfassung selbst angreifen, kann eine unveränderliche Verfassung diese nicht auf Dauer verhindern. Eine Änderung setzt dann allerdings einen Bruch mit der Verfassung voraus, gleich welcher Art er auch sein mag. In der Praxis kann die Verfassung z. B. ignoriert werden, oder aber es kommt zu Bürgerkrieg, Putsch o. dgl. Oder aber eine Veränderung wird ausserhalb der Verfassung unter Berufung auf eine andersartige Autorität, z. B. durch eine Volksabstimmung, Souveränitätserklärung o. dgl. durchgeführt und die Verfassung durch eine neu gesetze verdrängt.
Immerhin sind ja die meisten absoluten Monarchien auf derartigen Wegen inzwischen beseitigt worden. Die Vorgängen während der Revolution in Frankreich hielten sich ja ziemlich genau an alle eben beschriebenen Möglichkeiten (Souveränitätserklärung der Nationalversammlung, Verfassungsbruch und Staatsstreich, Berufung auf Volksabstimmungen usw.). Im Hinblick auf die Gefahren, die bei einem Verfassungsbruch drohen, wäre m. E. eine Lösung vorzuziehen, bei der die Verfassung selbst die Möglichkeit regelgeleiteter Veränderungen einräumt.

Zu diesem Thema verdient der letzte Artikel des Grundgesetzes Beachtung: Dieser legt fest, dass das GG ausser Kraft tritt an dem Tage, an dem eine vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung in Kraft tritt.
Dies räumt neben der Veränderung durch 2/3-Mehrheit von BT und BR eine weitere Möglichkeit der Verfassungsreform ein.
Diese Möglichkeit legitimiert sich ausdrücklich unter Berufung auf das Volk. Der Wortlaut legt nahe, dass es sich um eine Totalrevision der Verfassung handelt und dass der ausgearbeitete Verfassungsentwurf durch Volksentscheid gebilligt werden sollte (u. U. kann aber auch eine Annahme ggf. mit qualifiziertem Mehr durch eine eigens gewählte verfassunggebende Versammlung, die gleichsam an Volkes Stelle handelt, als genügend angesehen werden).
Allerdings ist unklar, wie der Artikel durchgeführt werden kann bzw. müsste. Das GG legt keine weiteren Regeln fest z. B. zu Fragen wie: Wer kann das Verfahren einleiten? Wer arbeitet die Verfassung aus? Wer organisiert die Volksabstimmung? Welche Regeln gelten für die Annahme der Verfassung? Wann und wie wird sie in Kraft gesetzt und ggf. von wem?
Dazu sind jeweils verschiedene Möglichkeiten denkbar, z. B. könnte alleind er Bundestag das Recht haben, ein Verfahren zur Verfassungsgebung einzuleiten. Oder aber es könnte auf Begehren einer ausreichenden Zahl von Wahlberechtigten stattfinden. Für die Annahme der neuen Verfassung könnte man z. B. vorschreiben, dass mindestens 2/3 aller Wahlberechtigten sich an der Abstimmung beteiligen und dass eine Mehrheit der Stimmenden zustimmen müsste, dass ferner auch die Mehrheit der Stimmenden in 2/3 der Bundesländer erforderlichs sei. Oder aber man kann anordnen, dass eine blosse Mehrheit aller abgegebenen Stimmen genügt, ohne weitere Einschränkungen aufzustellen.
Am sinnvollsten wäre es vermutlich, ein Ausführungsgesetz zu erlassen, das vorsieht, unter welchen Bedingungen ein solches Verfahren eingeleitet werden kann bzw. muss und nach welchen Regeln es ablaufen soll. Fraglich ist, ob beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde oder Klage erhoben werden könnte des Inhalts, dass der Bundesgesetzgeber verpflichtet wird, ein Ausführungsgesetz zu erlassen. Auf diesem Wege könnte grundsätzlich erzwungen werden, dass dieser Weg gangbar gemacht werden muss. Restriktive Bestimmungend es Ausführungsgesetzes könnten dann wiederum beim BVG angefochten werden.
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Montag, 09. Februar 2004 - 14:01 Uhr:   

@Philipp Wälchli:
Zustimmung.
Man könnte natürlich eine Verfassung so eng schneidern, daß Veränderungen nur noch per Revolution zu erreichen sind.
Aber in der Praxis sind es wohl nie die Verfassungen, an denen von einer stabilen Mehrheit gewünschte Änderungen scheitern.
Wenn man sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die Jahrzehnte so anschaut (z. B. zum Thema Auslandseinsätzer der Bundeswehr), dann ist auch interessant, wie flexibel man mit ehernen Verfassungsgrundsätzen umgehen kann ...
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Ralf Arnemann
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Februar 2004 - 14:06 Uhr:   

In der heutigen Süddeutschen gibt es einen genau zu unserem Thema passenden Leitartikel, der im wesentlichen Philipps Sicht bestätigt:
http://www.sueddeutsche.de/sz/meinungsseite/red-artikel1244/

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