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"Umgekehrte 5%-Klausel"

Wahlrecht.de Forum » Wahlsysteme und Wahlverfahren » Europawahl in Deutschland / Europawahlen in den EU-Mitgliedstaaten » "Umgekehrte 5%-Klausel" « Zurück Weiter »

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Werner Fischer
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 07. Juni 2013 - 11:36 Uhr:   

Folgende Petition habe ich am 28.5.2013 als "öffentliche Petition" beim Petitionsausschuss des Bundestags eingereicht:

Der Deutsche Bundestag möge für EU-Wahlen statt der geplanten 3%-Hürde eine "umgekehrte 5%-Hürde" beschließen.

Dazu ist § 2 Abs. 7 EuWG wie folgt zu ändern:
"Die Wahlvorschläge mit der niedrigsten Zahl an Stimmen nehmen an der Verteilung der Sitze nicht teil, soweit die Summe dieser Wahlvorschläge weniger als 5% der gültigen abgegebenen Stimmen ergibt. Damit wird gewährleistet, dass mindestens 95% aller abgegebenen gültigen Stimmen bei der Sitzverteilung berücksichtigt werden."


Begründung:
Durch die bisherige 5%-Hürde wurden seit 1994 im Schnitt 12% der abgegebenen Stimmen (1994: 19,0%, 1999: 8,4%, 2004: 9,8%, 2009: 10,8%) nicht berücksichtigt bzw. kamen bei der Sitzverteilung anderen Parteien zugute. Diese Verzerrung des Wählerwillens verstößt gegen das Grundgesetz, wie das BVerfG zu Recht in seinem Urteil zur Aufhebung der 5%-Hürde angemerkt hat.

Mit der geplanten 3%-Hürde wird diese Verzerrung nicht beseitigt, sondern höchstens abgemildert. Bei der Wahl 2009 hätte sich damit ein identisches Ergebnis ergeben - 10,8% der Stimmen wäre bei der Verteilung der Sitze anderen Parteien zugute gekommen. Eine %-Hürde birgt zudem immer das theoretische Risiko, dass logisch-mathematisch keine Sitze zugeteilt werden können (z. B. 34 Listen erhalten jeweils weniger als 3% = Deutschland wäre im EU-Parlament nicht vertreten).

Der bessere Weg ist eine Regelung, die bei Vergabe der Sitze möglichst viele Stimmen berücksichtigt. Erscheinen aus organisatorischen/ökonomischen Gründen (Arbeitsfähigkeit des Parlaments usw.) Einschränkungen notwendig, darf dieser Grundsatz keinesfalls in den Hintergrund treten. Die dadurch eintretende "Verzerrung des Wählerwillens" darf bestimmte angemessene Grenzen (z. B. 5% der abgegebenen Stimmen) nicht überschreiten. Mit der oben beschriebenen Regelung wird das dauerhaft gewährleistet und der Bundestag kann damit gleichzeitig die Forderung des EU-Parlaments nach einer "Mindestschwelle" erfüllen.

Mit der "umgekehrten 5%-Hürde" hätten bei der Wahl 2009 folgende Parteien zusätzlich Mandate erhalten:

2 Freie Wähler
1 Republikaner
1 Tierschutzpartei
1 Familie
1 Piraten

Ohne jede Einschränkung wären zusätzlich noch RENTNER und ÖDP mit je einen Sitz vertreten.

Da die "umgekehrte 5%-Hürde" den demokratischen Wettbewerb gerade auch unter kleineren Parteien fördert, stellt sie im Rahmen der Chancengleichheit ein geeignetes Instrument dar und sollte immer dann eingeführt werden, wenn gewisse Einschränkungen nötig erscheinen. Die beschriebene Regelung vermindert das Risiko deutlich, das eine entsprechende Einschränkung erneut vom BVerfG als verfassungswidrig beurteilt wird.

Mich interessiert: Wie beurteilen die Forenmitglieder diesen Vorschlag?}
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Migan
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Freitag, 07. Juni 2013 - 12:17 Uhr:   

Ehrlich gesagt, ich hab das nicht verstanden. Ein Beispiel wäre sicherlich hilfreich.
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Christian Haake
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 07. Juni 2013 - 12:46 Uhr:   

Das Verfahren nicht bestanden? Ist doch ganz einfach:
Für die Sitzverteilung werden, beginnend mit der erfolgreichsten nach Stimmenzahl sortiert, alle Stimmen der größten Wahlvorschläge berücksichtigt, bis die Zahl der so berücksichtigten Stimmen mindestens 95% aller gültigen Stimmen beträgt.

Beispiel für 1000 Stimmen, nach Größe sortiert:
Partei A: 330
Partei B: 291
Partei C: 118
Partei D: 94
Partei E: 74
Partei F: 47
Partei G: 31
Partei H: 15

Davon werden jetzt solange die Parteien berücksichtigt, bis mind. 950 Stimmen berücksichtigt sind. Daher muss man die Parteien A-F berücksichtigen, da ohne F nur 907, mit F 954 Stimmen berücksichtigt werden. Auf Basis dieser 954 Stimmen werden dann die Sitze verteilt. Die Parteien G und H gehen leer aus.
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Werner Fischer
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 07. Juni 2013 - 12:58 Uhr:   

Hier als reales Beispiel die Wahl 2009:

EU-Wahl 2009 Stimmenzahl %
26.333.444 (100%) Gültige Stimmen
8.071.391 (30,7%) CDU
5.472.566 (20,8%) SPD
3.194.509 (12,1%) GRÜNE
2.888.084 (11%) FDP
1.969.239 (7,5%) DIE LINKE
1.896.762 (7,2%) CSU
442.579 (1,7%) FW FREIE WÄHLER
347.887 (1,3%) REP
289.694 (1,1%) Die Tierschutzpartei
252.121 (1%) FAMILIE
229.464 (0,9%) PIRATEN
212.501 (0,8%) RENTNER
134.893 (0,5%) ödp
111.695 (0,4%) DVU
102.174 (0,4%) RRP
86.663 (0,3%) DIE FRAUEN
80.688 (0,3%) PBC
69.656 (0,3%) Volksabstimmung
68.578 (0,3%) 50Plus
57.775 (0,2%) DIE GRAUEN
55.779 (0,2%) BP
46.355 (0,2%) DIE VIOLETTEN
39.996 (0,2%) VOLKSENTSCHEIDE
39.953 (0,2%) CM
37.894 (0,1%) AUF
31.013 (0,1%) AUFBRUCH
30.885 (0,1%) FBI
25.615 (0,1%) DKP
14.708 (0,1%) Newropeans
11.772 (0%) EDE
10.909 (0%) BüSo
9.646 (0%) PSG

5% von 26.333.444 abgegebenen gültigen Stimmen ergibt 1.316.672 Stimmen, die durch diese Mindestschwelle höchstens wegfallen dürfen. Die Listen (von unten) PSG bis Rentner haben insgesamt 1.279.148 Stimmen erhalten und werden bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt.

Die Listen (von unten) PSG bis PIRATEN hätten insgesamt 1.508.612 Stimmen erhalten und damit mehr als 5%, deshalb nehmen die PIRATEN und alle Listen, die mehr Stimmen als sie erhalten haben, an der Sitzverteilung teil.

Hört sich komplizierter an, als es in einer Tabellenkalkulation zu berechnen ist. Dort braucht man nur alle Listen in Reihenfolge der erhaltenen Stimmen sortieren und dann von unten nach oben markieren, bis die 5%-Grenze erreicht ist - schon steht das Ergebnis fest.
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Jan W.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 07. Juni 2013 - 13:39 Uhr:   

Ich würde die Regelung eher als "Kumulierte 95%-Garantie" bezeichnen. Das Problem ist ja, dass die unverbindliche Bitte des Europaparlaments um Sperrklauseln nicht die grundgesetzliche Stimmrechtsgleichheit ersetzt.
Bei anderen Wahlen (Bund, Land) wäre die Regelung aber ein sehr sinnvoller Ersatz für die harte Hürde.

Bei der Bezeichnung "umgekehrte 5%-Klausel" musste ich zunächst an das hier denken ... ;)

Düsseldorf – Landeswahlleiterin Barbara Steffens hat das Ergebnis der Landtagswahl 2012 nach den Grundsätzen der homöopathischen Verhältniswahl neu festgestellt. SPD, CDU, Grüne, FDP und Piraten verfehlten danach deutlich die Einfahrt in den 5%-Tunnel. Unter den übrigen Parteien wurden die 237 Sitze gemäß der Hare-Niemeyer-Kehrwert-Methode neu verteilt. Klarer Sieger mit nur 6356 Stimmen ist demnach die Partei der Vernunft (PdV), sie erhält im neuen Parlament der XVIa. Legislaturperiode 49 Sitze. Der Landesvorsitzende
Martin Moczarski erklärte vor der Landespressekonferenz: “Wir danken den Wählerinnen und Wähler für ihr Misstrauen – das stellt für uns einen klaren Regierungsauftrag dar.”
Die Sitzverteilung insgesamt:
49 Partei der Vernunft
39 ÖDP
33 FBI/ Freie Wähler
30 AUF
29 BIG
17 FREIE WÄHLER
13 Die PARTEI
9 FAMILIE
8 NPD
5 Tierschutzpartei
3 pro NRW
2 DIE LINKE
Vertreter der ÖDP forderten bereits die Absenkung des 5%-Tunnels. Es könne nicht sein, dass wenig potentierte Splittergruppen wie NPD, Linke, proNRW und Tierschutzparteien mit Ergebnissen von teilweise deutlich über 0,5% die Mehrheitsbildung in der Volksvertretung unangemessen erschweren. Der frühere FDP-Fraktionsvorsitzende Lindner protestierte energisch, eine derartige Änderung würde den Wiedereinzug seiner Partei in den Landtag zwar nicht dauerhaft verhindern, aber gegebenenfalls den ersten Versuch erschweren.
Ansonsten feierten die Wahlsieger ihren Erfolg mit harten Spirituosen der Potenz D80.
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Migan
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Samstag, 08. Juni 2013 - 14:20 Uhr:   

Okay, jetzt hab ich es verstanden. Allerdings ist die Bezeichnung wirklich missverständlich. Ich dachte auch zuerst an so etwas wie von Jan gepostet.

@ Jan w.: :-)))))
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Jan W.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 08. Juni 2013 - 15:58 Uhr:   

@Migan
Ich bastle eigentlich noch am logarithmischen Version, erst so kommt das Gedächtnis des Stimmzettel-Papiers richtig zur Geltung ;)
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 08. Juni 2013 - 17:07 Uhr:   

Der einzige Vorteil der Beschränkung einer Sperrklausel auf einen bestimmten Wähleranteil ist, dass man damit das Risiko eines unkontrollierbaren Bürgerkriegs reduziert. Dafür würd es aber wahrscheinlich reichen, dass maximal 80% der Stimmen unberücksichtigt bleiben, was auf absehbare Zeit ohnehin gewährleistet ist.

Für den einzelnen Wähler, dem seine Stimme genommen wird, ist es ziemlich egal, wie viele noch betroffen sind. Die meisten werden sich wahrscheinlich eher besser fühlen, wenn sie nicht die einzigen sind, die ausgeschlossen werden. Bloß für den Rest ist es halt gefährlich, wenn man mehr unterdrückt, als man im Griff halten kann.

Wenn man nur die Wirkung je nach vorhandener Zersplitterung besser dosieren will, kann man zielgerichteter vorgehn. Sinnvoll wär z.B., wenn für die nt-stärkste Liste ein Quorum von (n-2)/360 gilt. Dann wird umso stärker gegengesteuert, je größer die Zersplitterung ist. Bei den Werten können im Extremfall maximal 20 Listen einen Sitz bekommen, und die Sperrwirkung kann nicht über 5% steigen. Nebeneffekt ist, dass das im Gegensatz zur üblichen Sperrklausel bei jedem Wahlergebnis funktioniert.

Wirklich sinnvoll ist aber auch das nur zusammen mit Alternativstimmen. Bei der Europawahl 2009 hätten damit noch die Freien Wähler das Quorum aus eigener Kraft geschafft; die Reps (und eventuell ein paar Andere) hätten eine Chance gehabt, wenn sie genügend Folgepräferenzen von Kleineren bekommen hätten.
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Jan W.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 08. Juni 2013 - 18:00 Uhr:   

@RL
Ja, bei n=20 trifft Ihre Formel genau die 5%, n/400 oder (n-4)/320 und zig weitere Kombinationen schaffen das genauso. Die Frage ist dann: welche Formel wird hier als fair erachtet. Sowohl die kumulierte Garantie als auch die fixe Hürde bieten einen festen Wert, Ihre "Flexihürde" würde möglicherweise aufgrund ihrer Schwammigkeit auf weniger Akzeptanz stoßen.

Ein Anwendungsbeispiel:
Bei der NRW-Wahl '12 schlug die 5%-Hürde zwischen Piraten (7,8%) und Linke (2,5%) zu. Nach der kumulierten Garantie wäre inkl. Linke ein Anteil von 95,7% erreicht. Sie hätte bei der Flexihürde mit 2,49% > 1,11% ebenso den Einzug geschafft wie proNRW (1,52% > 1,39%), stärkste gescheiterte Partei wäre die Tierschutzpartei mit 0,75% < 1,67%.
Überträgt man ein solches Ergebnis auf kleinere Länder mit kleineren Hausgrößen, gerät bei der Flexihürde die kleinste Partei dennoch in die Nähe einer faktischen Sperrklausel: sie droht auf 0 abgerundet zu werden.

Bei den Alternativstimmensystemen ist die Frage, welche Lösung man hier sucht. Eine verteilte Auszählung wie hierzulande üblich, lässt maximal das Modell der Londoner Bürgermeisterwahl zu: Hauptstimme, Ersatzstimme, Anwendung der Hürde auf die Hauptstimmen, Hauptstimmenwähler von Hürdenscheiterern nehmen Einfluss, wenn sie die Ersatzstimme einer >5%-Partei gegeben haben. Das macht die Hauptstimme ehrlicher und verringert das Einschüchterungspotential der Sperrklausel.
Mehrere Iterationen, in denen man solange die jeweils kleinsten Parteien streicht und ihrer Stimmen nach Alternativstimme umverteilt, bis die kleinste Partei eine solche ist, die die Sperrklausel überwindet, benötigen eine zentralisiertere Auszählung. Mehr als eine Meldung über den Rückkanal ist eher verteilten Wahllokalen nicht zumutbar.
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 08. Juni 2013 - 23:18 Uhr:   

Fair ist da alles oder nichts. Wenn man sowas will, geht es nicht um Fairness, sondern um Zweckmäßigkeit. Was man da genau nimmt, ist natürlich in starkem Maß willkürlich, wie halt auch die herkömmlichen 5%. Meine obige Formal hat aber eine sehr simple Motivation: Die -2 ergeben sich daraus, dass man im Allgemeinen schon gern mindestens 2 Parteien im Parlament hat (oder zumindest 1, was die normale Sperrklausel nicht gewährleistet); die maximal 5% haben historische Gründe.

Die näherliegende Frage ist, ob das Quorum linear mit der Zahl der Listen zunehmen sollte. Der Arbeitsaufwand steigt sicher stärker als linear; wenn man dem ein großes Gewicht gibt, müsste man wohl eher die Zahl der möglichen Permutationen zugrunde legen. Dann kann man aber einfacher und ohne großen Unterschied gleich die Zahl der erfolgreichen Listen absolut begrenzen. Wenn man davon ausgeht, dass nur Mehrheiten relevant sind, könnte man besser die Zahl der möglichen Koalitionen und deren Größen (in Anzahl der Beteiligten) zugrunde legen. Dann hat man aber eine recht komplexe Abhängigkeit von der konkreten Sitzverteilung; insbesondere wär eine Sperrklausel unnütz, wenn eine Liste eine absolute Mehrheit hat. Beim EuWG ist sowas aber genauso pervers wie die Mehrheitsklausel (die übrigens mit dem Gesetzentwurf funktionsfähig gemacht würde, wenn sie jemals einen Nutzen hätte; im Gegensatz zum BWG ist hier die neue Formulierung zumindest ansonsten brauchbar).

Dass ein Überwinden der Sperrklausel noch keinen Sitzanspruch garantiert, ist klar. Insbesondere wär mit obiger Formel bei der deutschen Europawahl die Hürde für die drittstärkste Liste weit unterhalb vom ersten Sitzanspruch. Und natürlich kann schon die zweitstärkste Liste ohne Sitz ausgehn, auch wenn für sie keinerlei explizite Hürde gilt (insbesondere regelmäßig dann, wenn nur 1 Liste antritt).


Bei Alternativstimmen braucht man keine komplett zentralisierte Auszählung, selbst wenn man rein von Hand auszählt. Mindestens die Erstpräferenzen kann man herkömmlich im Wahllokal auszählen. Für die Übertragungen kann man zentralere Auszählwahlvorstände bilden, wie etwa in diesem Gesetzentwurf zu IRV. Bei einer mäßigen Sperrklausel ist normalerweise nur ein sehr kleiner Teil der Stimmzettel betroffen. Wenn man bereit ist, Heuristiken anzuwenden (etwa aufgrund von Hochrechnungen; mit dem Risiko einer nötigen Neuauszählung bei Fehleinschätzungen), kann man auch schon einen Teil der Übertragungen von den herkömmlichen Wahlvorständen erledigen lassen. Noch einfacher wird es natürlich, wenn man die Hürde nur auf die Erstpräferenzen bezieht.
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Arno Nymus
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 09. Juni 2013 - 03:50 Uhr:   

Die Rang-Flexihürde hat das Problem, dass mit Ihr Parteispaltungen größerer Parteien systematische Vorteile bringen: Wenn eine 40% Partei sich aufspaltet und zwei etwa-20%-Parteien daraus hervorgehen, steigt der Rang jeder kleineren Partei um 1, dadurch auch ihre Flexihürde. Hierdurch werden potentiell mehr Parteien ausgeschlossen und die beiden 20%-Parteien bekommen systematisch einen größeren Sitzanteil als die vorherige 40%-Partei.
Für eine Regelung, deren Sinn und Zweck die Verhinderung der ParteienZersplitterung ist, ist so ein Effekt höchst ungünstig.
Man könnte dieses eine Problem wohl beheben, indem man die Höhe der Flexihürde nicht an der Anzahl der vorstehenden Parteien, sondern an der Summe derer Stimmanteile festmacht. ("Stimm-Flexihürde")

Bei der "kumulierten k%-Garantie"/"negative Sperrklausel" tritt der ungünstige Effekt auf, dass man mit einer Stimme für eine kleine Partei den direkten Konkurrenten stärken kann. Angenommen, Wähler A wählt die DKP; dadurch sinkt für die stimmstärkeren REPs die Hürde, die sie überwinden müssen, um Sitze zu bekommen.
Durch eine Stimme an eine kleine Partei unterstützt man dabei also potentiell die anderen kleinen Parteien auf Kosten der größeren Parteien. Wählt man eine Kleinstpartei, ist die Stimme für diese Partei zwar sinnlos, man verändert aber - in Bezug auf den Wählerwillen - willkürlich die Ergebnisse der anderen Parteien. (Dieses Problem würde auch bei der "Stimm-Flexihürde" auftreten, solange sie sich an der Zahl der Wähler und nicht der Zahl der Wahlberechtigten orientiert.)
Zum Vergleich: Bei einer normalen Sperrklauel ist die Wahl einer Kleinstpartei im Ergebnis gleichbedeutend mit einer Nichtwahl.

Die mehrstufige "IRV"-Alternativstimme halte ich für ungünstig: Sie führt all die unerfreulichen Nebeneffekte wie Monotonieverletzungen von IRV in das Wahlsystem ein, ist recht unpraktikabel im Auszählprozess und verursacht größere Konflikte zwischen Transparenz/Nachvollziehbarkeit der Wahl und dem Wahlgeheimnis.

Die einstufige Alternativstimme zur Ergänzung der Sperrklausel halte ich für eine praktikable und in den Effekten unproblematische Abschwächung der Nichtberücksichtigung von Wählermeinungen. Sie verringert also ein wenig die Ungleichbehandlung der Wähler - offensichtlich nicht aber die Ungleichbehandlung der Kandidaten. Ich weiß nicht mehr genau, welche der beiden Ungleichbehandlungen für das Urteil zu Sperrklauseln entscheidender war.

Freundliche Grüße,
Arno Nymus
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 09. Juni 2013 - 05:15 Uhr:   

Sinn wär nicht die Verhinderung von Zersplitterung, sondern deren Management. Dass dadurch ein Anreiz zu weiterer Zersplitterung entstehn kann, ist systembedingt. Wenn das Wahlverhalten stark differenziert ist, soll das ja gerade berücksichtigt werden. Das Problem ist, dass ein wertungsfreies Verfahren nicht unterscheiden kann, ob die Zersplitterung von den Wählern oder den Kandidaten gesteuert wird.

Wenn man auf den kumulierten Anteil der größeren (oder gleichwertig der kleineren) Listen abstellt, hat man was deutlich Anderes. Damit bestraft man einfach relative Kleinheit und bewertet nicht die Arbeitsfähigkeit der resultierenden Konstellation. Zusammen mit Alternativstimmen wär das eine bedenkenswerte Möglichkeit, aber eine Version, die für die Wähler mit Erfolgswertverlust verbunden ist, kann man damit nicht besser rechtfertigen als eine herkömmliche Sperrklausel. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in der Anfangszeit auch die Bestrafung der Wähler als legitimes Ziel einer Sperrklausel gesehn, aber das ist (zurecht) aus den neueren Entscheidungen verschwunden.

Ist mit "einstufig" gemeint, dass der Wähler nur 1 Alternativstimme hat, oder dass das Quorum allein aufgrund der Erstpräferenzen ermittelt wird? Im ersteren Fall verringert sich bloß die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wähler seine Stimme verliert (ähnlich wie beim Vorschlag aus dem Ausgangsposting), was ich nicht für ausreichend halt. Im letzteren Fall wär es durch das wesentlich vereinfachte Handling ohne substanzielle Einschränkung für den Wähler begründbar; abstrakte Monotonieeigenschaften halt ich dagegen für weitgehend irrelevant.

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts waren die Gleichheit der Wähler und die der Kandidaten ungefähr gleichrangig. Man kann aber ohne Weiteres davon ausgehn, dass sie sich nicht bewusst sind, dass beide Aspekte sehr unterschiedliche Konsequenzen haben. Man könnte analog zu den Alternativstimmen auch Alternativkandidaturen für die Bewerber einführen, aber das wär so gut wie sicher praktisch irrelevant. Wobei das auch noch nichts hilft, falls das Bundesverfassungsgericht allein die Chancengleichheit der Parteien als Institutionen als Hindernis für eine Sperrklausel sieht (wobei "Chancengleichheit" eh begrifflich fehlerhaft ist; die Chancen sind ja gleich, bloß der proportionale Erfolgsanteil nicht).
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Werner Fischer
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 09. Juni 2013 - 11:36 Uhr:   

Bitte zurück zum Thema - siehe ganz oben. Andere Wahlsysteme sollte man in eigenen Rubriken erörtert.
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Good Entity
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Montag, 10. Juni 2013 - 00:20 Uhr:   

@Werner Fischer:

Sowohl Arno Nymus im zweiten Absatz des 03:50 Postings als auch Ratinger Linke im zweiten Absatz des 05:15 Postings beschäftigen sich allerdings exakt mit Deinem Vorschlag einer Art kumulierenden Garantie oder umgekehrten Hürde oder wie immer man das nennen will. Die sind schon noch genau beim Thema.

Abgesehen von der erneuten Beobachtung, dass die Stammuser dieses Forums eindeutig nachtaktiv sind (oder vorgeprägte Nerds, die mitten in der Nacht der unwiderstehliche Drang überfällt, hier etwas zu posten), fällt mir tatsächlich auch das von Arno Nymus beobachtete Paradoxon bei dem Vorschlag auf. Eine Stimme für die NPD unterstützt nebenbei die Aussichten der Piraten und ebenso auch umgekehrt. Normalerweise ist es ja genau umgekehrt: Jede Stimme für eine beliebige (auch kleine) Partei senkt die Chancen aller anderen Parteien, die 5 % zu überspringen.

So nebenbei gibt das Konzept auch einen Anreiz unter den kleinen Parteien zu Fusionen mit anderen noch kleineren Parteien, um vielleicht an einem Konkurrenten vorbeizuziehen und diesem doch noch das letzte Mandat wegzunehmen. Aber dieses Ziel wäre ja vielleicht durchaus erwünscht und auch jetzt schon könnten etwa die Grünen bei einer Fusion mit der ödp vielleicht ganz normal schon ohne das WernerFischersche Konzept das ein oder andere Mandant dazugewinnen - sofern die Wähler mitziehen und nicht absehbare Fliehkräfte alles sofort wieder sprengen. In dem Fall Grüne/ödp würde auch der bekannte Parteienklebstoff Marke "Gysi" wenig helfen.
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Montag, 10. Juni 2013 - 03:33 Uhr:   

In meinem vorigen Posting war zwar die "Stimm-Flexihürde" von @Arno Nymus gemeint, aber trotzdem bin ich nicht der Meinung, unmäßig vom Thema abgewichen zu sein. Vor dieser Metadiskussion hat es hier wohl wenige Threads gegeben, die so konzentriert am ursprünglichen Thema bleiben wie dieser (ganz zu schweigen von den ganzen Vereinsgefrusteten, die sich sofort gierig auf das erste Texteingabefeld stürzen, das ihnen eine Suchmaschine vorwirft).

Dass im Originalvorschlag NPD-Stimmen den Piraten helfen oder umgekehrt, ist wohl auch systembedingt und -konform. Es sollen ja möglichst viele Stimmen berücksichtigt werden, und so hat halt jede Stimme auch für die ganz Kleinen ihre Wirkung (sofern die Parteien unter 5% zusammen mindestens 5% haben). Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehn und die Sitze, die normalerweise auf die untersten knapp 5% entfallen würden, an die verteilen, die dadurch über die Hürde gehoben worden sind. Damit ist das Risiko, dass man 1-Sitz-Parteien im Parlament hat, gleich deutlich kleiner.

Auf die Gefahr hin, des Abschweifens vom Thema bezichtigt zu werden, möchte ich noch darauf hinweisen, dass das ganz ähnlich schon Siegfried Geyerhahn, der Erfinder des personalisierten Verhältniswahlrechts mit Einerwahlkreisen, vorgeschlagen hat. Demnach wären sämtliche Einzelkandidaten in einen Topf geschmissen worden und hätten zusammen ihren proportionalen Anteil gekriegt, wobei die Sitze an die stmmenstärksten davon gefallen wären. In dem Fall würd ich das sogar für sinnvoll halten, wenn man schon unbedingt meint, Einzelkandidaten zulassen zu müssen (die Sperrklausel war damals noch nicht erfunden, geht aber auch mit).

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