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Evolution der Wahlmathematik

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Ratinger Linke
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Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Oktober 2015 - 00:03 Uhr:   

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Marc
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Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Oktober 2015 - 17:25 Uhr:   

@Ratinger Linke,

es spricht in der Tat für eine solide Arbeit der beteiligten Ausschüsse des Saarländischen Landtags den Umstand der unterschiedlichen Höhe der faktischen Hürde herausgearbeitet zu haben, obwohl keiner der für diesen Bericht angehörten Experten diesen Umstand erwähnt hat. Vielmehr haben diese ziemlich pauschal von einer faktischen Hürde von annähernd 2% gesprochen. Während man den Experten, die von einer Sperrklausel von annähernd 2% sprachen halten kann, dass sie damit zumindest eine Unschärfe hinsichtlich des Höhe der Sperrklausel andeuteten, suggeriert Prof Dr. Gröppl mit der Nennung der Zahl von 1,96 % eine Genauigkeit, die der Relativierung bedurft hätte. Denn dieser Wert gilt nur für den Fall, dass 100% der Stimmen im Landtag vertreten sind und damit für einen Fall, der faktisch sehr unwahrscheinlich ist.

Es ist sehr löblich, dass die Abgeordneten selbst diese Erkenntnis durch Anwendung eines einfachen Dreisatzes erlangt haben. Die Experte haben diese hingegen den Abgeordneten vermittelt. Das spricht sehr für die Qualität der Abgeordneten, hingegen gegen die Experten, deren Aufgabe es gewesen wäre präzise auf diesen Umstand hinzuweisen.

Ansonsten erschöpfte sich die Anhörung auf die Wiederholung altbekannter Argumente. Man sollte sich wirklich fragen, welchen Sinn es ergibt, dass Verfassungsgerichte die Parlamente immer wieder zur ständigen Überprüfung von Gesetzen verpflichten. Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit ist es über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu befinden, nicht verfassungsrechtliche Debatten über die Zweckmäßigkeit von Regelungen zu führen die sich, je nach Situation, auch ändern kann. Die zunehmende Zersplitterung des Parteiensystems zeigt ja dass die Argumente für die Sperrklausel berechtigt sind. Im übrigen muss hierfür schon die abstrakte Gefährdung ausreichend sein. Ansonsten kommt man in einer argumentative Konfusion.

Es tritt nämlich argumentativ folgende Situation ein: Gibt es keine oder nur eine Partei, die von der Sperrklausel ausgeschlossen wird, dann würde deren parlamentarischer Einzug keine oder jedenfalls eine nur geringe Gefährdung der parlamentarischen Handlungsfähigkeit herbeiführen. Verlangt man also eine konkrete Gefährdung parlamentarischer Handlungsfähigkeit wäre in dem Fall die Sperrklausel womöglich als verfassungswidrig zu qualifizieren, obwohl nur relativ wenige Wählerstimmen keinen Erfolgswert haben. Insofern wäre aber auf die Gesamtstimmzahl bezogen die Erfolgswertgleichheit der Stimmen wenig beeinträchtigt.

Haben hingegen viele Parteien eine Stimmanteil unter 5% (10-20% gab es bereits bei Landtagswahlen) hätte der Einzug dieser - regelmäßig mehreren - Parteien eindeutig eine zersplitternde Wirkung die die Regierungsbildung erschwert. Demnach wäre die Sperrklausel gerechtfertigt. Andererseits hätten aber mehr Wählerstimmen überhaupt keinen Erfolgswert als im erstgenannten Fall, aber gerade deshalb wäre die Sperrklausel - von diesem Ansatz ausgehend - gerechtfertigt, da sie ja nur in dem Fall eine Zersplitterung verhindert, die im erstgenannten Fall ja nicht bzw. weniger droht.

Dieser funktionalistischer Ansatz widesrpricht dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der - im Fall der Verhältniswahl ausgedrückt durch das Prinzip Zählwert = Erfolgswert - im zweitgenannten Fall stärker beeinträchtigt ist als im erstgenannten Fall. Ob sich daraus dann verfassungsrechtliche Konsequenzen ergeben (etwa Verpflichtung zur Einführung einer Alternativstimme) ist eine andere Frage, die allerdings das Verfassungsgericht selbst auf Grund eigener Überlegungen beantworten müsste, anstelle abstrakte Prüfpflichten aufzustellen. So fernliegend sind diese Zustände nicht, dass diese heutzutage nicht in der Urteilsfindung in Betracht gezogen werden müssten. Hier drückt sich das Gericht von seiner Pflicht auf eine zulässige konkrete Klage hin festzustellen was rechtens ist. Genau das ist aber die originäre Aufgabe eines Gerichts, auch und gerade wenn es schwierig ist, eine Rechtsfrage verbindlich zu entscheiden. Die Tendenz dem auszuweichen und Prüfplichten aufzuerlegen - eine Tendenz die nicht nur in diesem Rechtsgebiet inzwischen zur Spruchpraxis der Verfassungsgerichte gehört - ist bedenklich und untergräbt letztlich auch den Justizgewährleistungsanspruch der Bürger, der auf Entscheidung einer sie betreffenden Rechtsfrage gerichtet ist, nicht auf die Erteilung von Prüfaufträgen an die Legislative.
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Thomas Frings
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Oktober 2015 - 18:18 Uhr:   

Mathematisch ist das nicht korrekt. Die maximale faktische Sperrklausel läge ohne gesetzliche Sperrklausel bei 51 Sitzen nicht bei 1/51, sondern bei 1/52 (~1,923%). Immerhin haben sie richtig erkannt, dass die faktische Sperrklausel nicht statisch ist. Das ist aber bei 51 Sitzen nicht mehr so krass wie bei kleinen Sitzzahlen und bei Höchstzahlverfahren weniger bedeutend als bei Hare/Niemeyer.
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Ratinger Linke
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Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Oktober 2015 - 18:19 Uhr:   

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Marc
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Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Oktober 2015 - 18:41 Uhr:   

@Ratinger Linke,

der Landtag hat erstmal das Recht selbst zu entscheiden mit welchen Fragen er sich befasst. Ferner hat er über Vorschläge der Landesregierung zu entscheiden.
Dass er sich mit Prüfaufträgen des Verfassungsgerichts zu befassen hat kann ich nirgendwo der Landesverfassung zu entnehmen, noch dass das Verfassungsgericht anstelle über eine Rechtsfrage selbst zu entscheiden das Recht hat diese per Prüfauftrag an den Landtag zu delegieren.

Ganz grundsätzlich ist es Aufgabe des Parlaments über das Wahlrecht zu entscheiden. Das Verfassungsgericht wacht nur über die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben. Über deren Reichweite muss es aber selbst entscheiden und kann dies nicht ans Parlament - schon gar nicht ohne jeden Hinweis darauf, welche Maßstäbe es denn nun für angemessen hält - delegieren. Das Ergebnis solcher Scheinentscheidungen ist doch klar: Es werden die alten Argumente wieder hervorgeholt - von allen Seiten - zu einer Frage, die an sich schon längst entschieden wurde. Logisch wäre es also entweder die Entscheidung unter Verweis auf die bisherige Rechtsprechung erneut zu bekräftigen oder eben die Sperrklausel für verfassungswidrig zu erklären (was aber einen deutlich höheren Begründungsaufwand und eine ausführliche Argumentation in Auseinandersetzung mit der bisherigen Rechtsprechung und ihrer Argumente, mithin einen weit höheren argumentativen Aufwand, erfordern würde).
Klagen abzuweisen, dann aber Prüfaufträge zu erteilen ist etwa so, wie wenn ein Gericht eine Zivilklage abweisen würde, aber den Beklagten dann doch aufträgt zu prüfen, ob er nicht doch dem Kläger teilweise entgegen kommen möchte. Prozessual ist das ziemlich absurd - und so sind dann auch die Ergebnisse solcher Prüfaufträge meist klar.

In anderen Fällen wurden allerdings Prüfaufträge sogar in Fällen erteilt, in denen die Verfassungsmäßigkeit relativ evident war - etwa einigen familienrechtlichen Regelungen. In den Fällen hätte das BVerfG dass dann aber auch gleich judizieren müssen und ggf. eine Übergangsfrist zur Änderung setzen sollen, anstelle die Verfassungsbeschwerde inhaltlich abzuweisen, aber einen Prüfauftrag zu erteilen. Derartige Judikate machen im Hinblick auf den Justizgewährleistungsanspruch (Recht auf effektiven Rechtsschutz) keinen Sinn und unterlaufen sogar diesen grundrechtlichen Anspruch des Bürgers, jedenfalls soweit die Verfassungswidrigkeit evident ist. Anderenfalls sind sie Nebelkerzen, die von der an sich erfolgten Klagabweisung ablenken, so dass sich der gescheiterte Beschwerdeführer doch noch auch als Sieger fühlen kann. Ein solches Gefühl zu erzeugen ist aber nicht der Zweck eines Urteils - für das gibt es den gerichtlichen Vergleich (inzwischen sogar von Verfassungsgerichten angewandt). Ein Urteil soll eine Rechtsfrage entscheiden.
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Ratinger Linke
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Veröffentlicht am Donnerstag, 15. Oktober 2015 - 20:28 Uhr:   

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Marc
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Veröffentlicht am Freitag, 16. Oktober 2015 - 10:05 Uhr:   

@Ratinger Linke,

die Frage ist doch, worauf sich diese "Prüfpflicht" beziehen soll, wenn nicht auf die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Diese Prüfpflicht obliegt jedoch dem Verfassungsgericht selber und muss von ihm selbst wahrgenommen werden.

Die Auffassung, die Verfassungsmäßigkeit einer Sperrklausel sollte an der jeweiligen politischen Lage gemessen werden führt jedenfalls gerade im Hinblick auf die Wahlgleichheit zu einem recht absurden Ergebnis. Denn nach dem Maßstab wäre - wie ausgeführt - die Klausel dann verfassungswidrig, wenn nur wenige Stimmen an die "sonstigen Parteien" gehen, da dies die Regierungsbildung nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. In dem Fall ist die Erfolgswertgleichheit jedoch wenig beeinträchtigt. Gehen hingegen viele Stimmen an "sonstige Parteien" wäre die Klausel gerechtfertigt, da sie in dem Fall tatsächlich die Mehrheitsbildung tendenziell erleichtert, obwohl in dem Fall die Erfolgswertgleichheit massiv beeinträchtigt ist.

Gemessen am Gleichheitsgrundsatz wären das Ergebnis hingegen genau umgekehrt, da er im letzteren Fall natürlich massiver beeinträchtigt ist. Die eigentliche Frage ist also, wie viele Stimmen aus verfassungsrechtlicher Sicht einen Erfolgswert von 0 haben dürfen, ohne dass der Grundsatz der Gleichheit der Wahl verletzt ist.

Ein Punkt ist richtig: Bei dem relativ homogenen Parteiensystem der alten Bundesrepublik stellte sich die Frage nicht, da regelmäßig an die sonstigen Parteien ohnehin weniger als 5% der Stimmen gingen. Das ist nun aber schon seit einigen Jahrzehnten anders, so dass sich diese Frage immer offensichtlicher stellt. Und die muss - als Verfassungsfrage - durch die Verfassungsgerichtsbarkeit beantwortet werden - wie auch immer die Antwort ausfällt (gibt keine Grenze (da bei relativer Mehrheitswahl sogar noch mehr Stimmen wegfallen können), Grenze ist bereits überschritten, Grenze wird überschritten bei 5%, 10%, 20%, usw.). Da es um die Auslegung der Verfassung geht, wird sich die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht dauerhaft um die Beantwortung dieser Frage drücken können, wie sie es derzeit tut.

Das die Parlamente als "Richter in eigener Sache" die Hürde absenken oder z.B. Alternativstimmen von sich aus einführen ist nicht zu erwarten. Es ist offen gesagt auch nicht Aufgabe der Parlamente ständig die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen neu zu überprüfen. Für diese Aufgabe wurde ja gerade die Verfassungsgerichtsbarkeit geschaffen und von dieser sollte sie sich daher auch nicht drücken.
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Ratinger Linke
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Veröffentlicht am Freitag, 16. Oktober 2015 - 11:00 Uhr:   

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Marc
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Veröffentlicht am Freitag, 16. Oktober 2015 - 13:34 Uhr:   

@Ratinger Linke,

es gibt zwei Ebenen: die verfassungsrechtliche Ebene und die politische Ebene.

Das Verfassungsgericht muss die Frage beantworten, ob das geltende Recht mit der Verfassung vereinbar ist.
Die politische Ebene - das Parlament - muss die Frage beantworten, ob und wenn ja wie Gesetze verändert werden sollen.

Nehmen wir das von Ihnen angesprochene Beispiel der Sperrklauselproblematik: Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird am Ende entscheiden müssen, ob die 5%-Klausel in der gegenwärtigen Form verfassungsgemäß ist, auch wenn die Zahl der "Sonstigen" inzwischen weit höher ist, als man dies ursprünglich erwartet hat. Sollte sie dies bejahen, besteht für das Parlament keinerlei verfassungsrechtliche Handlungspflicht. Die Parlamente können natürlich trotzdem das Wahlgesetz verändern (die Einführung von Kumulieren und Panaschieren bei Kommunalwahlen oder des Hamburger Wahlrechts mit mehreren Stimmen war verfassungsrechtlich weder geboten, noch verboten). Eine verfassungsrechtliche Handlungspflicht zur Gesetzesänderung besteht nur, sofern das Verfassungsgericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Und auch in dem Fall verbleibt dem Parlament die Prärogative in Bezug auf die Neuregelung. Wie weit diese geht hängt vom Tenor, der in Rechtskraft erwächst und mittelbar jedenfalls von den Entscheidungsgründen ab, die zwar nicht in Rechtskraft erwachsen, aber ausführen, aus welchen Gründen das Verfassungsgericht eine bestimmte Regelung für verfassungswidrig hält (und somit Hinweise gibt, wie eine Neuregelung jedenfalls nicht auszusehen hat). Oft gibt das Verfassungsgericht zusätzlich Hinweise über verschiedene alternative verfassungskonforme Neuregelungsmöglichkeiten. Käme das Verfassungsgericht zum Ergebnis, die 5%-Hürde sei jedenfalls dann verfassungswidrig, wenn sie dazu führt, dass regelmäßig 1/4, 1/5 oder 1/10 der Wählerstimmen nicht parlamentarisch berücksichtigt sind, gäbe es für das Parlament ja verschiedene Möglichkeiten diese Situation im Sinne der verfassungsgerichtlichen Vorgaben zu bereinigen. Hierfür käme eine Abschaffung der Hürde, u.U. auch schon eine Absenkung der Hürde, die Einführung von Alternativstimmen bei Beibehaltung der Hürde oder sogar noch weitergehende Änderungen im Wahlsystem im Betracht, die alle eine verfassungsgemäße Situation im Sinne der verfassungsgerichtlich festgestellten Grenzen wiederherstellen könnten. Die Entscheidung welches (verfassungskonforme) Modell gewählt wird obliegt dabei allein dem Parlament, nicht dem Verfassungsgericht. Aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben ergibt sich nämlich nicht nur ein einziges mögliches Modell. Das wäre nur der Fall, wenn man das Wahlsystem selbst in die Verfassung schreiben würde. Im Grundgesetz stehen jedenfalls nur die Wahlrechtsgrundsätze. Mit diesen sind verschiedenste Modell vereinbar - selbst wenn das Verfassungsgericht seine Rechtsprechung hinsichtlich der Rechtfertigungsanforderungen der 5%-Klausel verschärfen sollte. Dies gilt analog für die Landesverfassungen, soweit sich aus diesen keine weiteren oder anderen Vorgaben ergeben.
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Ratinger Linke
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Veröffentlicht am Freitag, 16. Oktober 2015 - 14:00 Uhr:   

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Marc
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Veröffentlicht am Freitag, 16. Oktober 2015 - 14:55 Uhr:   

@Ratinger Linke,

es ist aber Aufgabe des Verfassungsgerichts festzustellen, ob eine gesetzliche Regelung eine hinreichende Rechtfertigung hat oder nicht um z.B. den Grundsatz der Wahlgleichheit zu modifizieren bzw. einzuschränken. Diese Aufgabe ist gerade originäre Aufgabe des von hochkarätigen Juristen besetzten Gerichts. Es kann diese Aufgabe nicht ans Parlament delegieren, dessen Mitglieder eine andere Funktion als die Suche nach verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsgründen haben. Dafür sind die Abgeordneten in der Regel weder qualifiziert, noch ist dies nach der verfassungsrechtlichen Funktionenzuordnung die Aufgabe eines Parlaments. Genauso wenig wie umgekehrt politische Entscheidungen (Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen, außenpolitische Entscheidungen oder originäre gesetzgeberische Weichenstellung) nicht in die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts fallen.

Wenn ein Verfassungsgericht eine Regelung für verfassungswidrig hält, muss es sie für verfassungswidrig erklären. Wenn es Sorge um die Rechtssicherheit hat kann es eine längere Übergangsfrist festlegen. Anderenfalls muss es eine Regelung für verfassungsgemäß erklären. Etwas dazwischen gibt es nicht und würde auch der Entscheidungspflicht des Gerichts entgegenlaufen. Die Verteilung von Prüfpflichten vernebelt diesen Umstand. Denn im Ergebnis ist es nichts anderes als eine Regelung für verfassungsgemäß zu erklären.

Im übrigen ist die verfassungsrechtliche Prüfung einer Norm ein sog. objektives Verfahren. Es kommt daher nicht darauf an welche Begründung des Parlament selbst für eine Regelung gibt (in Deutschland gehören die Gesetzesbegründungen nicht zum Gesetz und sind daher nur für die Auslegung von Interesse, allerdings auch hier nicht zwingend, da in Deutschland die historische Auslegung keine zentrale Rolle bei der Auslegung einnimmt). Bei verfassungsrechtlichen Fragen dominiert die teleologische Auslegung. Diese prüft den möglichen Sinn und Zweck einer Norm - auch unabhängig von der Entstehungsgeschichte. Wenn also ein Gesetz auch nur nach einer möglichen denkbaren Auslegung verfassungsgemäß ist, muss das Bundesverfassungsgericht es für verfassungsgemäß erklären - auch wenn diese Auslegung der Intention des historischen Gesetzgebers widerspricht.
Gleichermaßen gilt: Wenn sich überhaupt irgend eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die Verfassungskonformität einer Norm findet hat das Verfassungsgericht es für verfassungsgemäß zu erklären.
Die Suche nach dem objektiven Sinn einer Norm ist Aufgabe der Gerichte - nicht des Gesetzgebers. Ein Gesetz kann "klüger" sein, als der Gesetzgeber und ist es übrigens häufig auch.
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Ratinger Linke
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Veröffentlicht am Freitag, 16. Oktober 2015 - 15:52 Uhr:   

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Marc
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Veröffentlicht am Freitag, 16. Oktober 2015 - 16:15 Uhr:   

@Ratinger Linke,

Sie sind diesbezüglich im Unrecht. Gerichte sind dafür da, dass geltende Recht auszulegen. Parteien können ihre Meinung äußern und das Gericht auf Meinungen anderer Gerichte und im Schrifttum hinweisen. Originär ist es aber Aufgabe des Gerichts selbst, dass geltende Recht zu finden und auszulegen.

Verfassungsgerichte sind im Übrigen keine "normalen Gerichte". Sie ermitteln den Sachverhalt von Amts wegen (wie Verwaltungs- und Strafgerichte). Ferner führen Verfassungsgericht um ein sog. objektives Verfahren. D.h. sie sind nicht auf die Argumente der jeweiligen Kläger beschränkt. Sie sind noch nicht mal auf den angeführten Rechtsgrund beschränkt, mit dem die Nichtigkeit einer Norm begründet wird. Ist eine Norm aus ganz anderen Gründen verfassungswidrig, so spricht dies das Verfassungsgericht ebenfalls aus (da im Rahmen eines objektives Verfahrens die Verfassungsmäßigkeit in jeder Hinsicht geprüft werden MUSS):

Beispiel: Das Schleswig-Holsteinische Verfassungsgericht hat 2010 das Landeswahlgesetz für verfassungswidrig erklärt.

http://examensrelevant.de/wahlgesetz-in-schleswig-holstein-verfassungswidrig/

Dabei hat es seinerzeit alle inhaltlichen Argumente der Beschwerdeführer bezüglich der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zurückgewiesen. Es stützte sich hingegen überraschenderweise darauf, dass das Wahlgesetz eine zu große Aufblähung des Landtags verursache, die wegen der Festlegung der Sitzzahl in der Verfassung verfassungswidrig sei (primär also auf die Verletzung der verfassungsrechtlichen Parlamentsgröße, die die Beschwerdeführer allerdings gar nicht beanstandet hatten, diese stützten sich auf die Verletzung der Gleichheit der Wahl). Mit dieser Begründung hatte seinerzeit niemand gerechnet.
Es ist Aufgabe eines Verfassungsgerichts im Rahmen eines objektiven Verfahrens zu prüfen, ob eine Norm verfassungsgemäß ist oder nicht. Dabei ist es gesetzlich verpflichtet (daher objektives Verfahren) in sämtlicher Hinsicht die Frage zu prüfen. Es ist nicht auf das Parteivorbringen begrenzt. Von daher kann es eine Norm aus ganz anderen als von den Beschwerdeführern vorgebrachten Gründen für verfassungswidrig erklären (so im angeführten Fall), aber auch umgekehrten aus ganz anderen als den von den Beschwerdegegnern vorgebrachten Gründen für verfassungsgemäß erklären.

Aufgabe des Gerichts ist gerade die Suche und die Feststellung des Rechts.
Das gilt übrigens auch für Zivilverfahren (da mihi factum, dabo tibi ius (Gib mir die Tatsachen, ich werde dir das (daraus folgende) Recht geben.). Im Öffentlichen Recht und im Strafrecht gilt dieser Grundsatz übrigens so nicht. Da gilt nämlich der Amtsermittlungsgrundsatz, so dass die Gerichte die Tatsachen selbst (von Amts wegen) ermitteln müssen. Im Öffentlichen Recht besteht allerdings eine Mitwirkungspflicht der Parteien (im Strafrecht gilt dies nicht für den Angeklagten, der nicht zur Mitwirkung an der Aufklärung seiner ggf. bestehenden Schuld verpflichtet ist).
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Ratinger Linke
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Veröffentlicht am Freitag, 16. Oktober 2015 - 17:27 Uhr:   

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Marc
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Veröffentlicht am Sonntag, 18. Oktober 2015 - 01:15 Uhr:   

@Ratinger Linke,

richtig ist dass die Gerichte bei komplexen Fragen externen Sachverstand bedienen müssen. Das müssen allerdings die Prozessparteien auch, da Beschwerdeführer und Beschwerdegegner selbst in der Regel ebenso wenig alle komplexen Fragen durchschauen.

Wie wird dieses Problem in der Praxis gelöst: Durch die Anhörung von Sachverständigen (in dem Fall von Wahlrechtsexperten). Im Fall eines Verfahrens mit Amtsermittlungsgrundsatz kann das Gericht hierfür auch selbst Experten suchen und diese zur Anhörung laden. Das Bundesverfassungsgericht verfügt über einen Stab wissenschaftlicher Mitarbeiter, die selbst Recherche zu Meinungen und Rechtsfragen in bisheriger Rechtsprechung und Literatur betreiben. Insofern hat das Gericht die Ressourcen (anders als andere Gerichte) sich über den neuesten Stand der Debatten zu den vom ihm zu entscheidenden Rechtsfragen (auch und gerade Wahlrechtsfragen) zu informieren und Koriphäen zu Wahlrechtsfragen zur Expertenanhörung zu laden. Es ist dazu nicht weniger in der Lage als ein Parlament (wie in der in ihrem Beispiel aufgeführte saarländische Landtag). Anders als dieser ist das Gericht jedoch mit unabhängigen Richtern besetzt, während das Parlament mit parteiischen Abgeordneten besetzt ist, die zumindest teilweise im Fall von Wahlrechtsänderungen einem höheren Risiko ausgesetzt sind nicht wiedergewählt zu werden.

Ein Manko ist natürlich die mangelnde Berücksichtigung der Wahlmathematik. Dies läßt sich im Ergebnis nur durch stärke Zuziehung von Mathematikern in diese Debatten und Diskussionen lösen. Hier ist mehr Interdisziplinarität gefragt. Ein Schritt in diese Richtung könnte sein, bei Fragen der Gleichheit der Wahl Mathematiker als Sachverständige hinzuzuziehen, die sich mit diesen Fragen beschäftigt haben. Das gilt gleichermaßen für gerichtliche Verfahren wie parlamentarische Hearings. Diese können natürlich keine rechtliche Würdigung vornehmen, aber Paradoxien erläutern und darlegen ob diese - ohne Erzeugung von anderen Paradoxien - vermeidbar sind. Mit diesen - substanziell ja mathematischen Problemstellungen - sind Juristen überfordert. Genau wie umgekehrt Mathematiker überfordert sein werden, den Unterschied zwischen Mord und Totschlag zu erläutern (häufig selbst in dem Fall, in dem diesen der Unterschied erläutert wurde). Es sind einfach unterschiedliche Denkweisen, die beiden Bereichen zu Grunde liegen. Insoweit braucht man ein höheres Problembewusstsein, dass diese Frage ohne mathematischen Sachverstand nicht verstanden und erst recht nicht alternative Lösungsmodelle entwickelt werden können. Ich denke allerdings, dass das Problembewusstsein seit dem Urteil des Bundesverfassungsgericht zum negativen Stimmgewicht bereits gewachsen ist.

Das natürlich die Parteien selbst Argumente im Verfahren anführen versteht sich von selbst. Nur ist das Gericht nicht auf diese Argumente beschränkt. Hierfür habe ich auf das seinerzeitige Urteil des Verfassungsgerichts Schleswig-Holstein zum damaligen Wahlrecht verwiesen, dass sämtliche der von den Beschwerdeführern angeführten Gründe für die Verfassungswidrigkeit ablehnte, diese im Ergebnis aus anderen Gründen bejahte (Aufblähung der Zahl der MdL entgegen einer insofern als Staatsziel interpretierten in der Verfassung verankerten Abgeordnetenzahl).

Das zeigt: Das Gericht ist nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch nicht auf den Vortrag der Parteien beschränkt.

Das ist natürlich die Ausnahme. In der Regel tragen die Parteien selbst alle von ihnen entdeckten Argumente für ihre jeweilige Position vor, so dass naturgemäß auch das Gericht (dass insoweit auf den gleichen Informationspool wie die Parteien zugreift (bisherige Rechtsprechung, Stimmen im Schrifttum), die selben Argumente abwägt, die ihm bereits von den Parteien präsentiert wurden. Natürlich präsentieren die Parteien nur die Ihnen jeweils günstigen Argumente unter Verweis auf Rechtsprechung und Literatur. Aber das bedeutet nicht unbedingt dass die anderen unentdeckt bleiben, da in wissenschaftlichen Werken und Aufsätzen stets auch eine Auseinandersetzung mit anderen Ansichten stattfindet. Selbst in kurzen Aufsätzen wird zumindest auf entgegenstehende Ansichten hingewiesen. Natürlich kann ein Richter selbst dem nicht allen nachgehen. Die Besonderheit beim Bundesverfassungsgericht ist allerdings, dass dieses einen ganz Stab wissenschaftlicher Mitarbeiter hat. Daher können diese den aktuellen Stand der jeweiligen Diskussionen zusammentragen und zusammenfassen, so dass das Bundesverfassungsgericht für seine Entscheidungen in aller Regel sehr gut informiert ist.

Was natürlich nicht möglich ist ist auf Argumente einzugehen, die noch nicht einmal in der Wissenschaft selbst bisher gedacht und veröffentlicht wurden. Dieser Umstand ist unvereinbar.

Bei anderen Gerichten sieht es in der Tat anders aus. Diese sind - anders als das Bundesverfassungsgericht - kein Verfassungsorgan. Sie haben keinen Stab wissenschaftlicher Mitarbeiter, sondern müssen selbst recherchieren und Meinungen zusammentragen. Abgesehen davon müssen Entscheidungen zügig getroffen werden. Da besteht natürlich faktisch eine sehr große Abhängigkeit von Vortrage (inklusive des Rechtsvortrags) der Parteien. Beim Bundesverfassungsgericht ist dies - auf Grund seiner ihm in sehr großen Umfang zur Verfügung stehenden Ressourcen - weit weniger der Fall.

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