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Archiv bis 17. Juni 2011

Wahlrecht.de Forum » Wahlsysteme und Wahlverfahren » Bundestagswahlen » Reform des Bundeswahlgesetzes » Archiv bis 17. Juni 2011 « Zurück Weiter »

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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 07. Juni 2011 - 08:49 Uhr:   

Das unterstellt aber, dass die Wähler das doppelte Stimmengewicht absichtlich wahrnehmen, dabei nicht die gewählte Partei, sondern die Partei des gewählten Kandidaten dem Wählerwillen entsprechen würde, und dass das doppelte Stimmengewicht überhaupt existiert. Diese Annahmen können alle falsch sein, und mindestens eine davon wird fast immer falsch sein. In sicheren Wahlkreisen, wo die Erststimme praktisch wertlos ist, wär das eine Totalentwertung, wenn sich der Wähler nicht aktiv dagegen wehrt, indem er gegen seinen Willen wählt oder halt die Erststimme ungültig macht.
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Arno Nymus
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 08. Juni 2011 - 02:52 Uhr:   

@Frank Schmidt: Eine weitere Idee zur Bekämpfung der doppelten Stimmwirkung bei Überhangmandaten durch Umrechnung der Zweitstimmen in Überhangländern findet sich hier:
http://www.wahlrecht.de/forum/messages/172/4658.html?1304295724

@Ratinger Linke (bzgl. Stimmensplitting):
In der Tat war die obige Betrachtung zum Stimmensplitting ausschließlich für absolute Sitzzahlen anwendbar. Ich stimme auch zu, dass es in der Tat deutlich relevanter ist, die Auswirkung auf die relativen Sitzzahlen zu betrachten.

Also dann hier die Betrachtung für relative Sitzzahlen, dafür zwei Dinge vorweg:

1. Bzgl. relativer Sitzanteile sind die Zweitstimmen für die Überhang-Partei in Überhangländern in der Tat nicht generell im Mittel negativ, aber auch nicht generell im Mittel (schwach) positiv. Ob sie im Mittel positiv oder negativ ausfallen, hängt z.B. von der Relation zwischen Partei-Divisor und Bundes-Divisor, sowie vom Anteil der Stimmen der Überhang-Partei in Nicht-Überhang-Ländern gegenüber der Gesamtstimmenzahl ab. Da die CDU 2009 in so vielen Ländern Überhang erreicht hat, dürften für die speziellen Ergebnisse von 2009 Zweitstimmen in jedem Überhang-Land im Mittel positiv gewesen sein.
Ich stimme aber auch zu, dass die mittlere Auswirkung in jedem Fall sehr schwach ist (BW 2009, etwa 1/20 Stimmwirkung, SN 2009 etwa 1/30 Stimmwirkung usw.).

2. In dem vorgeschlagenen System wirken tatsächlich abgegebenen Stimmen in einem Überhangland positiv auf die relative Sitzverteilung. Auf die absolute Sitzzahl der ÜberhangPartei haben zusätzlich abgegebene Zweitstimmen in Überhang-Ländern wohl gemerkt keine Auswirkung. Auf die absolute Sitzzahl der anderen Parteien haben sie aber Auswirkungen. Während die zusätzlichen virtuellen Stimmen nur für die Berechnung der Sitzzahl der ÜberhangPartei herangezogen werden, werden die zusätzliche "echten" Stimmen auch in der Oberverteilung berücksichtigt, die zur Berechnung der Sitzzahlen aller anderen Parteien dient - wodurch diese anderen Parteien Sitze verlieren.
Somit steigt also die relative Sitzzahl der Überhangpartei.
Da eine zusätzliche echte Stimme also die Sitzzahl der anderen verringert, aber die eigene nicht (wie ohne Überhang) erhöht, hat man im Mittel eine Stimmwirkung in der Größenordnung einer halben Stimme.

Somit die Betrachtung für relative Sitzzahlen:

Aktuell:
Erst+Zweitstimme an Überhangpartei: Erststimme wirkt positiv, Zweitstimme wirkt praktisch gar nicht.
Stimmensplitting: Erststimme wirkt positiv, Zweitstimme auch.
Anreiz zum Stimmensplitting: eine Zweitstimmenwirkung

Sitzminimierung:
Erst+Zweitstimme an Überhangpartei: Erststimme wirkt positiv, Zweitstimme wirkt positiv mit grob halber Kraft
Stimmensplitting: Erststimme wirkt positiv, Zweitstimme auch.
Anreiz zum Stimmensplitting: eine halbe Zweitstimmenwirkung

Der Anreiz zum Stimmensplitting würde also durch die Sitzminimierung verringert. Das Problem der doppelten Stimmwirkung wird aber offensichtlich nicht gelöst.

Jens M. schrieb Ich bezweifele, dass ein Wahlsystem, bei dem das Ergebnis nur noch von wenigen Experten mittels eines Computerprogranmmes ermittelt werden kann, noch verfassungsgemäß ist.
Das ist ein guter Punkt, aber dazu sind einige Dinge zu sagen:

1. Das Wichtigste ist die Überprüfbarkeit des Ergebnisses. Hierfür muss das Ergebnis nicht unbedingt einfach zu berechnen sein (auch wenn das schön ist). Es muss nur leicht geprüft werden können. Beispiel: Beim biproportionalen Divisorverfahren ist der Rechenweg zur Ermittlung der Divisoren einigermaßen aufwändig. Wenn man die Divisoren aber hat, lässt sich extrem leicht verifizieren, dass sie korrekt sind.

2. Ob die Berechnung für die Sitzminimierung extrem aufwändig ist, ist fragwürdig. Das soll ja gerade herausgefunden werden. Bei obigem Algorithmus müsste für eine Stimmabgabe wie 2009 die Berechnung des aktuellen Wahlsystems 13 mal durchgeführt werden (12 davon für die CDU, die anderen sind nach der ersten Rechnung klar). Falls die aktuelle Berechnung noch als "von Hand nachrechenbar" betrachtet wird, gölte das auch für den angegebenen Algorithmus.
Zu zeigen wäre natürlich noch, dass der Algorithmus korrekt ist, d.h. die Zielfunktion in jedem Fall exakt abbildet. Dass es tatsächlich so viele Iterationen (also 12) sind, liegt daran, dass dieser erste Algorithmus-Entwurf möglichst kleinschrittig vorgeht, damit keine Zwischenlösung übersehen wird. Ich würde aber sehr vermuten, dass man den Algorithmus noch deutlich abkürzen kann, wenn man es gut durchdenkt. Es ist ja nur der erste Ansatz.
Auch die Formulierung des Algorithmus kann man sicher noch überarbeiten, um ihn verständlicher zu machen. Auch hier gilt: Es ist ja nur der erste Ansatz.

3. Der Ansatz der Sitzminimierung ist aber auch schon rein theoretisch sehr interessant, weil er zeigt, dass es möglich ist, das negative Stimmgewicht zu beseitigen ohne dabei die Unitarität und die Föderalität der Wahl oder die Überhangmandate (weitgehend in der jetzigen Form) zu beseitigen.
Ich halte Überhangmandate zwar für nicht erstrebenswert, finde dieses Ergebnis aber dennoch sehr informativ.

Ich würde aber natürlich auch ein Verhältniswahlrecht mit offenen Listen bevorzugen, möglichst mit einer Bundes- und Regionallisten, welches vom Grundprinzip also etwa wie folgt abläuft (an das Bremer Wahlrecht angelehnt):
http://www.informatik.uni-bremen.de/~offerman/website/forschung/wahlen/offen.html
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Werner Fischer
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 08. Juni 2011 - 11:16 Uhr:   

Das Problem hängt ursächlich mit den nicht ausgeglichenen Überhangmandaten zusammen. Es wäre leicht zu beseitigen, wenn man Überhangmandate abschafft oder Ausgleichsmandate einführt.

Seit 3 Jahren gibt es Stillstand, nur weil die UNION diesen Lösungsweg blockiert (warum wohl?). Bei bundesweiten Volksentscheiden verhält sie sich ähnlich. In Richtung Demokratie scheint die UNION eine "Dagegen"-Partei zu sein - gehört das zu ihrem Marken-Kern?

Bin auf den angekündigten Koalitions-Entwurf gespannt.
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Bobo
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Mittwoch, 08. Juni 2011 - 19:35 Uhr:   

@Herr Nowak

Die nächste Bundestagswahl wird IMHO nicht nach dem heutigen Wahlrecht stattfinden. Einigt sich der Gesetzgeber nicht auf eine Reform bis zum 30.06.11, dann wird das Bundesverfassungsgericht die Frist mit folgender Option verlängern: Wird die verlängerte Frist nicht eingehalten, so wird vorübergehend nach Vorgabe des Verfassungsgerichts gewählt (Ich weiß nicht, ob das möglich ist, aber ich habe so 'was gelesen). In diesem Fall wird sich das Verfassungsgericht wohl an die Experten halten müssen. Schwierige Sache, denn die "Lösung des Verfassungsgerichts" sollte verfassungskonform (obwohl ...) sein. ;-) Der Vorschlag der Grünen ist IMHO der bisher einzige wohlfundierte Vorschlag (der Parteien), der in gewisser Weise das Wahlrecht in "minimalistischer" Weise verändert. Das Verfassungsgericht müsste bei Wahrnehmung obiger Option entscheiden, ob die regionalen Aspekte, die durch das Kompensationsmodell der Grünen (bzw. der Experten, die das Modell entwickelt haben) "verletzt" werden, verfassungswidrig sind. Auch müsste es darüber entscheiden, ob die Streichung von Überhangmandaten (wie es bei dem Vorschlag der Grünen vorgesehen ist) verfassungswidrig ist. Bei beiden Aspekten sehe ich keine Probleme, da diese Aspekte AFAIK nicht im Grundgesetz erwähnt werden. Es ergeben sich zwar gewisse Implikationen aus dem Bundesgesetz zum Wahlrecht, die möglicherweise gegen den Entwurf der Grünen sprechen, aber es gilt ja gerade dieses Gesetz zu reformieren, weil es verfassungswidrig ist. Insofern kann das Bundesverfassungsgericht durchaus eine vorläufige Maßnahme aussprechen, falls der Gesetzgeber inkompetent sein sollte.

Mfg Bobo}
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Martin Fehndrich
Moderator
Veröffentlicht am Donnerstag, 09. Juni 2011 - 23:47 Uhr:   

@Arno Nymus
Beim 2009er Beispiel ist das Minimum genau der Punkt, wo der Überhang gerade ausgeglichen wird - also äquivalent zum kontinuierlichen Fall. In diesem Fall ist das auch das Minimum, denn wenn man von dieser Stelle wieder Stimmen wegnimmt, kippen die Unterverteilungen viel schneller als die Oberverteilung.

Das wird wohl in den meisten Fällen auch so sein, aber es ist auch denkbar, daß der Verlust weniger Stimmen zum Kippen vieler Sitze in der Oberverteilung führen würde. Die Sitzverteilung ergäbe dann trotz noch vorhandener Überhangmandate weniger Sitze.

Möglicherweise kann ein Algorithmus von hier starten.
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Taugenichts
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 10. Juni 2011 - 12:45 Uhr:   

Ein Interview mit dem Staatsrechtler Hans Meyer zur Wahlrechtsreform:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/1478888/
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Bobo
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Samstag, 11. Juni 2011 - 14:47 Uhr:   

@Jens M.
Ich weiß nicht, was hier mit "Blackbox" in /diesem/ Zusammenhang gemeint ist.. Wie die Umrechnung von Wählerstimmen auf Sitze geschieht, ist im Bundeswahlgesetz dargestellt. Und offenbar ist das Verfahren nachvollziehbar. ;-)

MfG Bobo
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Bernhard Nowak
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 11. Juni 2011 - 16:37 Uhr:   

Die "Zeit" zitiert bei ihrem Artikel zum Thema Wilko und bezieht sich ausdrücklich auf www.wahlrecht.de:
http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-06/wahlrecht-reform-frist/komplettansicht
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 12. Juni 2011 - 00:13 Uhr:   

@Bobo:

Dass regionale Aspekte verfassungsrechtlich keine Priorität haben, ist völlig klar. Die Frage ist aber, ob ein System, das auf ziemlich striktem Länderproporz beruht und ihn dann systematisch stark verzerrt, zulässig ist. Es handelt sich für die Landesparteien, denen bei momentan durchaus realistischen Konstellationen jede Chance auf ein Mandat genommen wird, um einen sehr starken Eingriff in die Freiheit und Gleichheit der Wahl, spätestens seit Parteimitgliedern auch die Möglichkeit genommen worden ist, für eine andere Partei zu kandidieren. Praktisch wird die Freiheit der Wahl nur noch dadurch gewährleistet, dass Brandenburger CDUler z.B. auch in baden-württembergischen Wahlkreisen als Bewerber kandidieren können. Ob das reicht, ist fraglich.

Die interne Kompensation war eine brauchbare Lösung, solang Überhang nur in Maßen angefallen ist. Die Zeiten, wo man davon ausgehn konnte, sind aber vorbei. Heute muss man praktisch entweder an die Einerwahlkreise oder an die relative Mehrheitswahl ran.

Beides war übrigens in den ursprünglichen Planungen des Parlamentarischen Rats nicht vorgesehn: Das Wahlsystem sollte ein 3-stufiges Quotensystem ähnlich wie in Österreich werden, beginnend mit 6er-Wahlkreisen. Die Einerwahlkreise hat man dann in der Hoffnung, dass die Union das mittragen könnte, gewählt (was sie allerdings nicht getan hat). Zunächst war auch mit Einerwahlkreisen das Mandat an eine volle bundesweite Harequote gebunden (entweder direkt oder für den mit den meisten Stimmen gedeckt durch die nächste Ebene (Länder bzw. Länderverbände)) und damit Überhang ausgeschlossen.

Was schließlich beschlossen worden ist (noch vor dem Grundgesetz übrigens), war aber dann schon die relative Mehrheitswahl im Einerwahlkreis. Der Hauptausschuss wollte, dass die Harequote zumindest hinreichend für ein Mandat ist, aber das Plenum hat das wieder gestrichen. Die genauen Überhangregelungen muss ich noch eruieren. Die Kontingente der Länderverbände waren jedenfalls limitiert, aber der Reststimmenübertrag auf die Bundeslisten hätte wohl einen ähnlichen Effekt gehabt wie die heutige Regelung, falls nicht auch negative Reststimmen übertragen worden wären (wie in Ungarn). Nach dem Entwurf des Wahlrechtsausschuss sollten fehlende Sitze gegebenenfalls nach den meisten Reststimmen vergeben werden, aber nach der Änderung durch den Hauptausschuiss wären sie unbesetzt geblieben.

Gescheitert ist dieses Wahlgesetz schließlich am Einspruch der Besatzer (insbesondere der Franzosen), die separate Wahlsysteme der Länder und nur jeweils zugeteilte Sitzkontingente wollten (wenn die Union den Kompromiss mitgetragen hätte, wär er wohl trotzdem durchgekommen). Das letztlich beschlossene Rahmengesetz mit getrennten Wahlgebieten war ein Kompromiss. Das Quotensystem (ob faktisch Hare/Niemeyer oder was Anderes hab ich noch nicht ergründet) ist erst in der letzten Beratung des Hauptausschuss durch D'Hondt ersetzt worden; eventuell erklärt sich dadurch auch die Inkonsistenz bei der ursprünglich vorgesehenen Ausgleichslösung bei Überhang, die letztlich zu deren Streichung geführt hat.

Knapp gescheitert ist übrigens der Antrag der Union, ein zweigleisiges Wahlkreissystem für Flüchtlinge und Nichtflüchtlinge einzuführen (wobei man mit der damaligen Wahlscheinregelung absichtlich auch im jeweils fremden System wählen hätte können). Demgegenüber hat insbesondere die SPD schon damals die Wichtigkeit der Liste für Flüchtlings- und Frauenquote betont.

Das tatsächliche Wahlsystem von 1949 ist dann aber von den Ministerpräsidenten beschlossen worden. Entgegen dem Beschluss des Parlamentarischen Rats ist die Sperrklausel eingeführt, der Direktmandatsanteil von 50 auf 60 Prozent erhöht und die damalige Nachwahlregelung statt Nachrücken über die Liste beschlossen worden.
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Jens M.
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Sonntag, 12. Juni 2011 - 11:24 Uhr:   

@Bobo: Gemeint war mit "Blackbox" ja nicht dass bestehende System, sondern die hier diskutierten Veränderungsvorschläge, welche z.T. auf aufwändigen und nur noch am Computer zu leistenden und zu überprüfenden komplexen Iterationsverfahren bei der Mandatszuteilung beruhen.
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Bobo
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Donnerstag, 16. Juni 2011 - 01:05 Uhr:   

@Ratinger Linke:

Den aktuellen Vorschlag der Grünen habe ich in meinem Eingangsartikel im
Hinblick auf eine denkbare Übergangsregelung, die mglw. unter gewissen
Bedingungen vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden könnte,
erwähnt.

Bei so einer Übergangsregelung handelt es sich natürlich nicht um ein
Gesetz, denn das Bundesverfassungsgericht ist nicht der Gesetzgeber. Das
Gericht würde daher soviel wie möglich aus dem bisherigen
Bundeswahlgesetz respektieren. Dazu gehört auch, dass jeder
Wahlkreisgewinner einen Sitz erhält. Insofern ist der aktuelle Vorschlag
der Grünen in der Tat nur m.E. brauchbar, allerdings nicht was die
Kompensation sog. interner Überhangmandate angeht.

Das negative Stimmgewicht ist als verfassungswidrig festgestellt worden,
nicht aber Überhangmandate.

Das Kompensationsmodell der Grünen aus dem Jahre 2009 - ich bezeichne es
hier mit Gru2009 - garantiert jedem Wahlkreisgewinner einen Sitz.
Interne Überhangmandate werden kompensiert. Das verändert zwar den
Länderproporz, aber das geschieht ja auch bei der bisherigen Regelung.
Mglw. ist aber die Verzerrung nach dem Kompensationsmodell weniger
stark. (Das müsste man genauer analysieren.) Insofern hat man hier mglw.
auch eine gewisse zusätzliche Rechtfertigung für diese Verfahrensweise
in einer /Übergangsregelung/. Die eigentliche Rechtfertigung für die
Kompensation ist eben die Beseitigung des negativen Stimmgewichts,
welches durch interne Überhangmandate ermöglicht wird.

Der Eingriff von Gru2009 ist in gewisser Weise minimal, so dass Gru2009
durchaus attraktiv für eine Übergangsregelung ist.

Nimmt man Gru2009 für eine Übergangsregelung, dann stellt sich mglw. die
Frage, was denn passiert, wenn soviele externe Überhangmandate anfallen,
dass Mehrheiten, die sich nach dem Zweitstimmenproporz ergeben, kippen.
Ist das verfassungswidrig? Meines Erachtens wäre das für eine
Übergangsregelung, die auf Gru2009 basiert, überhaupt nicht relevant.
Wenn man anschließend feststellt (in einem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts natürlich), dass sich aufgrund zuvieler
externer Überhangmandate eine verfassungswidrige Situation ergibt - was
ich so noch nicht sehe, da wir eben kein /reines/ Verhältniswahlrecht
haben -, dann hätte die Konstitution des Bundestags durch die Wahl mit
Hilfe der Übergangsregelung dennoch Bestand.

Mfg Bobo
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Arno Nymus
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 16. Juni 2011 - 05:15 Uhr:   

Martin Fehndrich schrieb Das wird wohl in den meisten Fällen auch so sein, aber es ist auch denkbar, daß der Verlust weniger Stimmen zum Kippen vieler Sitze in der Oberverteilung führen würde. Die Sitzverteilung ergäbe dann trotz noch vorhandener Überhangmandate weniger Sitze.
Interessant wären die Zahlen für ein entsprechendes Beispiel, bei dem weniger Stimmen in Überhangländern zu einer geringeren Sitzanzahl führen als bei komplett ausgeglichenem Ergebnis.
Auf Anhieb sehe ich das Beispiel nicht - intuitiv würde ich vermuten, dass das nur möglich ist, wenn der Parteidivisor kleiner dem Bundesdivisor ist.
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 16. Juni 2011 - 05:19 Uhr:   

Technisch gesehn ist der minimale Eingriff ganz klar das Grabenwahlsystem, das außerdem den Vorteil hat, als einziger der kleineren (und schnell umsetzbaren) Eingriffe unzweifelhaft verfassungskonform zu sein (wenn das Bundesverfassungsgericht seine Ansicht nicht in allerjüngster Zeit völlig geändert hat). Man kommt dabei praktisch ausschließlich mit Streichungen im BWG aus und muss nichts dazuerfinden, während die anderen Lösungen in ziemlich großem Umfang völlig neue Regelungen brauchen.

Von der Wirkung her ist das natürlich schon ein großer Eingriff, aber wenn man danach geht, liegen klar die getrennten Wahlgebiete vorn, wenn man von komplexeren überhangerhaltenden Lösungen absieht. Sonst käme noch die Komplettstreichung der Wahlkreise infrage, wo man auch nichts erfinden muss, die Zulässigkeit klar ist und die Auswirkungen noch begrenzt sind. Speziell bei der internen Kompensation kommt man nicht an der Frage vorbei, wie es mit der Freiwilligkeit der Listenverbindungen ausschaut.

Dass die interne Kompensation den Länderproporz stärker verzerrt als der Status quo ist völlig klar; es werden ja gerade den Ländern, die eh schon unterrepräsentiert sind, Sitze genommen (von Ausnahmefällen, in denen etwa die Sperrklausel so stark in die andere Richtung verzerrt, dass das Resultat im Saldo besser ist, abgesehn).

Dass Mehrheitsumkehr kein Problem ist, ob sie nun von der Einhaltung der Wahlgleichheit oder ihrer Verletzung herrührt, ist nach den (korrekten) bisherigen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts eigentlich eh klar. Was SPD und Grüne dauernd davon runfaseln, ist völlig unqualifiziert. Die wirkliche Frage ist, unter welchen Bedingungen man bei der Wahlgleichheit Abstriche machen darf.
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Taugenichts
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 16. Juni 2011 - 12:28 Uhr:   

Bundestagspräsident Lammert beklagt mangelnde Fortschritte bei der Wahlrechtsreform:
http://www.sueddeutsche.de/politik/reform-des-wahlrechts-bundestagspraesident-lammert-beklagt-versagen-des-parlaments-1.1109128
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Taugenichts
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 16. Juni 2011 - 18:27 Uhr:   

Und ein Spiegel-Artikel:
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,768725,00.html
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Taugenichts
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 16. Juni 2011 - 18:37 Uhr:   

DLF-Interview mit Verfassungsrechtler Dieter Grimm:
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1482845/
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Arno Nymus
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 16. Juni 2011 - 19:37 Uhr:   

@Ratinger Linke:
ad Grabenwahlrecht: Ich bin nicht der Meinung, dass die Minimalität eines Eingriffes in das Wahlsystems an der zu streichenden Wortanzahl zu bemessen ist - insbesondere weil das für das Grabenwahlsystem auch nur deswegen funktioniert, weil die Sonderreglung für Einzelbewerber durch Zusammenstreichung zweckentfremdet werden kann, damit nur noch 299 Sitze für die Zweitstimmen überbleiben.
Abgesehen davon ist die nur durch Streichung entstehende Beschreibung für das Grabenwahlsystem objektiv betrachtet minderwertig.

Im Gesetz stände dann z.B.
"Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Abs. 1) wird die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber abgezogen. [...]
Die nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze [...]"

statt schlicht
"299 Sitze [...]".

Der Grund für Absatz 1 Satz 3 (Streichung eines Sitzes pro Einzelkandidat) ergibt sich dem Sinn nach außerdem aus Absatz 1 Satz 2 (Nichtberücksichtigung der Zweitstimmen von Wählern, die einen erfolgreichen Einzelkandidaten gewählt haben). Würde man Absatz 1 Satz 3 auf alle Wahlkreisgewinner ausweiten, wäre es im Sinne des Gesetztestextes nur logisch, dieses auch für Satz 2 zu tun. Damit wäre man dann beim Modell Teilgraben:
http://www.informatik.uni-bremen.de/~offerman/website/forschung/wahlen/teilgraben.html

ad Inhaltlich minimalster Eingriff, der sicher durchgeht: Die Trennung der Wahlgebiete ist meiner Ansicht nach nicht der kleinste Eingriff. Ein Bundeslisten-Modell (insbesondere das Modell der statischen Ländergewichte, bei dem die Landesverbände wie bisher eigene Listen erstellen, diese aber nach dem Wahlgesetz entsprechend der Bevölkerungsanteile in Bundeslisten zusammengeführt werden) wäre meiner Ansicht nach ein kleinerer Eingriff. Bei diesem System hat man nicht die 16-fache Verzerrung der Parteienaufteilung (insbesondere auch nicht die Unwirksamkeit von Stimmen für kleine Landesverbände), welche verfassungstechnisch problematisch werden könnten.
Bei dem Modell der autarken Länder ist es durchaus gut möglich, dass das BVG es kassiert, weil es nicht angebracht ist, bei einer Bundeswahl 16 mal die Rundungs-Verzerrungen hinzunehmen.
Wenn es Ihnen bei der Erörterung aber nicht um den objektiv minimalsten zweifelsfrei-verfassungskonformen Eingriff, sondern um den minimalsten Eingriff, der die Zustimmung der Union erhalten könnte, ging, stimme ich Ihnen vollumfänglich zu: Da dürfte das Modell Autarke Länder leider klar die Nase vorn haben. Dennoch bin ich mir sicher, dass bei dem Modell die nächste Verfassungsklage realistische Chancen hätte.

Bzgl. Mehrheitsumkehr wäre zu sagen, dass bei Vorhandensein des aktuellen §6(3) sie durchaus ein gewisses Problem darstellt. Wenn es extra einen Absatz gibt, der vermeiden soll, dass eine Mehrheitsumkehr in einem "denkbaren" Fall eintritt, stellt das Gesetz das Grundprinzip der Mehrheitsumkehr-Vermeidung offensichtlich als etwas Schützenswertes dar. Es dann an anderer Stelle nicht mehr zu schützen, ist zumindest fragwürdig.
Die einfachste Lösung wäre natürlich, den niemals angewandten Absatz §6(3) zu streichen, dann wäre dieser Widerspruch ausgeräumt.

(Beitrag nachträglich am 16., Juni. 2011 von Arno Nymus editiert)
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Thomas Frings
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Donnerstag, 16. Juni 2011 - 21:07 Uhr:   

"Bei dem Modell der autarken Länder ist es durchaus gut möglich, dass das BVG es kassiert, weil es nicht angebracht ist, bei einer Bundeswahl 16 mal die Rundungs-Verzerrungen hinzunehmen."
Deswegen wird das BVerfG das wahrscheinlich nicht kassieren. Eher wären erheblich unterschiedliche Stimmgewichte in den einzelnen Ländern der Grund.


"Bzgl. Mehrheitsumkehr wäre zu sagen, dass bei Vorhandensein des aktuellen §6(3) sie durchaus ein gewisses Problem darstellt. Wenn es extra einen Absatz gibt, der vermeiden soll, dass eine Mehrheitsumkehr in einem "denkbaren" Fall eintritt, stellt das Gesetz das Grundprinzip der Mehrheitsumkehr-Vermeidung offensichtlich als etwas Schützenswertes dar. Es dann an anderer Stelle nicht mehr zu schützen, ist zumindest fragwürdig.
Die einfachste Lösung wäre natürlich, den niemals angewandten Absatz §6(3) zu streichen, dann wäre dieser Widerspruch ausgeräumt."
Eine Mehrheitsklausel kann nur die Mehrheit einer einzigen Partei garantieren, aber nicht die einer Koalition. Zumindest dann nicht, wenn man das Wahlsystem nicht sehr grundlegend ändern will (und z. B. etwas ähnliches wie in Italien einführt). Die jetzige Mehrheitsklausel ist in der Tat überflüssig. Erstens ist sie praktisch bedeutungslos, da noch nie eine Partei in die Nähe der absoluten Mehrheit gekommen ist und CDU und SPD tendenziell immer weiter davon weg sind. Zweitens ist sie Murks, denn die jetzige Mehrheitsklausel würde nicht unbedingt eine absolute Mehrheit herbeiführen, selbst wenn sie zur Anwendung käme, da Abs. 3 vor Abs. 4 anzuwenden ist. Umgekehrt könnte die Mehrheitsklausel aber auch dann zur Anwendung kommen, wenn die absolute Mehrheit durch Überhangmandate bereits gegeben wäre.
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Freitag, 17. Juni 2011 - 03:08 Uhr:   

@Arno Nymus:

Letztlich gibt es keinen objektiv minimalsten Eingriff. Das hängt immer davon ab, wo man die Prioritäten im Wahlsystem sieht. Wenn man nach der Wirkung geht, dann ist jedenfalls Überhang ein potenziell sehr entscheidendes Merkmal des gegenwärtigen Wahlsystems, das typischerweise sicher mehr Auswirkungen hat als Rundungsfragen oder verschiedene Formen der Ländergewichtsbestimmungen. Beseitigung des Überhangs ist ein richtiger Eingriff, aber kein minimaler. Und es gibt viele Methoden dafür.

Falls das Bundesverfassungsgericht tatsächlich eine Regelung treffen muss (bzw. will), wird es sich zumindest formal auf formale Gesichtspunkte beschränken müssen (wobei praktisch wie immer auch praktische Gesichtspunkte eine Rolle spielen würden). Einen richtigen Gesetzestext wird es ohnehin nicht vorlegen.

Die interne Kompensation (und virtuelle Bundeslisten sind im Prinzip nichts Anderes) ist nicht zweifelsfrei verfassungskonform. Das Problem wird auch dadurch nochmal komplizierter, dass schon der Status quo nicht zweifelsfrei verfassungskonform ist, selbst wenn man vom negativen Stimmengewicht absieht (etwa bei einem Ergebnis, wo nur die CSU überhängt), und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dazu noch aussteht (wozu aber bereits ein neues Wahlgesetz erforderlich ist).

Realistisch betrachtet hat das Bundesverfassungsgericht kaum eine andere Wahl, als die Anwendung des bestehenden Wahlgesetz nochmal zu dulden, falls es nötig ist, oder gleich seine Entscheidung zu revidieren. Wenn es sich für eine Lösung entscheidet, muss man damit rechnen, dass es faktisch die Mehrheiten und damit das künftige Wahlgesetz willkürlich bestimmt und damit die Legitimation des gesamten politischen Systems dauerhaft von dieser willkürlichen Einzelentscheidung ausgeht. Damit fängt die eigentliche Krise erst an, anstatt dass sie beseitigt wird.

Alternativ könnte das Bundesverfassungsgericht (je nach Falllage) die Entscheidung delegieren. Ein grundsätzlich noch funktionsfähiges und halbwegs legitimiertes Gremium wär der verbliebene Teil der Bundesversammlung, der übergangsweise die Aufgaben des Bundestags übernehmen und insbesondere ein neues Wahlgesetz beschließen könnte. Wobei die Verfassungsmäßigkeit des BPräsWahlG auch ziemlich fraglich ist; da kann man genauso gut einen nach Status quo gewählten Bundestag nehmen.
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Florian das Original
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Freitag, 17. Juni 2011 - 13:18 Uhr:   

Vielleicht wurde die Frage schon mal gestellt, habe es aber eben nicht gefunden:

Was passiert eigentlich, wenn der Bundespräsident sagen wir mal am 1.8.2011 den Bundestag auflöst?

Gilt dann doch noch einmal das alte Wahlrecht?
Oder was ist dann sonst die Lösung?

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