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Archiv bis 18. September 2011

Wahlrecht.de Forum » Wahlsysteme und Wahlverfahren » Bundestagswahlen » Reform des Bundeswahlgesetzes » Archiv bis 18. September 2011 « Zurück Weiter »

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Arno Nymus
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 18. August 2011 - 00:33 Uhr:   

@Norddeutscher:
Einige der Punkte beziehen sich ja auf ein Zweistimmensystem wie das aktuelle Wahlrecht eines ist. Ist das so zu verstehen, dass nur ein solches für Sie als gerechtes Wahlsystem in Frage kommt oder würden Sie z.B. auch ein Wahlrecht mit offenen Listen (z.B. auch mit zusätzlichen Wahlkreislisten, vgl. [1]) begrüßenswert finden?

Ich gehe im Folgenden davon aus, dass die Punkte auf ein weitestgehend dem aktuellen System ähnlichen beruhen.

Die Punkte sind gar nicht so einfach zu erfüllen.

zu 2)
a) Aktuell werden die Wahlkreise nach der Anzahl der Bevölkerung eingeteilt statt nach Wahlberechtigten.

b) Wenn man die Anzahl der Wahlberechtigten zur Wahl 2009 als Grundlage nimmt, müsste somit die Wahlkreis-Anzahl auf mindestens 311 erhöht werden und das auch nur, wenn praktisch keinerlei Größen-Unterschiede vorhanden wären.
Wenn man von einer Größen-Abweichung von 25% ausgeht und 200.000 Wahlberechtigte als absolut feste Obergrenze nimmt, so würde es eher auf 390 oder mehr Wahlkreise hinauslaufen.
Die Anzahl würde sich natürlich noch weiter erhöhen, wenn man Punkt a) berücksichtigt, die Wahlkreise also in der Tat weiterhin nicht direkt nach Anzahl der Wahlberechtigten eingeteilt werden würden.

Wenn die hälftige Teilung zwischen Direkt- und Listenmandaten beibehalten werden würde, wären wir somit also bei einer Standardgröße des Bundestages von gut 800 Sitzen, bei Überhangmandaten und Ausgleich vergleichsweise wie 2009 würden wir wohl auf knapp 900 Sitze kommen.
Wenn die hälftige Teilung zugunsten der Direktmandate verschoben werden würde, würde die Sollgröße zwar reduziert, die Anzahl der Überhang- und somit auch der Ausgleichsmandate aber ansteigen - wodurch der Bundestag letztlich auf die selben knapp 900 Sitze kommen würde.

zu 3,4,5)
Ich schließe mal aus 3), dass Sie auf jeden Fall - wenigstens im Groben - eine Verhältnismäßigkeit der Sitzzuteilung erhalten wollen.
Ich denke, dass das einzige System*, welches weitgehend proportional ist und 4) und 5) ohne Korrekturschritte erfüllt, die Verteilung der Sitze direkt an alle Landeslisten ist (also alle 80+ Landeslisten treten in der Verteilung direkt gegeneinander an).
Dabei würde natürlich die Proportionalität der Parteien untereinander (16-fache kumulierte Rundungsfehler) und auch die Proportionalität der Bundesländer untereinander (5-fache kumulierte Rundungsfehler**) i.A. nicht mehr gegeben sein. Die Proportionalität zwischen den Landesverbänden einer Partei sowie der Landesverbände innerhalb eines Bundeslandes wären dann aber natürlich garantiert, insbesondere, dass eine Landesliste nicht weniger Sitze erhalten kann als eine andere Landesliste mit weniger Stimmen.

Eine andere Möglichkeit wäre, dass man eine Verteilung durchführt, die die Bedingungen 4) und 5) nicht von sich aus erfüllt und im Falle eines Verstosses gegen 4) oder 5) die Sitzzahl des Bundestages vergrößert bis kein Verstoss mehr vorliegt. Zusätzlich mit Ausgleichsregelung etc. würde das System aber möglicherweise ziemlich undurchsichtig werden.
Nimmt man das aktuelle Sitzverteilungssystem und achtet auf Verstösse gegen 5), so wäre aber das negative Stimmgewicht natürlich weiterhin nicht behoben.

PS: Ich bin Arno Nymus ;)

* sofern man dazu annimmt, dass die Sitzzahl des Bundestages wenigstens grob vorgegeben ist.
** unter der Annahme, dass 5 Parteien pro Bundesland in den Bundestag einziehen.

[1] http://www.informatik.uni-bremen.de/~offerman/website/forschung/wahlen/offen.html

(Beitrag nachträglich am 18., August. 2011 von Arno Nymus editiert)
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Bobo
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Samstag, 20. August 2011 - 20:28 Uhr:   

Ob die Nachteile des Kompensationsmodells der Grünen gerechtfertigt
sind, ist eben noch die Frage. Auch wenn das BVG mögliche
Verfassungsmäßigkeit in Aussicht stellt, heißt das nicht, dass sich
nicht weitere Betrachtungsweisen ergeben, die dagegen sprechen. Die
Frist, die das BVG gesetzt hat, ist auch der Komplexität der Materie
geschuldet. Die saloppe Erwähnung des BVG, dass man das Problem wohl
auch durch Trennung der Landeslisten beseitigen könnte, zeigt ja, dass
diesbezüglich mglw. nicht alle Konsequenzen bedacht worden sind. Ebenso
könnten sich beim Kompensationsmodell gewisse Aspekte ergeben, die doch
nicht so nachrangig zu behandeln sind. Aber eines scheint mir gewiss zu
sein: Die Frist ist durchaus gerechtfertigt. Auch Fachleute wie Herr
Prof. Pukelsheim denken über andere Lösungen nach, z.B. solche mit
kleinem Ausgleich.

Ich möchte nun ein Wahlsystem skizzieren (wobei ich mir noch nicht über
alle Konsequenzen klar bin), welches Elemente aus allen Entwürfen
enthält und somit mglw. als Basis für einen Kompromiss zwischen den
Parteien dienen könnte.

0. Das Wahlgebiet wird so eingeteilt wie bisher. Jeder Wähler hat - wie bisher - zwei
Stimmen und wählt mit seiner Erststimme einen Kandidaten in seinem Wahlkreis und
mit seiner Zweitstimme eine Landesliste.

1. Die Länder erhalten vor der Wahl Sitze zugeteilt (feste
Sitzkontingente). Dabei sei die Anzahl der Sitze für ein Land die
doppelte Anzahl seiner Wahlkreise. (Der Vorschlag ist nicht neu, aber der
weitere Verlauf wird zeigen, dass es sich hier um einen vorläufigen Wert
handelt, der bei einem späteren Ausgleich verändert wird.)

Rechtfertigung: Dieser Punkt soll negatives Stimmgewicht verhindern,
indem zunächst Sitzverschiebungen zwischen den Ländern unmöglich gemacht
werden.

2. In jedem Land wird die Sitzverteilung berechnet, Zweitstimmen
werden nach Sainte Lague in Sitze umgerechnet. Sitze, die der
Landesliste einer Partei zustehen, werden mit den Direktmandaten
derselben Partei in üblicher Weise verrechnet; es können Überhangmandate
entstehen.

3. Für jede Partei errechnet man die Summe ihrer Sitze, die sie in allen
Ländern erhalten hat (inkl. der Überhangmandate).

4. Berechung der Oberverteilung nach heutigem Wahlsystem (mit
Hausgröße 598). Diese Verteilung wird durch Veränderung der Hausgröße
soweit nach SL-Proporz angepasst bis die nach Punkt 3 errechneten Sitze
gerade gedeckt sind ("kleiner Ausgleich").

Rechtfertigung: Das Sitzverhältnis der Parteien untereinander soll dem
tatsächlichen Zweitstimmenverhältnis entsprechen.

5. Dann Unterverteilung der Gesamtsitze einer Partei auf die Länder
nach Zweitstimmen, die die Partei in den Ländern bekommen hat. Dabei
wird die direktmandatsbedingte Divisisormethode mit Standardrundung
(d.i. Kompensation) verwendet.

Frage: gibt es noch negatives Stimmgewicht?

Der Vorschlag ist geradezu als Kompromiss für die Parteien geeignet. Die
Union erhält ihre Überhangmandate, die FDP verliert nichts durch die
anfängliche Berechnungsweise (vgl. 1 bis 3), da im Punkt 4 die
tatsächliche Oberverteilung zum Tragen kommt. (Man kann also auf eine
Reststimmenverwertung verzichten.) Die SPD bekommt ihren kleinen
Ausgleich und kann sich zusammen mit den Grünen über Parteienproporz
freuen, wobei die Grünen zusätzlich darüber glücklich sind, dass ihre
Kompensation doch noch Beachtung findet (allerdings nach einem einem
vorherigen Ausgleich).


MfG Bobo
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Martin Fehndrich
Moderator
Veröffentlicht am Montag, 29. August 2011 - 21:15 Uhr:   

Eine Kritik des Koalitionsentwurfs von Joachim Behnke, Zeppelin; Universität Friedrichshafen, führt den Absatz 2a völlig ad absurdum. Eine einfache Anwendung erreicht das Korrekturziel nicht, das Verfahren müßte iterativ wiederholt werden. Da das Verfahren aber nichts korrigiert, würde man nur fortlaufend neue Sitze verteilen.

http://www.zeppelin-university.de/deutsch/lehrstuehle/politikwissenschaft/CDU_Wahlreformentwurf.pdf
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cyrix
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 06. September 2011 - 02:05 Uhr:   

Weil in der Expertenanhörung ( Aufzeichnung zu finden unter http://dbtg.tv/cvid/1306498 ) immer wieder von der zu bevorzugenden "minimal invasiven" Änderung (vorzugsweise von den Befürwortern des Koalitions-Vorschlags) gesprochen wird:

Was kennzeichnet denn dieses "minimal invasiv"? Kleinstmögliche Änderung im Gesetzestext? Oder Kleinstmögliche Abweichung im Erwartungswert der Wahlergebnisse? Oder was denn genau?

Wenn man nur wenig Abweichung im Gesetzestext wolle, könnte man die Vorschläge der Oppositionsparteien (mal abgesehen von den Zusatzforderungen der Linken bezüg. z.B. Ausländerwahlrecht, 5%-Hürde usw.) sehr griffig und kurz so formulieren, dass sie kaum Änderungsbedarf am Gesetzestext bedürfen. Jedenfalls ist kein Konstrukt einer "Reststimmenverwertung" wie beim Koalitionsvorschlag nötig.

Wenn man die Nähe zum Ergebnis des bisherigen Wahlrechts als Maß wählt, wird die Sache allerdings sehr kompliziert (insbesondere, weil nicht klar ist, wie man diese "Nähe" zu messen hat)...

Irgendwelche Ideen, was damit gemeint sein könnte?
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 06. September 2011 - 03:48 Uhr:   

"Minimalinvasiv" heißt übersetzt einfach, dass Besitzstände so weit wie möglich gewahrt bleiben, für die Parteien insgesamt wie für jeden einzelnen Abgeordneten.

Die Frage ist allerdings, warum man die Änderung nicht auf eine Abschaffung von Nachwahlen reduziert. Insbesondere (aber nicht nur) die Koalitionspropagandisten sind sich ja inzwischen wieder einig, dass negatives Stimmengewicht größtenteils gar nicht existiert (außer das bei den jeweils anderen Entwürfen) und der Rest völlig unproblematisch ist (abgesehn von Nachwahlen eben, aber da teilweise auch). Falls der Koalitionsentwurf oder der der SPD in Karlsruhe durchkommt, wird das sicher auch reichen.
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Taugenichts
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 06. September 2011 - 11:11 Uhr:   

Zeit-Artikel zur Wahlrechtsreform:
http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-09/wahlrecht-reform-streit-bundesverfassungsgericht
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Martin Fehndrich
Moderator
Veröffentlicht am Dienstag, 06. September 2011 - 20:46 Uhr:   

@cyrix Den Begriff "minimalinvasiv" hatte ein Verfassungsrichter in der Verhandlung am 16. April 2008 (Di Fabio?) gebraucht. Gemeint ist schon der Unterschied in der Sitzverteilung, die möglichst klein sein soll. Der Gesetzestext sicher nicht, denn hier empfiehlt das Gericht im Urteil eine Überarbeitung.

Man könnte es so auffassen, daß man von bestimmten Wahlergebnissen ausgeht und von dort negatives Stimmgewicht herausrechnet, also negative Sprünge nicht mitmacht. Hier ein Beispiel für so einen Ansatz.

Der Koalitionsentwurf ist ziemlich weit weg von so einem Ansatz, abgesehen davon, daß er zu mehr negativem Stimmgewicht führt
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Bobo
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Mittwoch, 07. September 2011 - 02:22 Uhr:   

Also, was ich wirklich nicht kapiere, ist diese Geschichte mit dem
"seltenen Auftreten" eines negativen Stimmgewichts. Wenn man zeigen
kann, dass solche seltenen Fälle in der "Realität" nicht auftreten
können, also sogenannte (irrelevante) "abstrakte Konstruktionen" seien,
dann könnte man ja noch ein Auge zudrücken. Aber wenn man nach dem
Entwurf der Koalition wählen würde, dann kann negatives Stimmgewicht
real auftreten.

Nun kann man sagen, dass solche realen Fälle selten seien. Aber so eine
Argumentation ist völlig irrelevant und verkennt das Problem: Tritt
nämlich so ein "seltener" Fall bei einer Wahl nach dem Koalitionsentwurf
ein, so hat sich ja aus Sicht des Wählers die Situation nicht geändert;
der verfassungswidrige Zustand ist da. Und was sollte das BVG dann in so
einer Situation bei einer Anfechtung der Wahl schon tun? Eine weitere
Frist setzen? So eine Wahl nicht für nichtig erklären? Und das, wo doch
so viele andere "Experten" auf die diesbezüglichen Mängel des
Koaltionsentwurfes aufmerksam gemacht haben?

Die Wahlgleichheit ist dann (relevant) verletzt, und man kann in solchen
realen Fällen eben kein Auge - mehr - zudrücken. Denn das würde die
verfassungsmässigen Rechte der Wähler ein weiteres Mal verletzen!

Aber das /wesentliche/ Problem ist, dass der Wähler sich nicht sicher
sein kann, ob der obige "seltene" Fall nicht schon bei der nächsten Wahl
eintritt. Das könnte sein Stimmverhalten ändern, ihn zumindest
verunsichern, ihn soger von der Wahl abhalten. Er hat keine Garantie,
dass seine Stimme nicht negativ wirken kann. Und das gilt auch
hinsichtlich des Entwurfs der SPD. Der Wähler ist damit auch
hinsichtlich der Äußerung seiner aufrichtigen Präferenz nicht mehr frei.

Ich verstehe das BVG so, dass negatives Stimmgewicht auch in realen
Fällen nicht auftreten darf, egal ob selten oder nicht. Und dass der
Wähler diesbezüglich nicht nur geschützt wird, sondern /das Wissen/ hat,
dass seine Stimme garantiert nicht zu seinem Nachteil (diesbezüglich in
der Sache) verwertet wird.


MfG Bobo
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Martin Fehndrich
Moderator
Veröffentlicht am Donnerstag, 08. September 2011 - 07:48 Uhr:   

Selbst nach der geschönten und in der FAZ zitierte Berechnung des BMI bleiben im Koalitionsentwurf noch mehr als 40% negatives Stimmgewichts übrig, andere Berechnungen sehen mehr als 150%. Damit wird "selten" alles, was man nicht sehen will.
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Frankfurter
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Freitag, 09. September 2011 - 11:01 Uhr:   

So ganz komme ich bei der Diskussion nicht:
Voraussetzung für das Eintreten eines negativen Stimmengewichtes ist, soweit ich das verstanden habe, das Vorhandensein von einem oder mehreren Überhangmandaten in einem Bundesland. Aber bereits dieses Überhangmandat sorgt doch für Verzerrungen. Vom ausgehebelten Zweitstimmenproporz einmal abgesehen (den das BVG für akzeptabel hält, was ich an sich schon für fragwürdig halte), führen Überhangmandate zu unterschiedlichen Wertigkeiten der Zweitstimmen in den Bundesländern. Wieso das in Kauf genommen wird und rechtskonform sein soll, ist mir schleierhaft. Hier handelt es sich doch um einen eklatanten Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und das ist doch die eigentliche Ursache für das Phänomen des negativen Stimmgewichtes.
Das negative Stimmgewicht wirkt dieser Verzerrung doch entgegen, oder habe ich etwas übersehen?
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 09. September 2011 - 15:27 Uhr:   

Es kann auch ohne Überhangmandate negatives Stimmengewicht geben, z.B. durch variable Gesamtsitzzahl oder ein inkonsistentes Sitzzuteilungsverfahren (Hare/Niemeyer) verursacht. Das betrifft z.B. die Ausgleichslösung im SPD-Entwurf und das zusätzliche negative Stimmengewicht durch die Zusatzmandate im Koalitionsentwurf. Teilweise hängt es davon ab, was man überhaupt als negatives Stimmengewicht definiert, was nicht klar ist.

Das negative Stimmengewicht (im gegenwärtigen Wahlrecht) würde der Verzerrung entgegenwirken, wenn es systematisch in dem Sinn auftreten würde, dass es die Sitzanteile der überhängenden Partei reduziert (außerdem muss die überhängende Liste diese Stimmen erstmal bekommen). Das tut es aber im Allgemeinen nicht, jedenfalls nicht bei der am stärksten überhängenden Partei. Normalerweise reduzieren die angeblich negativen Stimmen die Sitze der Konkurrenz stärker als die eigenen und vergrößern die Verzerrung damit noch. Anders kann es bei Nachwahlen und dergleichen ausschaun, wenn absehbar ist, dass ein Sitzverlust der Konkurrenz innerhalb der noch möglichen Bandbreite nicht auftreten wird.

Die praktischen Konsequenzen hängen aber von der Betrachtungsweise ab. Wenn man davon ausgeht, dass diese Stimmen tatsächlich abgegeben werden (und der Normalfall ist, dass Überhanglisten mit der Zweitstimme nicht gewählt werden), wirken sie im Allgemeinen zusätzlich verzerrend; wenn man aber davon ausgeht, dass der Effekt die Wähler vom Abgeben der Stimme abhält, verringern sie die Verzerrung.
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cyrix
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 09. September 2011 - 16:02 Uhr:   

Was mich an der Sachverständigen-Anhörung so gewundert hat, war die Ansicht der meisten Sachverständigen (Staatsrechtler) und der Koalitions-Vertreter (Krings und Ruppert), dass man sich nur des "absoluten negativen Stimmgeweichts" anzunehmen habe, während "relatives negatives Stimmgewicht" akzeptabel sei.

Richtig ist, dass sich das BVerfG-Urteil nach wortwörtlicher Auslegung wohl nur gegen eben den real passierenden Mandatsverlust bei zusätzlichen Stimmen argumentiert und dies für verfassungswidrig einschätzt.

Es mag sein, dass eine Verzerrung des gleichen Stimmgewichts für alle Wähler durch das doppelte Stimmgewicht im Falle von Überhangmandaten und durch negatives Stimmgewicht (zumindest relativ, was den Mandatsanteil der betrachteten Partei betrifft) durch Klauseln wie der Berechnung der Länderkontingente anhand der Wahl [egal, ob da nun die ungültigen usw. Stimmen enthalten sind, oder nicht]) bisher nicht als verfassungsrechtlich bedenklich eingestuft wurde.

Aber einerseits kann man sich m.E. nicht darauf verlassen, dass dies in Zukunft auch der Fall sein wird; und andererseits ist nicht alles, was nicht verfassungswidrig ist, auch automatisch gut.

Man konstruiert hier bewusst ein schlechtes Wahlsystem! Was soll das?!


Ehrlich gesagt, sollten das die Koalitions-Fraktionen wider den Rat der meisten Sachverständigen gegen die Oppositionsfraktionen durchboxen, so wünsche ich mir ein Wahlergebnis, in welchem durch das relative negative Stimmgewicht die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag (z.B., dass dadurch Rot-Grün gerade so eine Mehrheit erhält) wackeln. Dann dürfte die Union (im Falle, dass sie in der Opposition landet) gegen ihr eigenes Gesetz klagen. Ich würde es diesen Leuten, die bewusst ein schlechtes Gesetz vorlegen, durchaus wünschen, damit sie sich endgültig lächerlich machen...


Cyrix
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 09. September 2011 - 16:44 Uhr:   

Gibt es im Koalitionsentwurf irgendwo relatives negatives Stimmengewicht, ohne dass im selben Zusammenhang auch absolutes negatives Stimmengewicht auftreten würde? Mir scheint, dass der Entwurf insofern dem gegenwärtigen Wahlsystem entspricht: Primär tritt absolutes negatives Stimmengewicht auf, das systematisch wirkt und an den Sprungstellen in aller Regel auch relativ ist; systematisches relatives negatives Stimmengewicht (also über einen so großen Bereich möglicher Wahlergebnisse, dass es bei normaler Wahl vorhersagbar ist) tritt dagegen nur in Ausnahmefällen auf (bei überhängenden Listen, die nicht zur am stärksten überhängenden Partei gehören).

Die eigentliche Frage ist doch, ob absolutes negatives Stimmengewicht überhaupt verhindert werden muss, oder ob es nur um relatives negatives Stimmengewicht geht. Davon ist in erster Linie die Einschätzung des SPD-Entwurfs betroffen, der das absolute negative Stimmengewicht überhaupt nicht angreift, sondern ausschließlich systematisches relatives negatives Stimmengewicht (das es meist ohnehin nicht gibt) ausschließt (relatives negatives Stimmengewicht an Sprungstellen, das bei Nachwahlen relevant sein kann, verhindert er auch nicht).
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Bobo
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Freitag, 09. September 2011 - 20:22 Uhr:   

Negatives Stimmgewicht kann bei einer konkreten Wahl nach unserem
heutigen Wahlsystem auch auftreten, wenn keine Überhangmandate im
Wahlergebnis auftreten.

Nehmen wir dazu an, dass die Direktmandate, die eine Partei in einem
Bundesland L bekommt, der Anzahl der Sitze gemäß der Unterverteilung für
diese Partei in L entspricht. Hätte die Partei weniger Zweitstimmen in L
bekommen (und nehmen wir an, dass die Oberverteilung noch dieselbe ist
wie vorher), so dass sie nun einen "Listensitz" weniger in L, aber dafür
einen Sitz in einem anderen Land bekommt, so hat sie schließlich einen
Sitz mehr im Bundestag, da nun - in diesem hypothetischen Fall - ein
Überhangmandat in L entsteht.

Interessant finde ich dabei, dass sogar, wenn im konkreten Wahlergebnis
keine Überhangmandate auftreten, negatives Stimmgewicht nicht
ausgeschlossen ist. Zwar wäre das konkrete Wahlergebnis (also ohne
Überhänge) hier identisch mit etwa einem Ergebnis nach dem Entwurf der
Grünen, aber dennoch wäre das Ergebnis hinsichtlich unseres Wahlrechts
verfassungswidrig (eben, weil der NSG-Effekt auftritt), hinsichtlich des
Grünen-Entwurfs aber nicht, da der oben angnenommene hypothetische Fall
im Grünen-Entwurf anders verrechnet (kompensiert) wird.


MfG Bobo
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Martin Fehndrich
Moderator
Veröffentlicht am Freitag, 09. September 2011 - 22:05 Uhr:   

@Frankfurter
Das negative Stimmgewicht wirkt in keine bzw. gleichermßen in beide Richtungen. Weniger Stimmen führen zu mehr Überhangmandaten und verstärken die Verzerrung. Und der Anreit durch negative Stimmgewicht geht in diese Richtung.

Aber es stimmt, das negative Stimmgewicht ist ein Indikator für einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (sonst gäb es kein negatives Stimmgewicht).

@cyrix
Der Koalitionsentwurf ändert beim negativen Stimmgewicht so wenig, daß ich nicht erkennen kann, warum es nun nicht mehr verfassungswidrig sein sollte.

@Bobo
Das Beispiel dazu der Bundestagswahl 2009: Wenn die SPD in Bremen 600 Zweitstimmen weniger erhalten hätte, hätte sie einen Sitz mehr im Bundestag. Die Grenze ist nicht das Überhangmandat, sondern schon das knapp verpaßte Überhangmandat.
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 09. September 2011 - 23:00 Uhr:   

@Martin Fehndrich:
"Aber es stimmt, das negative Stimmgewicht ist ein Indikator für einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (sonst gäb es kein negatives Stimmgewicht)."

Für mich verstößt eine Ausgleichsregelung (zumindest ein voller Vollausgleich, wo es weder Probleme mit der regionalen Gleichbehandlung noch eine Restbevorzugung der am stärksten überhängenden Partei gibt) bei Sicherstellung der gleichzeitigen Wahl (insbesondere Abschaffung von Nachwahlen) nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz, aber trotzdem bedingt sie negatives Stimmengewicht. Negatives Stimmengewicht ist allenfalls ein Indiz, aber kein Indikator für Verzerrungen, die mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht vereinbar wären.
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Bobo
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. September 2011 - 16:38 Uhr:   

@Ratinger Linke:

Ein Ausgleich ist dann nicht nötig, wenn keine Überhangmandate
auftreten. Aber dennoch kann negatives Stimmgewicht auftreten (wie
Beispiele zeigen). Es ist egal wie man hier einen "Gleichheitsgrundsatz"
interpretiert; Tatsache ist, dass es Wähler gibt, die ihre Partei
stärken wollen, diese Partei aber schwächen (im Falle eines
NSG-Effekts).

Erläuterung: Natürlich weiß man nicht, was der Wähler /eigentlich/ will,
aber die Annahme, dass ein Wähler mit seiner Stimme eine Partei stärken
will, reicht schon aus, dass so eine Wählerstimme nicht in ihr Gegenteil
verkehrt werden darf. Es ist daher völlig IRRELEVANT, ob ein Ausgleich
irgenwelchen Empfindungen "wohltut";


MfG Bobo
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 15. September 2011 - 21:09 Uhr:   

Daraus, dass es negatives Stimmengewicht gibt, kann man nicht folgern, dass es Wähler gibt, deren Stimme negativ wirkt. Negatives Stimmengewicht ist zunächstmal eine Grenzfallbetrachtung, die erst dann relevant wird, wenn sich die Wähler entsprechend partitionieren lassen, insbesondere bei Nachwahlen.

Bei normalen Wahlen gibt es nur dann reale Wähler, deren Stimme negativ wirkt, wenn die Partei ganz ohne Stimmen einer Landesliste besser dastehn würde. Bei einer Ausgleichsregelung ist das in aller Regel nicht der Fall, kann aber insbesondere dann eintreten, wenn Listenerschöpfungen relevant werden (die ohnehin eine Quelle für negatives Stimmengewicht sind).

Unabhängig davon tritt natürlich negatives Stimmengewicht im Sinn des Bundesverfassungsgerichtsurteils auf, aber daraus folgt eben nicht, dass es Wähler gibt, die mit ihrer Stimme die gewählte Partei schwächen.
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cyrix
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 17. September 2011 - 13:35 Uhr:   

Die SPD erwägt Klage vor BVerfG, sollte bis zur "nächsten Sitzungswoche" kein Vorschlag eingebracht werden.

Quelle: http://www.n-tv.de/politik/SPD-erwaegt-Gang-nach-Karlsruhe-article4327096.html

Ob damit ein fraktionsübergreifender Vorschlag heranreifen kann, oder nur das Koalitionsmodell durchgedrückt wird?
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Bernhard Nowak
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 18. September 2011 - 13:21 Uhr:   

Eben im Presseclub wurde auf Phoenix - leider erst nach dem Ende der regulären Sendung als Reaktion auf eine Zuschauerfrage - die Wahlrechtsthematik angesprochen. Sollte die Koalition scheitern und der Bundestag vorzeitig aufgelöst werden, ohne dass es ein Wahlrechtsgesetz gibt, so würde das Bundesverfassungsgericht ein vorläufiges Wahlgesetz erlassen. Dies habe neben Papier auch Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle deutlich gemacht. Ein fehlendes Wahlrecht sei kein Hinderungsgrund für Neuwahlen. Wie würde denn so etwas konkret vor sich gehen? Fungiert das BVerfG hier wirklich als "Ersatzgesetzgeber" und legt Wahlrechtsregeln selber detailiert fest? Wäre dies dann nicht sogar dem derzeitigen "Gezerre" vorzuziehen, wenn der Mehrheitsentwurf der Koalition, sollte er so verabschiedet werden, zumindest in Teilen offensichtlich verfassungswidrig sein sollte?

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