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Archiv bis 11. November 2011

Wahlrecht.de Forum » Wahlsysteme und Wahlverfahren » Europawahl in Deutschland / Europawahlen in den EU-Mitgliedstaaten » Einspruch gegen die Europawahl » Archiv bis 11. November 2011 « Zurück Weiter »

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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 09. November 2011 - 13:21 Uhr:   

Heißt "Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen, wobei das Ergebnis von einem Mitglied des Senats aus abweichenden Gründen mitgetragen wird", dass Letzterer bei den 5 dabei ist? Das würde heißen, dass das Urteil als Ganzes gar keine Mehrheit im Bundesverfassungsgericht hat.
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Wilko Zicht
Moderator
Veröffentlicht am Mittwoch, 09. November 2011 - 13:26 Uhr:   

Ja, entscheidend ist aber der Tenor, und der wird von fünf Richtern getragen.

Man darf übrigens getrost davon ausgehen, dass die dritte Gegenstimme von Landau stammt.
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 09. November 2011 - 15:53 Uhr:   

Leider schließt das Urteil wohl eine Sperrklausel mit Alternativstimmen aus, was die Chance geboten hätte, das auf die Dauer auch auf Bundestags- und Landtagswahlen zu übertragen. Das würde zwar die Erfolgswertgleichheit wahren, aber nichts an der angeblich verletzten Chancengleichheit der Parteien ändern. Wobei es ziemlich absurd ist, aus dem Gleichheitsgrundsatz eine Proportionalität zu folgern, deren Träger ganz andere Subjekte (nämlich die Wähler) sind.

Zu den geschlossenen Listen gibts gar keine Aussage. Das Bundesverfassungsgericht hält die Frage wohl für völlig belanglos, wenn sie sie von Arnim auch nur mit 1/4 bei den Kosten anrechnet.

Zu den Piraten gibts auch im eigentlichen Urteil eine Aussage:

"Vielmehr ist gerade auch auf europäischer Ebene die Offenheit des politischen Prozesses zu wahren. Dazu gehört, dass kleinen Parteien die Chance eingeräumt wird, politische Erfolge zu erzielen. Neue politische Vorstellungen werden zum Teil erst über sogenannte Ein-Themen-Parteien ins öffentliche Bewusstsein gerückt."

Das Sondervotum ist äußerst krass. Da muss man wirklich froh sein, dass die beiden Richter nichts mehr zu dem Thema entscheiden werden. Beim Überhang kann man davon ausgehn, dass sie dafür eingetreten wären, auch noch die vom Bundesverfassungsgericht bisher gesetzten Grenzen zu kippen; das vom Gericht geäußerte Bedürfnis, über die Überhangmandate erneut zu entscheiden, muss man wohl auch unter diesem Gesichtspunkt sehn. Ein vom Bundesverfassungsgericht angeordnetes Bundestagswahlrecht wär nach ihrer Ansicht sicher ein Grabensystem geworden.

Krass auch diese Aussage:

"Differenzierungen des Zählwertes beispielsweise nach Geschlecht, Familienstand oder Konfession untersagt der Grundsatz der Gleichheit der Wahl generell, während er andere Differenzierungen, etwa nach dem Alter im Hinblick auf die Reife und Einsichtsfähigkeit von Heranwachsenden, erlaubt oder sogar gebietet (Art. 38 Abs. 2 Halbsatz 1 GG)."

Umgekehrt heißt das aber auch, dass die Risiken für das nächste Urteil zum Bundestagswahlrecht nach dem Ausscheiden von Mellinghoff und Di Fabio geringer werden.
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Robert Jasiek
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 09. November 2011 - 17:28 Uhr:   

@Ratinger Linke:

Warum findest du es absurd, aus dem Gleichheitsgrundsatz eine Proportionalität zu folgern, deren Träger die Wähler sind? Ich kann nicht folgen, worauf du hinaus willst.

Soweit ich es der Pressemitteilung entnommen habe, finde ich beim Sondervotum - auch wenn ich persönlich anderer Meinung bin - zumindest ein Argument überzeugend: Dass man aus dem GG-Wahlgleichheitsgrundsatz nicht einerseits Mehrheitswahlrecht mit über 50% Stimmen ohne Erfolgswert zulassen und gleichzeitig argumentieren kann, dass man nur fürs Verhältniswahlrecht einen eigenen Gleichheitsmaßstab anlegen könne. Eine solche Bundesverfassungsgerichtsrechtssystematik ergibt sich nämlich nicht aus dem Wortlaut des GG, sondern man macht das Axiom, dass man erst verschiedene Wahlsystemklassen auflisten und erst anschließend spezialisierte Gleichheitsbegriffe einführen dürfe. Art. 38 ist bekanntlich mehrdeutig; es besteht a priori die Frage, ob man Absatz (3) Vorrang einräumt und dem Gesetzgeber erst das Setzen einer Wahlsystemklasse erlaubt, bevor man den Gleichheitsgrundsatz aus Absatz (1) dann nur auf die schon gewählte Wahlsystemklasse anwendet. Wenn man es nämlich umgekehrt tut, dann kann man Di Fabio und Mellinghof in diesem Punkt verstehen.

Die zweite von dir zitierte Aussage halte auch ich für (mehr als) krass.

@alle:

Wer mit vollem Namen ist denn der Antragsteller "S." zu 1. im Urteil?

Habe ich das richtig mitbekommen, dass "C." zu 3. der hier bekannte Matthias Cantow ist? Gratulation!
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Wilko Zicht
Moderator
Veröffentlicht am Mittwoch, 09. November 2011 - 18:27 Uhr:   

Bei dem Beschwerdeführer zu 1. handelt es sich um Guido Strack. Siehe auch http://guido-strack.de/EU-Wahl/

Der Beschwerdeführer zu 3. ist in der Tat Matthias Cantow von Wahlrecht.de.
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 09. November 2011 - 18:27 Uhr:   

Bei der Chancengleichheit der Parteien, so wie sie vom Bundesverfassungsgericht betrachtet wird, geht es ja nicht wirklich um eine Chancengleichheit (das würde bedeuten, dass alle die grundsätzlich gleiche Chance haben, die Sperrklausel zu überwinden), sondern um eine gezielte Ungleichbehandlung gemäß der Stimmenzahl. Um zu so einem Ergebnis zu kommen, muss man aber die Stimmen als Eigentum der Parteien betrachten oder Ähnliches. Die relevanten Träger der Gleichheit bezüglich der Stimmen sind aber ausschließlich die Wähler, die ihre Stimmen nicht einfach den Parteien zur beliebigen Verfügung übertragen.

Ich gehör selber zu den Wählern, die bei der Europawahl eine Liste gewählt haben, die bloß wegen der Sperrklausel keinen Sitz bekommen hat. Ich hab aber überhaupt kein Interesse daran, dass sie einen Sitz bekommt, solang sie keinen adäquaten Rückhalt unter den Wählern hat (ob das gerade 5% sein müssen, ist eine andere Frage), sondern will nur, dass meine Stimme berücksichtigt wird wie die anderen auch. Dazu kann ich mich problemlos für eine der relevanteren Listen entscheiden. Bloß wird mir die Möglichkeit dazu bisher nicht geboten. Man kann auch die Zulassungshürden radikal anheben, so dass einige der weniger relevanten Listen von vornherein gar nicht zur Wahl stehn.

Dass man ziemlich beliebige Wahlsysteme zulässt, wenn man der Meinung ist, dass ein Mehrheitswahlrecht auch heute noch den Wahlrechtsgrundsätzen entspricht, ist schon konsequent, aber die Voraussetzung dabei halt ich halt nicht für gegeben. Solang das Bundesverfassungsgericht die Mehrheitswahl als Möglichkeit nicht fallen lässt, andererseits das Wahlrecht aber auch nicht der völligen Beliebigkeit preisgeben will, sind halt ziemliche Verwindungen nötig. Sowas ist bei Gerichten aber auch nicht allzu unüblich.

Wer S. ist, lässt sich aus diesem Thread leicht vermuten. Es gibt aber noch mehr Kläger zu dem Thema, wo heute noch keine Entscheidung gefallen ist (vermutlich deshalb, weil es da auch noch um Anderes geht).
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Marc K.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 09. November 2011 - 20:23 Uhr:   

Das Urteil ist eine konsequente Fortsetzung von BVerfG, 2 BvK 1/07 vom 13.2.2008 (http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ks20080213_2bvk000107.html), mit der das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der 5%-Hürde bei Kommunalwahlen festgestellt hatte.
Ich persönlich habe schon diese Entscheidung für falsch gehalten. Es steht dem Gesetzgeber aus meiner Sicht zu Modifikationen an einem Wahlsystem vorzunehmen. Dazu gehört auch die Einführung einer Sperrklausel.

Das BVerfG war bis zu seinen Entscheidungen zu den Kommunalwahlen auch dieser Auffassung. Es hat in Bezug auf das Europäische Parlament 1979 die Verfassungsmäßigkeit der 5%-Hürde festgestellt. Dass das BVerfG 2011 anders entscheidet zeigt nur, dass die Mehrheit des BVerfG einen anderen Prüfungsmaßstab anlegt. Das BVerfG setzt sich dabei praktisch nicht mit seiner anders lautenden Entscheidung aus dem Jahr 1979 auseinander. Auch geht es nicht auf den Unterschied zwischen einer Gemeindevertretung, Stadtverordnetenversammlung bzw. eines Kreistags mit dem Europäischen Parlament ein. Bei ersteren handelt es sich um Exekutivorgange, während das Europäische Parlament ein Legislativorgan ist, das im Laufe der Zeit mehr und mehr Kompetenzen erhalten hat und in Zukunft wahrscheinlich noch mehr Einfluss haben wird.
Im Ergebnis wird vom Bundesverfassungsgericht das Europäische Parlament damit wie eine Gemeindevertretung behandelt und nicht auf die selbe Stufe wie der Bundestag oder auch nur ein Landtag gestellt.
Angesichts des restriktiven Prüfungsmaßstabs in dieser Entscheidung muss man auch die Frage stellen, inwieweit bei diesem Maßstab noch die 5%-Hürde für die Landtage und den Bundestag rechtfertigt werden kann.
Das GG hat schließlich auch Vorkehrungen dafür getroffen, was passiert, wenn es keine stabile Mehrheiten im Bundestag gibt. Auch ist schließlich konkret betrachtet auch keineswegs überwiegend wahrscheinlich, dass keine Mehrheitsbildung mehr möglich ist. Gegenwärtig erscheint eine Schwarz-Grüne Koalition möglich zu sein (auch ohne 5%-Hürde). Und auch die beiden großen Parteien sind schließlich miteinander koalitionsunfähig.
Der Umstand, dass das BVerfG in diesem Urteil statt der Betrachtung des abstrakten Risikos auf die konkreten Umstände abstellt führt zur Rechtsunsicherheit. Es ist nicht klar, welche Umstände denn nun vorliegen müssen, um die 5%-Hürde zu rechtfertigen. Auch kann sich das je nach den Umständen ändern. Die 5%-Hürde für das Europaparlament könnte u.U. nach diesen Urteilen verfassungsgemäß sein, wenn das Europaparlament mehr Kompetenzen erhielte oder künftig ein Antagonismus Regierung-Opposition entstehen würde.
Alles in allen hat sich die Rechtsprechung des BVerfG von der klaren Position - Verfassungsmäßigkeit der 5%-Hürde - zu einer unklaren Position gewandelt, die anhand tagesaktueller Verhältnisse die Verfassungsmäßigkeit einer Sperrklausel bewertet. Rechtssicherheit wirde damit durch Rechtsunsicherheit ersetzt. Und das Europäische Parlament - das in weiten Teilen die Gesetzgebung von Bundestag und Landtagen durch Vorgaben bestimmt - wird mit einer Kommunalvolksvertretung - einem bloßen Exekutivorgan der untersten Ebene, dass keine Gesetzgebungsbefugnisse hat, sondern nur im Rahmen der Gesetze handelt, die übergeordnete Ebenen erlassen (Landesrecht, Bundesrecht, Europarecht) - gleich behandelt, statt mit Bundestag und Landtagen. Das ist auch kein gutes Signal an Europa.
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Robert Jasiek
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 09. November 2011 - 21:43 Uhr:   

Das Gericht folgt seiner Linie, dass es ihm immer vorbehalten bleiben muss, überhaupt je nach aktueller Lage die (Nicht)Verfassungsmäßigkeit einer Hürde neu zu bewerten.

Es setzt das Europaparlament keineswegs auf eine Stufe mit einem Kommunalparlament, sondern differenziert die verschiedenen Volksvertretungen je nach deren Machtausprägung. Siehe dazu auch das Lissabon-Urteil (das Europaparlament ist kein Organ einer vollwertigen Demokratie und darf es auch nicht sein); andererseits hat es immerhin Teilhabe an der beschließenden Legislative usw. Die Bedeutung liegt also grob gesagt zwischen Kommunalparlament und Bundestag.
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Matthias Cantow
Moderator
Veröffentlicht am Mittwoch, 09. November 2011 - 23:08 Uhr:   

@Robert Jasiek
Gratulation!

Danke schön!

Vielen Dank – auch im Namen von Guido Strack – an die mehrere Hundert Wahlberechtigte, die den Beschwerden beigetreten sind.
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Marc K.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 10. November 2011 - 17:41 Uhr:   

@Robert Jasiek,

von einer konsequenten Linie kann man nicht sprechen. Das BVerfG hat 1979 die 5%-Hürde bei der Europawahl für verfassungsgemäß erklärt und 2011 für verfassungswidrig. Seitdem hat die Bedeutung des Europaparlaments zugenommen - und nicht abgenommen. Von daher gibt es - sofern man überhaupt sich die Argumentationslinie des BVerfG zueigen macht - heute eine größere Rechtfertigung für die 5%-Hürde als 1979, als das BVerfG sie noch für verfassungsgemäß erklärt hat.
Das BVerfG hat seine Linie gerade verändert, indem es statt auf die abstrakte Gefahr einer Parteienzersplitterung abzustellen aktuelle Erwägungen bzgl. des Risikos einer Zersplitterung und dem Gewicht dieser Risiken anstellt. Diese Argumentation ist von Zweckmäßigkeitserwägungen nicht mehr zu unterscheiden. Ob eine Regelung zweckmäßig ist oder nicht, ist aber eine politische Entscheidung, die dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorbehalten ist. Das BVerfG hat über die Verfassungsmäßigkeit - also die Rechtmäßigkeit - zu entscheiden und nicht darüber, ob eine Regelung tagesaktuell zweckmäßig ist oder nicht (was sich schließlich schnell ändern kann). Der historische Verfassungsgeber hatte bei Einführung von Art. 38 GG zweifellos nicht daran gedacht, durch die Einführung des Grundsatzes der Wahlgleichheit Sperrklauseln zu verbieten. Das GG schreibt ja noch nicht mal ein bestimmtes Wahlsystem vor. Auch ein Mehrheitswahlrecht wäre verfassungsgemäß (so auch das Merheitsvotum).
Von daher stellt sich schon die Frage, wieso ein Verhältniswahlrecht mit 5%-Klausel verfassungswidrig sein soll. Eine plausible Antwort bleibt das BVerfG schuldig. Die Kriterien nach den sie das für das jeweilige gewählte Organ begründen sind vage und diffus.
Bezüglich der Kommunalvolksvertretungen hat das BVerfG argumentiert, dass diese nur Teil der Verwaltung, also der Exekutive, seien. Des weiteren gebe es als weiteres Gemeindeorgan den Bürgermeister bzw. Oberbürgermeister (in Hessen ist das andere Organ der Gemeindevorstand bzw. Magistrat (Magistratsverfassung)), das für die laufenden Geschäfte zuständig sei. Dieses sei durch die Einführung von Direktwahlen für den Bürgermeister bzw. Oberbürgermeister auch nicht mehr auf die Gemeindevertretung angewiesen um gewählt zu werden und könne auch im Fall einer Blockade in der Gemeindevertretung die laufenden Geschäfte der Gemeinde wahrnehmen.

Auf europäischer Ebene ist die Lage anders.
Der Präsident der Europäischen Kommission wird vom Europäischen Rat vorgeschlagen und muss vom Europäischen Parlament bestätigt werden. Danach werden die einzelnen Kommissare bestimmt und dann muss nochmals die gesamte Kommission vom Europäischen Parlament bestätigt werden. Hierbei ist es durchaus möglich, dass einzelne Kandidaten ausgetauscht werden, weil das Parlament sie nicht akzeptiert. Zwar gibt es keine europäische Regierung - es gibt auch keine europäischen Superstaat - jedoch übt die Europäische Kommission Exekutivaufgaben aus. Sie hat darüber hinaus ein Initiativrecht für Richtlinien und Verordnungen (mit ganz wenigen Ausnahmen). Ohne die Kommission geht von daher in Europa nichts. Und ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments kann eine neue Kommission nicht ins Amt kommen.

Von daher ist bei Heranziehung der Maßstäbe die das BVerfG im Fall der Kommunalvolksvertretungen angelegt hat das gestrige Urteil fragwürdig.
Insgesamt zeigt das Urteil auch eine Tendenz die Rolle des Europäischen Parlaments klein zu reden.
Tatsache ist, dass die Bedeutung des Europäischen Parlaments seit 1979 massiv zugenommen hat. Wenn man überhaupt die Bedeutung eines Organs für wesentlich hält für die Frage der 5%-Hürde - was das BVerfG offenkundig tut - dann wäre es plausibel gewesen 1979 die 5%-Hürde für verfassungswidrig, die 5%-Hürde 2011 aber für verfassungsmäßig zu erklären und nicht umgekehrt.

Das Europäische Parlament wurde durch den erst am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon massiv gestärkt. Es ist im Regelfall gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Rat und er wählt und kontrolliert die Kommission - das Exekutivorgan der supranationalen Organisation Europäische Union. Funktional gleicht seine Aufgabe somit der eines nationalen Parlaments - wie dem Bundestag oder Landtag.
Von daher ist das Europäische Parlament gerade nicht mit einer Gemeindevolksvertretung auf eine Stufe zu stellen.
Ohne funktionsfähiges europäisches Parlament ist die Wahl einer neuen Kommission nicht möglich und die Institutionen der Europäischen Union können paralysiert werden. Eine aufgrund Zersplitterung funktionsunfähige Gemeindevertretung führt hingegen nicht zu einer Paralysierung der Gemeinde, da der Bürgermeister bzw. Oberbürgermeister durch Direktwahl bestimmt wird und die laufende Geschäfte der Verwaltung tätigen kann, ohne Zustimmung der Gemeindevertretung.
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Ralf Lang
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 10. November 2011 - 19:36 Uhr:   

Du hast gar nicht ausgeführt, wie eine Zersplitterung der deutschen Delegation das EP lahmlegen könnte bzw wie eine rein deutsche Regelung dies verhindern könnte. Im Gegenteil sind doch aus vielen Ländern viele Parteien mit oft nur wenigen Hanseln vertreten oder Einzelkämpfern und es tut trotzdem.
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 10. November 2011 - 19:59 Uhr:   

Dass die Bedeutung des Europaparlaments zugenommen hat, ist doch praktisch so gut wie irrelevant. Die Bedeutung ist immer noch nahe null. Was in vielen Kommentaren zum Urteil gesagt wird, heißt doch praktisch nur, dass man die Sperrklausel gern dazu missbrauchen würde, ihm über diesen Weg eine virtuelle Bedeutung zuzumessen, die man so gern sehn würde, die aber nicht existiert.

Die Bedeutung eines Parlaments ist für die Sperrklausel sowieso ziemlich irrelevant. Die Frage ist nur, ob es so strukturiert ist, dass eine aus einer fehlenden Sperrklausel resultierende Zersplitterung real Folgen für die Arbeitsfähigkeit hat (wobei es auch noch mildere Mittel als die unbedingte Sperrklausel gibt). Das wär beim Europaparlament auch dann so gut wie gar nicht der Fall, wenn es was zu sagen hätte. Und wenn es Folgen hat, ist noch die Frage, ob der Eingriff in die Wahlgleichheit dadurch gerechtfertigt ist. Bloß dazu, den Abgeordneten einen gemütlichen Sitzplatz ohne die Notwendigkeit zur politischen Auseinandersetzung zu garantieren, jedenfalls nicht.

Was sich seit 1979 wirklich geändert hat, ist, dass es inzwischen verhältnismäßig starke europäische Parteien oder zumindest Fraktionen gibt, in die der größte Teil der nationalen Parteien eingebunden ist. Das gilt auch für etliche der deutschen Splitterparteien, die zwar in Deutschland schwach sind, aber anderswo relativ stark. Die Zahl der nationalen Parteien war noch nie besonders relevant und ist es heute weniger als zuvor.

Außerdem sind die deutschen Splitterparteien im europäischen Maßstab nicht wirklich klein. In den kleinen Ländern reichen teilweise 30'000 Stimmen für einen Sitz, was ungefähr das Niveau der DKP ist, die auch ohne Sperrklausel sehr weit von einem Sitz weg ist. Was in Deutschland die ÖDP mit 0,5% der Stimmen hat, wär anderswo teilweise die absolute Mehrheit mit zumindest 3 Sitzen.
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Marc K.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 10. November 2011 - 20:08 Uhr:   

@Ralf Lang,

1. Ermächtigt das Europarecht die Mitgliedsstaaten zu einer Sperrklausel von 5%.
2. Haben verschiedene Länder durch ihr Wahlverfahren faktische Sperrklauseln.
3. Haben viele Länder aufgrund ihrer niedrigen Sitzzahl eine hohe natürliche Sperrklausel (von vielfach über 5%).
Das Gerede von 162 Parteien verdeckt, dass dies 27 sozialdemkokratische, konservative, Liberale bzw. Grüne Parteien sind, die sich mehr oder weniger leicht zu Fraktionen zusammenraufen können. Dies wäre beim Aufkommen von mehr Splitterparteien nicht anders.

Das Argument, dass Deutschland nur für sein Kontigent Einfluß hat und das daher eine Abschaffung der Sperrklausel nur wenig Auswirkungen habe, ist ein Scheinargument. Natürlich kann der deutsche Gesetzgeber nur sein Wahlrecht für das Europaparlament bestimmen. Die Senatsmehrheit verkennt und ignoriert andere Formen von Hürden in anderen Ländern (z.B. durch Aufteilung in Wahlgebiete, u.v.m. bis hin zu natürlichen Sperrklauseln).
Wenn jeder Staat sich der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts anschlösse, wäre das Europäische Parlament völlig zersplittern.
"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Den Kategorischen Imperativ von Kant hätte sich das BVerfG vor Augen führen müssen. Dann würde es das Europäische Parlament nicht anders behandeln als Bundestag und Landtage.
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Thomas Frings
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 10. November 2011 - 21:31 Uhr:   

@Robert Jasiek
"Das Gericht folgt seiner Linie, dass es ihm immer vorbehalten bleiben muss, überhaupt je nach aktueller Lage die (Nicht)Verfassungsmäßigkeit einer Hürde neu zu bewerten."
Nein. Die Argumente, die heute aus Sicht des Gerichts gegen die 5%-Hürde sprechen, taten das auch schon 1979 und wurden auch schon damals von den Beschwerdeführern vorgebracht. Auch bei der damaligen 9er-EG war absehbar, dass sehr viele Parteien im Europäischen Parlament vertreten sein werden. 1979 war nur die erste Direktwahl, das EP gab es schon vorher. Die heutigen Richter haben die 5%-Hürde nicht im Lichte neuer Erkenntnisse überdacht, sondern haben schlicht eine andere Auffassung als die damaligen Richter, was man aber natürlich nicht so darstellen will.

@MarcK
Man sollte sich nicht selbst widersprechen.
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Wilko Zicht
Moderator
Veröffentlicht am Donnerstag, 10. November 2011 - 22:40 Uhr:   

@Marc K.
"Der historische Verfassungsgeber hatte bei Einführung von Art. 38 GG zweifellos nicht daran gedacht, durch die Einführung des Grundsatzes der Wahlgleichheit Sperrklauseln zu verbieten."

Das kann man so nicht sagen. Im Parlamentarischen Rat hatte der Antrag, im Grundgesetz dem Gesetzgeber ausdrücklich die Möglichkeit einzuräumen, optional eine Sperrklausel vorzuschreiben, keine Mehrheit gefunden. Das vom Parlamentarischen Rat schließlich verabschiedete Wahlgesetz zum 1. Deutschen Bundestag enthielt dementsprechend keine Sperrklausel. Diese wurde erst von den Ministerpräsidenten der Länder ins Wahlgesetz eingefügt und dann von Alliierten abgesegnet.

Ich stimme dir zu, dass auf Grundlage des Prüfungsmaßstabs des gestrigen Urteils die Sperrklausel im Europawahlgesetz auch 1979 schon bzw. erst recht verfassungswidrig war. Ich bin mir sicher, das sehen die heutigen Richter auch so. Aber weil sie den Prüfungsmaßstab modifiziert haben, mussten sie das nicht klar aussprechen.

Ich teile auch die Kritik an der Rechtsprechung, nach der ein Mehrheitswahlrecht verfassungsgemäß sein soll, bei einem Verhältniswahlrecht mit wesentlich geringeren Proporzverzerrungen aber teilweise ein Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit festgestellt wird. Immerhin erwähnt die gestrige Urteilsbegründung die angebliche Verfassungsmäßigkeit der Mehrheitswahl nicht mehr ausdrücklich. Möglicherweise (und hoffentlich) spricht das für eine Tendenz im Zweiten Senat, dem Grundsatz der gleichen Wahl nach heutigem Rechtsverständnis ein Gebot zur Verhältniswahl zu entnehmen. Dass nun aber ausgerechnet Mellinghoff, der als Berichterstatter maßgeblich am bisherigen Festhalten an der ständigen Rechtsprechung verantwortlich war, deren Widersprüchlichkeit kritisiert, hat eine gewisse Ironie.

Im Prinzip wäre es für den Bundestag übrigens ein Leichtes, mit den Stimmen von Union, FDP und SPD Artikel 23 um einen Absatz zur Europawahl zu ergänzen und dem Gesetzgeber zum Beispiel ein Verhältniswahlrecht mit Fünfprozenthürde zwingend vorzuschreiben. Allerdings würde die SPD wahrscheinlich im Gegenzug das gleiche für Artikel 38 fordern (inkl. Überhangausgleich).
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Marc K.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 10. November 2011 - 22:57 Uhr:   

@Thomas Frings,

nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zum Kommunalwahlrecht war diese Entscheidung zu erwarten. Zwingend war sie dennoch nicht, da zwischen Europaparlament und Kommunalvolksvertretungen doch einige Unterschiede bestehen (Exekutivorgan - Legislativorgan).

Ich babe im übrigen dargelegt, dass ich diese Entscheidung schon für falsch hielt. Das Bundesverfassungsgericht schon durch die Kommunalentscheidung seine Linie bezüglich der 5%-Hürde geändert. Mit der Europawahlentscheidung ist diese Veränderung offenkundig: 1979 5%-Hürde verfassungsgemäß, 2011 soll sie auf einmal verfassungswidrig sein, obwohl sich das Grundgesetz in dem Punkt nicht geändert hat.
Nun würde ich gerne erklärt bekommen, wie das Bundesverfassungsgericht die 5%-Hürde für Bundestag und Landtage weiter rechtfertigen möchte.
Oder wird es in einigen Jahren seine Rechtsprechung zum Europaparlament wieder ändern, weil es endlich erkannt hat, dass die Europäische Kommission eine machtvolle Exekutivgewalt ist und das Europäische Parlament auch ein Parlament - und nicht auf die Stufe einer Kommunalvolksvertrung zu stellen ist?
Oder stellt es sich künftig hin und vergleicht - wie in dieser Wahlentscheidung - alte Wahlergebnisse unter 5%-Klausel, um dann zu konstatieren, dass die Abschaffung keine massive Zersplitterung bedeuten würde? Oder wendet es unterschiedliche Standards an: Die abstrakte Gefahr der Zersplitterung und damit der Handlungsunfängigkeit im Fall von Bundestag und Landtagen und im Fall des Europaparlaments konkret-tagesaktuelle politische Spekulationen? Es wird auf Dauer nicht gehen mit zweierlei Maß zu messen.
Die Argumentationslinie des Bundesverfassungsgericht ist inkonsequent und inkohärent. Wenn man die demokratische Repräsentativität so hoch gewichtet - wie es diese Entscheidung tut, dann passt es nicht zusammen andererseits ein Mehrheitswahlsystem für verfassungsgemäß zu halten (was die Senatsmehrheit aber tut).
Dann muss es dem Gesetzgeber aber auch möglich sein, jenseits der "reinen" Systeme Mischungen einzuführen - sei es in Form eines Grabenwahlsystems oder eines Verhältniswahlsystems mit Sperrklausel.
Die einzige Grenze für den Gesetzgeber ist hier die Willkürgrenze, ansonsten muss der demokratische Gesetzgeber frei sein in der Ausgestaltung des Wahlsystems.
Hier setzt sich ein Gericht an die Stelle des demokratischen Gesetzgebers. Die Kritik des Minderheitenvotums in dem Punkt teile ich völlig....
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Ralf Lang
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 10. November 2011 - 23:27 Uhr:   

"Das Gerede von 162 Parteien verdeckt, dass dies 27 sozialdemkokratische, konservative, Liberale bzw. Grüne Parteien sind, die sich mehr oder weniger leicht zu Fraktionen zusammenraufen können. Dies wäre beim Aufkommen von mehr Splitterparteien nicht anders"

Eben. Dass in einer Fraktion Abgeordnete zweier Parteien desselben Landes zusammenarbeiten, ist nicht ungewöhnlich. Deshalb ist "Zersplitterung" hier offenkundig kein Problem.

Dass die EU nichts gegen eine Hürde hat, heißt nicht, dass es nach deutschen Maßstäben notwendig und angemessen sein muss.
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Marc K.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 10. November 2011 - 23:42 Uhr:   

Wilko Zicht,

aus welchen Gründen haben sie den Prüfungsmaßstab modifiziert? Mir fehlt die Auseinandersetzung darüber, warum sie durch dieses Urteil ganz klar vom Urteil von 1979 abweichen. Es wäre gerade die Aufgabe gewesen das umfassend zu begründen. So hatte - auf einen anderen Rechtsgebiet - der BGH etwa intensiv begründet, warum er den Bandenbegriff neu definiert hat (Bande erst ab 3 Personen, statt ab 2 Personen).
Die Mehrheit des Bundesverfassungsgericht stellt sich dem nicht.
Bei diesen Standards wäre dann auch nur noch ein Verhältniswahlsystem als verfassungsmäßig zu bewerten - in völliger Abkehr von der bisherigen Position. Wo ist die Auseinandersetzung mit der bisherigen Position? Die Konsequenz wird ja noch nicht mal ausgesprochen.
Und was soll denn nun konkret der Prüfungsmaßstab sein.
Wenn die Senatsmehrheit konstatiert, dass heutzutage auch Parteien ohne Programm aus dem Stand die 5%-Hürde überspringen können (und dabei wohl auf die Piratenpartei anspielen), dann spricht das wohl dafür, dass schon an der Geeignetheit der 5%-Hürde zur Verhinderung der Fragmentierung des Parteiensystems unter den heutigen Umständen Zweifel angebracht sind. Nur daraus könnte man ja genauso folgern eine höhere Hürde einzuführen, anstatt jedwede Hürde für verfassungswidrig zu halten. Wenn das Bundesverfassungsgericht zum gegenteiligen Ergebnis bezüglich der Europawahl kommt, warum dann nicht auch für Bundestags- oder Landtagswahlen? Wenn das Bundesverfassungsgericht darüber spekuliert welche Auswirkungen die Abschaffung der 5%-Hürde hat und glaubt bei gegebener Sachlage feststellen zu könne dass die Gefahr einer Funktionsunfähigkeit des europäischen Parlaments gering sei (wie wäre es denn, wenn alle Länder ihre Hürden (die auch in der Ausgestaltung des Wahlsystems (Wahlkreise) liegen können) abschaffen würden?), stellt sich die Frage, ob diese Prüfung dann alle 5 Jahre angesichts veränderter politischer Umstände zu wiederholen ist. Wenn man anstelle von abstrakten-generellen Maßstäben - die an sich immer das Maß für Gesetze sein sollen - konkret-tagesaktuelle anlegt, werden die Maßstäbe unklar.
Wenn das Bundesverfassungsgericht meint, es müsse das dennoch tun, müsste das aber auch für Bundestags- oder Landtagswahlen gelten. Das Ergebnis einer "Risikoeinschätzung" könnte kaum anders sein. Schließlich sind in Deutschland auch die beiden größten Fraktionen prinzipiell kooperationsfähig. Also droht bei einer tagesaktuell-konkreten Betrachtung keine hohe Gefahr einer Funktionsunfähigkeit (anders als bei einem abstrakten Maßstab).

Auch staatspolitisch halte ich diese Rechtsprechung für bedenklich. Wir sehen ja eine zunehmende Fragmentierung der politischen Landschaft. Durch die Abschaffung der 5%-Hürde wird diese Entwicklung begünstigt. Künftig werden aufgrund dieser Entscheidung wohl auch Vertreter der NPD im Europaparlament sitzen.
Das Bundesverfassungsgericht hält es ja nun plötzlich nicht mehr für möglich eine seit sechs Jahrzehnten bestehende staatspolitische Praxis (die 5%-Hürde), die es auch immer wieder bestätigt hat, bei Wahlen insgesamt aufrechtzuerhalten. Und angesichts dessen ist die Urteilsbegründung äußerst mager und dürftig. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Entscheidung zuende gedacht ist..
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Marc K.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 11. November 2011 - 00:03 Uhr:   

@Ralf Lang,

wieso soll dann die 5%-Hürde bei Bundestagswahlen verfassungsgemäß sein? Hier ist die Lage doch nicht anders. Ganz anders sieht das jedoch die Senatsmehrheit des Bundesverfassungsgerichts (RN 118 des Urteils).
Die Senatsmehrheit wendet also gerade unterschiedliche Maßstäbe bezüglich Bundestag und Europaparlament an.

Es gehörte im übrigen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland zur ständigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Sperrklauslen bis zu 5% für verfassungsgemäß zu halten. Das ist der deutsche Maßstab. Seit einigen Jahren weicht das Bundesverfassungsgericht diesen Maßstab jedoch auf (zuerst bei Kommunalwahlen), so dass nunmehr gar kein Maßstab mehr zu erkennen ist.


Merkwürdig sind dann auch solche Formulierungen: RN 99
"Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Sperrklausel kommt es nicht allein auf die - mit dem Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel in Deutschland einhergehende - Erweiterung der Zahl der aus Deutschland kommenden Parteien an. Zwar sind die Regelungen des Wahlrechts zum Europäischen Parlament in den einzelnen Mitgliedstaaten erkennbar von nationalen Erfahrungen, Gegebenheiten und Bedürfnissen geprägt. Dementsprechend finden sich, soweit das Ziel verfolgt wird, sogenannte Splitterparteien aus dem Europäischen Parlament fernzuhalten, neben Sperrklauseln, die auf die Erreichung eines bestimmten Prozentsatzes der abgegebenen Stimmen abstellen, verschiedene andere Ausgestaltungen, die vergleichbar wirken sollen. Im Hinblick darauf ist nicht ohne Weiteres damit zu rechnen, dass bei einem Fortfall der Sperrklausel in Deutschland andere Mitgliedstaaten vorhandene Beschränkungen der Erlangung von Sitzen im Europäischen Parlament aufgeben."
Also sollen andere gewährleisten, dass es nicht zu einer zu starken Zersplitterung kommt und deshalb kann Deutschland seine Sperrklausel aufgeben? Diese Argumentation ist mit dem Kategorischen Imperativ unvereinbar und daher unvernünftig.

"Damit steht im Einklang, dass der europäische Normgeber keine Notwendigkeit gesehen hat, selbst Vorkehrungen gegen eine „Zersplitterung“ des Europäischen Parlaments zu treffen, sondern den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit eröffnet hat, für die Sitzvergabe eine Mindestschwelle festzulegen (Art. 3 des Direktwahlaktes) oder vergleichbar wirkende Gestaltungen des Wahlrechts vorzusehen."

Woher weiß das BVerfG was die Staatsmänner der EU dachten, als sie die Verträge aushandelten? Das ist kein öffentlicher Prozess, bei dem Protokolle über die Motive angelegt werden. Könnte es nicht sein, dass man aufgrund unterschiedlicher nationaler Traditionen unterschiedliche Sperrklauseln und Wahlsysteme mit Sperrwirkungen ermöglichen wollte?
In vielen Staaten macht darüber hinaus eine Sperrklausel auch keinen Sinn, da die natürliche Hürde schon höher ist.

Alles in allem ist die Argumentation, die zwischen Bundestag und Europaparlament fundamentale Unterschiede konstruiert nicht überzeugend. Sie wird der Rolle des Europaparlaments nicht gerecht.
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Vogt Richter im Ruhestand
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Freitag, 11. November 2011 - 01:17 Uhr:   

Lieber Marc K.,
es gibt auch etwas wie eine unausgesprochene Verfassungsdynamik, denn Verfassungen sind auf Gegenwart und Zukunft und somit auf Weiterentwicklung entsprechend ihrer Zielsetzungen ausgelegt. Die Träger der Dynamik können alle Staatsgewalten sein.
Deine Kritik beruht primär auf einem eingeschränkten Bild von Verfassung. Unabhägnig von der Sinnhaftigkeit des Urteils ist es doch grundsätzlich richtig, dass Richter nach bestem Gewissen aktiv daran partizipieren die Verfassung gemäß ihrer eigenen Ziele weiterzuentwickeln.

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