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Archiv bis 03. Mai 2011

Wahlrecht.de Forum » Wahlsysteme und Wahlverfahren » Bundestagswahlen » Reform des Bundeswahlgesetzes » Archiv bis 03. Mai 2011 « Zurück Weiter »

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mmaneu
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 19. April 2011 - 17:16 Uhr:   

Gibt es eigentlich Anzeichen dafür, dass die aktuelle Wahlrechtsreformdebatte im Bundestag den Gedanken der Zweipersonenwahlkreise aufgreifen könnte?
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Thomas Frings
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 19. April 2011 - 18:15 Uhr:   

"Wie wäre es mit einer Reduzierung der Wahlkreise auf ein Drittel und dafür dann dort drei Personen nach stv. zu wählen inkl. der Möglichkeit der Parteien mehrere Kandidierende aufzustellen?"
1953 wollte der damalige Innenminister Robert Lehr Dreierwahlkreise einführen, allerdings mit d'Hondt. Inhaltlich halte ich davon wenig. Die Wahlkreise werden unterschiedlich groß sein und die Wahlbeteiligung auch, so dass das Stimmengewicht sich stark unterscheiden. In Irland lag die Droop-Quote in den Dreierwahlkreisen bei der letzten Wahl zwischen 8203 und 12069, obwohl man dort relativ geringe Abweichungen von der durchschnittlichen Einwohnerzahl pro Sitz hat. Beim üblichen STV mit Droop-Quote bleibt zwangsläufug mindestens ein Droop-Quote ohne Auswirkung auf die Sitzverteilung, bei Dreierwahlkreisen fallen also mindestens 25% der Stimmen unter den Tisch. So ein Wahlsystem hätte auch beträchtlichen Anreiz zum Gerrymandering. Bei STV mit Hare-Quote könnten große Parteien erheblich benachteiligt werden.

"Gibt es eigentlich Anzeichen dafür, dass die aktuelle Wahlrechtsreformdebatte im Bundestag den Gedanken der Zweipersonenwahlkreise aufgreifen könnte? "
Nein, und eine solche Änderung ist auch auszuschließen. An der Wahlkreiseinteilung hängt schließlich die Wiederwahlwahrscheinlichkeit der Abgeordneten. Das gilt sogar für die, die über die Liste gewählt wurden.
Ich meine aber, dass eine sinnvolle Personalisierung auch ohne Wahlkreisreform machbar wäre. Mann könnte ja einfach alle Sitze auf die Wahlkreise unterverteilen. Dann müsste man natürlich (mindestens) zwei Bewerber pro Wahlvorschlag zulassen. Sinnvoll wäre dann noch, dass derselbe Wahlvorschlag in mehreren Wahlkreisen gleichzeitig antreten dürfte und die Stimmen dann zusammengezählt würden, um eine Vielzahl aussichtloser Wahlvorschläge zu vermeiden. Die Parteien würden dann ihr Kandidaturverhalten ihrer regionalen Stärke anpassen, so dass es kaum einen Wahlkreis ohne "eigene" Abgeordnete gäbe. So ein System wäre inhärent überhangsicher.
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Marc K.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 19. April 2011 - 21:01 Uhr:   

@Thomas Frings,

dass es im Bundestag eine Merheit dafür gibt die Landeslisten aufzulösen, halte ich aber für gleichermaßen unrealistisch.

Es wird wahrscheinlich auf eine Minimalreform rauslaufen.

Gegenwärtig aktueller ist die Frage der politischen Entwicklung in anderen Bereichen: etwa der Energiepolitik.
Möglicherweise bietet sich die Chance zu einer Einigung zwischen CDU/CSU, FDP und SPD auf einen gemeinsamen Fahrplan für den Atomausstieg und damit für einen "echten Energiekonsens." Die Grünen könnten dabei links liegen gelassen werden.
Neben Stuttgart21 - das dieses Jahr in BW mit der Unterstützung von CDU, FDP und SPD gegen die Grünen durchgesetzt werden könnte - bietet sich damit die Chance zusammen den Grünen Ofen kalt zu stellen.

Gelingt dies würde auch eine bessere Atmosphäre zwischen CDU/CSU, FDP und SPD entstehen, die auch die Kompromißbereitschaft der Union in Bezug auf die Wahlrechtsfrage erhöhen dürfte - etwa in Richtung des Vorschlags der SPD: Ausgleichsmandateregelung.



(Beitrag nachträglich am 20., April. 2011 von Marc editiert)
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Mittwoch, 20. April 2011 - 09:46 Uhr:   

Die Koalition hat laut taz noch (oder schon) 5 Wahlsysteme zur Auswahl. Unbekannt ist allerdings, ob das grundlegend verschiedene sind oder ob sie sich z.B. nur dadurch unterscheiden, ob ungültige Stimmen mitzählen oder nicht.
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Arno Nymus
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 30. April 2011 - 03:04 Uhr:   

@Thomas Frings ( http://www.wahlrecht.de/cgi-bin/forum/show.cgi?tpc=172&post=34129#POST34129 )
Die im Einleitungspost eingebrachte minimal-invasive Lösung für die Bundeswahlrechtsreform halte ich für sehr gelungen, sofern man eine möglichst geringe Änderung des Systems möchte (wie scheinbar 4 der 5 Bundestagsfraktionen).
Einzig §6(6), Satz 2 würde ich ändern zu "Der Partei werden Direktmandate in entsprechender Anzahl in aufsteigender Reihenfolge des Anteils ihrer Bewerber an den Wahlberechtigten im Wahlkreis gestrichen."
Ich würde sagen, es ist durchaus angebracht, Bewerber aus Wahlkreisen mit geringerer Wahlbeteiligung NICHT zu bevorzugen - die Gewichtung sollte also anhand der Wahlberechtigten und nicht anhand der Wähleranzahl geschehen.

@Stefan F. ( http://www.wahlrecht.de/cgi-bin/forum/show.cgi?tpc=172&post=34183#POST34183 ) und
@Ratinger Linke ( http://www.wahlrecht.de/cgi-bin/forum/show.cgi?tpc=172&post=54124#POST54124 )
IRV und STV sind keine Lösung. Die Nicht-Erfüllung der Monotonie-Bedingung und das daraus resultierende negative Stimmgewicht bzw. die Umkehrung des Wählerwillens sind keine tolerierbare Voraussetzung für ein Wahlrecht:
http://de.wikipedia.org/wiki/Instant-Runoff-Voting#Paradoxes_und_M.C3.A4ngel

Eine Möglichkeit wäre aber vielleicht die Zutimmungswahl (Approval Vote) - wo man also alle Kandidaten ankreuzt, denen man den Posten zutraut. Dabei ist zwar nicht gewährleistet, dass ein Kandidat, der von einer relativen Mehrheit als der beste angesehen wird, gewählt wird - aber es ist gewährleistet, dass derjenige den Posten bekommt, der von den allermeisten als für den Posten befähigt angesehen wird.

@Philipp Wälchli ( http://www.wahlrecht.de/cgi-bin/forum/show.cgi?tpc=172&post=34185#POST34185 ):
Die Borda-Wahl ("umgekehrtes Punktesystem") beinhaltet ein Wählerzuwachsparadoxon, das dazu führen kann, dass die Nichtberücksichtigung eines Kandidaten A dazu führt, dass statt Kandidat B Kandidat C gewinnt:
http://de.wikipedia.org/wiki/Borda-Wahl

@Georg Götz ( http://www.wahlrecht.de/cgi-bin/forum/show.cgi?tpc=172&post=34186#POST34186 ):
Das von ihnen geschilderte "niederländische System" ist dann aber im Wesentlichen ein zweistufiges Hare-Niemeyer, welches eben auch die selben Paradoxien wie Hare-Niemeyer enthält (Sitzzuwachsparadoxon, Wählerzuwachsparadoxon):
http://de.wikipedia.org/wiki/Hare-Niemeyer-Verfahren#Eigenschaften

Clovis schrieb( http://www.wahlrecht.de/cgi-bin/forum/show.cgi?tpc=172&post=50423#POST50423 ):

quote:

Ich bin mir ziemlich sicher das dies vom BVerfG vorgeschlagen wurde, woraus ich schließe, dass ein Wahlrecht ohne die Möglichkeit von Listenverbindungen verfassungskonform wäre.



Nein. Das BVG schrieb "kann eine Neuregelung sowohl beim Entstehen der Überhangmandate oder bei der Verrechnung von Direktmandaten mit den Zweitstimmenmandaten oder auch bei der Möglichkeit von Listenverbindungen ansetzen."
Daraus ist nicht zu schließen, dass das BVG davon ausgeht, dass die Aufhebung der Listenverbindungen das Problem komplett behebt, sondern nur, dass sie es als ersten Schritt einer möglichen Lösung betrachten.

@Clovis ( http://www.wahlrecht.de/cgi-bin/forum/show.cgi?tpc=172&post=50592#POST50592 ):
Gerade bei einem mathematisch klar definiertem Hintergrund sollte man statistische Korrelation NICHT mit kausalem Zusammenhang gleichsetzen! Entsprechend ist die dort dargelegte Argumentation nicht stichhaltig.

Mark K. schrieb ( http://www.wahlrecht.de/cgi-bin/forum/show.cgi?tpc=172&post=61566#POST61566 ):

quote:

Sofern Überhangmandate ausgeglichen werden, kann der Wegfall eines Überhangmandates durch mehr Zweitstimmen nicht die relative Stärke der Partei im Parlament negativ beeinflussen



Doch, auch bei der Ausgleichsregelung kann sich der relative Mandatsanteil verringern, wenn auch in geringem und schwer vom Wähler vorhersehbarem Ausmaß, vgl. die sehr ausführliche Diskussion (inklusive Beispielen) hierzu zwischen Ratinger Linke und Thomas Frings in folgendem sowie den darauffolgenden 15 Posts:
http://www.wahlrecht.de/cgi-bin/forum/show.cgi?tpc=172&post=54819#POST54819

Mark K. schrieb ( http://www.wahlrecht.de/cgi-bin/forum/show.cgi?tpc=172&post=61590#POST61590 ):

quote:

Das BVerfG hat in seiner Urteilsbegründung ja ausdrücklich ausgeführt, dass die Gleichheit nicht absolut gilt, sondern durch zwingende Erfordernisse eingeschränkt sein kann sofern diese Einschränkung verhältnismäßig ist [...] Wenn Sie das Urteil noch einmal genau lesen sehen Sie, dass das BVerfG die Verfassungswidrigkeit des negativen Stimmgewichts nur wegen einem negativen Ergebnis dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung festgestellt hat.



Die Verhältnismäßigkeitsprüfung enthält aber, dass die entsprechende Einschränkung der Gleichheit einen Zweck verfolgt, d.h. die Einschränkung wird hingenommen als Preis für "zwingende Erfordernisse".
Das BVG fasst offensichtlich die allgemein bekannten Argumente für ie Sperrklausel als hinreichend auf, dass die Sperrklausel unter das Prädikat "zwingende Erfordernisse" gestellt wird.

Insofern: Inwiefern kann das negative Stimmgewicht ihrer Meinung nach unter das Prädikat "zwingende Erfordernisse" kommen, so dass eine Einschränkung der Gleichheit gerechtfertigt werden könnte?
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 30. April 2011 - 05:29 Uhr:   

Eine Verletzung des Monotoniekriteriums ist eine äußerst unerwünschte Eigenschaft, aber kein Totschlagargument. Es gibt im Allgemeinen kein Wahlverfahren, das keine absolut unerwünschten Eigenschaften hätte.

Das negative Stimmengewicht bei Bundestagswahlen ist auch nur eine unerwünschte Eigenschaft, die man problemlos durch noch unerwünschtere ersetzen kann, wie die aktuelle Diskussion zeigt. Eigentlich ist es gar nicht sonderlich problematisch, solang es nicht bei Nachwahlen und dergleichen auftritt, wo man aber viel einfacher bei der Nachwahl ansetzen kann. Letztlich war es im Wesentlichen auch nur ein Strohmannargument, um den Überhang mit seinen Auswirkungen auf die Wahlgleichheit loszuwerden, aber ob die Rechnung aufgeht, ist fraglich.

IRV ist trotz seiner Mängel das beste Verfahren zur Besetzung von Einzelposten oder Gesamtgremien, wenn bei der Wahl die Parteizugehörigkeit und nicht die Person im Mittelpunkt steht. Die praktische Relevanz der Monotonieverletzung ist ziemlich gering.

Approval Voting funktioniert in der Theorie, wenn alle Wähler ehrlich sind, halbwegs gut (tendenziell mit den Mängeln von Condorcet), aber man braucht bei Einzelpostenwahlen nicht viel Durchblick, um taktisch sinnvoll zu wählen, und dann läuft es effektiv auf relative Mehrheitswahl raus; faktisch wird die Wahl zwischen den beiden vermuteten Spitzenkandidaten entschieden, ziemlich unabhängig von den realen Präferenzen.
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Marc K.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 30. April 2011 - 13:33 Uhr:   

@Arno Nymus

Insofern: Inwiefern kann das negative Stimmgewicht ihrer Meinung nach unter das Prädikat "zwingende Erfordernisse" kommen, so dass eine Einschränkung der Gleichheit gerechtfertigt werden könnte?

Das Wahlsystem verfolgt unterschiedliche Zielsetzungen:
Das gegenwärtige Wahlgesetz schreibt das Modell einer personalisierten Verhältniswahl fest. Dabei handelt es sich um ein Verhältniswahlsystem.
In Bezug auf die Wahl in den Wahlkreisen gilt eine relative Mehrheitswahl, die durch die Verrechnung mit den Listenmandaten in das Verhältniswahlsystem integriert ist.

In diesem System ist systemimanent die Möglichkeit von Überhangmandaten gegeben. Das bedeutet aber nicht unbedingt negatives Stimmgewicht. Das entsteht durch die Unterverteilung auf die Länder.
Der Vorschlag der bundesweiten Verrechnung (Grünen-Vorschlag von 2009) würde den innerparteilichen Proporz zwischen den Ländern verändern und insoweit zu Verzerrungen führen.
Die Vermeidung einer solchen Ergebnisses ist an sich ein legitimes Ziel.
Das BVerfG erkennt dies auch an.
Es führt zu den "zwingenden" Gründen aus:

Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen muss, wie dies etwa in Fällen der Kollision des Grundsatzes der Wahlgleichheit mit den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen oder den Grundrechten der Fall sein kann. Differenzierungen im Wahlrecht können auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann

Eine Regelung die dabei das sog. negative Stimmgewicht - dessen praktische Relevanz ohnehin minimal ist - weitgehend minimiert - wie das bei einer Ausgleichsmandateregelung der Fall ist, dürfte von daher diese Vorgaben erfüllen.
Das BVerfG setzt selbst das "zwingend" in Anführungszeichen. Gemeint sind damit gewichtige Gründe - die gerade nicht zwingend - im Sinne von alternativlos - sein müssen, wie das BVerfG selbst ausführt. Von daher ist der Terminus "zwingend" irreführend....
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 30. April 2011 - 14:00 Uhr:   

Die interne Kompensation führt nicht zu Verzerrungen beim innerparteilichen Proporz, sondern verstärkt diese nur. Ursache der Verzerrung ist der Überhang an sich und nicht dessen Verrechnung. Dass der Regionalproporz (noch dazu ein lediglich innerparteilicher) kein zwingender Grund ist, ist aufgrund der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts völlig klar; bloß kann die Freiheit der Wahl unzumutbar beeinträchtigt werden, wenn bestimmte Landeslisten trotz rechnerischem Sitzanspruch praktisch überhaupt keine Chance auf ein Mandat mehr haben. Das lässt sich aber mit milderen Mitteln vermeiden.

Ausgleich minimiert das negative Stimmengewicht nicht. Er senkt bezüglich der Mandatsanteile die Größe der Rücksprünge, erhöht aber dafür deren Zahl. Bezüglich der absoluten Sitzzahlen, um die es im Urteil gegangen ist, ändert der Ausgleich gar nichts.
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Marc K.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Samstag, 30. April 2011 - 21:49 Uhr:   

@RL,

wir hatten diese Debatte schon geführt: Aus den Ausführungen des BVerfG läßt sich nicht entnehmen, ob das Kriterium zwingend die absolute Sitzzahl ist oder nicht das relative Gewicht im Parlament.


Das BVerfG führt zu der Frage aus:


Föderale Belange können grundsätzlich bei der Ausgestaltung des Wahlrechts berücksichtigt werden und sind geeignet, eine angemessene Differenzierung der Wählerstimmen zu rechtfertigen. Das Bundesstaatsprinzip erlaubt dem Gesetzgeber, sich auch an dem gliedstaatlichen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland zu orientieren. Auf dieser Grundlage formieren sich die Parteien als Landesparteien oder als Verbände von Bundesparteien (vgl. § 2 PartG). Die Rücksichtnahme auf die bundesstaatliche Gliederung und auf die ihr folgende Organisation der Parteien auch im Wahlrecht ist damit verfassungsrechtlich legitimiert (vgl. BVerfGE 95, 335 <350>).

und:

Die Regelung der § 6 und § 7 BWG, wonach die Direktmandate auf die nach der Unterverteilung auf Landesebene errechnete Anzahl der Listenmandate angerechnet werden, ist zwar geeignet, die bundesstaatliche Gliederung und den ihr folgenden Aufbau der Parteien im Wahlrecht zu berücksichtigen.

Mithin erfüllt die Regelung immerhin schon die erste Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung. In Bezug auf Erforderlichkeit und Angemessenheit gibt es ohnehin einen weiten gerichtlichen Beurteilungsspielraum.
In Bezug auf die gegenwärtige Regelung hat das BVerfG dies verneint. In Bezug auf eine andere Regelung - etwa mit Ausgleichsmandaten - kann diese Verhältnismäßigkeitsprüfung anders ausfallen.
Wichtig ist dabei auch, welches reale Gewicht das negative Stimmgewicht hat und in welchem Kontext es auftritt:

Das BVerfG führt hierzu zu aus:


Die Regelungen des § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG sind auch nicht geboten, um eine mit den Überhangmandaten möglicherweise verbundene Verzerrung der Erfolgswertgleichheit zu reduzieren. Dies folgt schon daraus, dass diese Regelungen nicht folgerichtig auf die Reduzierung von Überhangmandaten abgestimmt sind.

Im Fall einer Ausgleichsmandateregelung würde - in einigen Fällen möglicherweise als Nebenfolge - negatives Stimmgewicht auftreten gerade um eine Verzerrung des der Erfolgswertgleichheit zu reduzieren.
Mithin kann dies gerade einen solchen "zwingenden" Grund darstellen, der ja gerade nicht "zwingend" im eigentlichen Sinne sein muss. Vielmehr ist ein sachlicher Grund ausreichend (der vorliegt, sofern dieser eine VMK-Prüfung besteht).


Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen muss, wie dies etwa in Fällen der Kollision des Grundsatzes der Wahlgleichheit mit den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen oder den Grundrechten der Fall sein kann. Differenzierungen im Wahlrecht können auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann
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Arno Nymus
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 01. Mai 2011 - 03:31 Uhr:   

@Mark K.: ok, dann war der gemeinte "zwingende Grund" also der partei-interne Regional-Proporz. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob das beim BVG die Verhältnismäßigkeitsprüfung besteht, aber ausschließen würde ich es nicht.

@Ratinger Linke:
Es gibt zwar kein Wahlsystem, welches alle Kriterien erfüllt, aber die Kriterien sind auch sehr unterschiedlich wichtig bzw. aussagekräftig.
Die Monotonie-Bedingung halte ich für sehr wichtig.
Wenn ein Kandidat gewählt wird, dann in den nächsten Jahren einen guten Job macht und Wähler auf seine Seite zieht und DESWEGEN abgewählt ist... dann ist das einfach nur noch ein Armutszeugnis für das Wahlsystem.
Eben das kann mit IRV passieren und dieser Fall ist eben auch nicht gerade unwahrscheinlich. Alleine, wenn ich mir die Stimmverhältnisse der drei großen Parteien (SPD, GRÜNE, CDU) aktuell in Bremen anschaue, dann ergibt sich daraus der Fall der Monotonie-Verletzung und das auch noch mit recht großem Spielraum. Da können sich gut und gerne 5-10% Wählerstimmen (insbesondere der SPD) verschieben und es ist immer noch die selbe Monotonie-Verletzung daraus ableitbar.
Es handelt sich also nicht um sehr lokal beschränkte Monotonie-Verletzungen, sondern umfangreiche.

Da ist selbst Plurality Vote um einiges besser, selbst wenn dieses System den Wähler zwingt, nur seine populärere Zweitpräferenz zu wählen, um seine Stimme nicht zu verschwenden. Dabei ist die Wirkweise der Stimme immerhin nachvollziehbar und immer gleichartig nicht negativ.

Vgl. hierzu auch die grafische Darstellung, wie sich einige gängige Wahlverfahren in Standardfällen verhalten:
http://rangevoting.org/IEVS/Pictures.html
Während die meisten Wahlverfahren ordentliche Ergebnisse liefern, weißt IRV auch für viele einfache Fälle abstruse Ergebnisse auf.

Insofern kann ich Dir bzgl. IRV nicht zustimmen. Es ist meines Erachtens sogar das schlechteste Verfahren für Einer-Wahlkreise - ich würde selbst Plurality Vote bevorzugen.


Bzgl. Approval Vote: wenn man annimmt, dass man hier wegen der gleichen Situation (2 große Kandidaten, viele Aussichtslose) ebenfalls taktisch wählt wie bei Plurality Vote, so würde man dabei im schlimmsten Fall genauso abstimmen wie bei Plurality Vote (nämlich nur einen populären Kandidaten), in der Regel aber etwas ehrlicher, indem man neben dem populären Kandidaten auch seine tatsächliche Erstpräferenz ankreuzt und alle, die man besser findet als den angekreuzten populären Kandidaten.
Insofern ist Approval Vote unter der Voraussetzung, dass man von taktischem Wählen ausgeht, wohl immer mindestens so gut wie Plurality Vote.

Wenn man nicht von taktischem Wählen ausgeht, kann Approval Vote in gewisser Weise das Majoritätskriterium verletzen: selbst wenn 51% einen bestimmten Kandidaten als den besten auffassen, könnte ein anderer gewählt werden, z.B. ein Kandidat, der von 60% der Bevölkerung für fähig gehalten wird (während der von 51% bevorzugte Kandidat von 45% der Menschen als komplett unfähig betrachtet wird). Approval Vote liefert also nicht den Kandidaten, der von der Mehrheit als der beste angesehen wird, sondern den Kandidaten, der von der (größeren) Mehrheit als für den Posten befähigt angesehen wird. Hierdurch haben "Konsens"-Kandidaten einen Vorteil gegenüber Extremisten.
Die Stimmzahl des Gewinners ist bei Approval Vote natürlich immer mindestens so hoch wie bei Plurality Vote - in der Regel höher.
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 01. Mai 2011 - 11:20 Uhr:   

@Arno Nymus:
"Da ist selbst Plurality Vote um einiges besser, selbst wenn dieses System den Wähler zwingt, nur seine populärere Zweitpräferenz zu wählen, um seine Stimme nicht zu verschwenden."

Wenn es eine eindeutig populärere Zweitpräferenz gibt, tritt auch die Verletzung des Monotoniekriteriums nicht auf. Das passiert gerade dann, wenn es (nach Streichung der irrelevanten Möglichkeiten) 3 oder mehr ähnlich starke höchste Präferenzen gibt und damit die Streichungsregel entscheidend wird.

Das Beispiel in der Wikipedia ist zwar falsch (Änderungen bei kompletter Umkehrung der Präferenzen stellen keine Verletzung des Monotoniekriteriums dar), aber im Prinzip illustriert es schon das Problem, das real auftreten kann. Im Fall von Union, SPD und Grünen wär ein wirkliches Beispiel:

35 SPD > Grüne > Union
32 Grüne > SPD > Union
33 Union > Grüne > SPD

Die Grünen sind der Condorcetsieger, werden aber als erstes gestrichen. Die entscheidenden Eigenschaften dieser Situation sind, dass es 2 klar getrennte Lager gibt, von denen eines in sich gespalten ist und im anderen klare Zweitpräferenzen bezüglich des anderen Lagers existieren. Dass die Zweitpräferenzen auf der Unionsseite derart eindeutig sind, ist unrealistisch, aber es kann schon eine schwächere Tendenz in diese Richtung reichen.

Die Anhänger der Union müssen bei relativer Mehrheitswahl Union wählen, weil sie da noch eine realistische Chance haben und ihre realen Präferenzen sicher Union >>> Grüne > SPD sind, die Entscheidung zwischen Zweit- und Drittpräferenz also ziemlich irrelevant. Bei Approval Voting können sie nur der Union eine Stimme geben. Die Anhänger der Grünen werden eher SPD wählen müssen, um eine Niederlage für ihr Lager zu vermeiden. Bei Approval Voting können sie zusätzlich für die Grünen stimmen. Die Anhänger der SPD können keine Zusatzstimme für die Grünen abgeben, weil sie damit den Sieg ihrer Erstpräferenz gefährden (außer sie vermuten genügend Blöde bei der Union, die auch den Grünen eine Stimme geben).

Wenn die Anhänger der Union bei relativer Mehrheitswahl aus taktischen Gründen doch die Grünen wählen würden, könnten sie das genauso bei IRV tun und damit deren Sieg sichern. Insofern ist IRV jedenfalls nicht schlechter als eine relative Mehrheitswahl.

Eine wirkliche Verletzung des Monotoniekriteriums wär nun, wenn ein Teil der Unionswähler ihre Letztpräferenz (SPD) zur Erstpräferenz macht:

35 SPD > Grüne > Union
32 Grüne > SPD > Union
31 Union > Grüne > SPD
2 SPD > Union > Grüne

Die Grünen sind immernoch der Condorcetsieger, werden nicht mehr vorzeitig gestrichen und gewinnen. In vergleichbaren Fällen liefert nur Condorcet vernünftige Ergebnisse, aber das Problem damit ist, dass damit auch Splitterparteien gewinnen können. Nicht viel weniger unrealistisch ist etwa dieses Beispiel:

49 SPD > ÖDP > Union
3 ÖDP > SPD > Union
48 Union > ÖDP > SPD

Hier ist die ÖDP Condorcetgewinnerin und würde im Beispiel allein die Bundesregierung stellen, wo schon die Frage ist, ob sie dazu personell überhaupt in der Lage ist.

Grundsätzlich könnte man auch IRV und Condorcet kombinieren, indem man etwa einen Condorcetsieger von der Streichung ausnimmt, sofern er einen gewissen Anteil an den höchsten Präferenzen (oder auch an Bordapunkten oder dergleichen) erreicht hat, aber mit solchen Systemen erzeugt man leicht zusätzliche Paradoxien.

Im Übrigen hat auch Condorcet das No-Show-Paradoxon, das das wirkliche Analogon zum negativen Stimmengewicht ist (zusätzliche Wähler, die A gegenüber B bevorzugen, ändern den Gewinner von A zu B).

Wenn man derartige Paradoxien und Zwang zu taktischem Wählen komplett verhindern will, muss man Random Ballot nehmen, das auf lange Sicht sogar Proportionalität bietet. Dafür kann es halt im Einzelfall wenig befriedigende Ergebnisse liefern.
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Marc K.
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 01. Mai 2011 - 13:08 Uhr:   

@Arno Nymus,

das negative Stimmgewicht kann - wenn auch nur in geringen Umfang - auch bei jeder Ausgleichsmandateregelung auftreten, so etwa auch bei Landtagswahlen.
Wenn man negatives Stimmgewicht per se für verfassungswidrig hält, müsste man also praktisch sämtliche Landtagswahlgesetze ebenso für verfassungswidrig halten.

Aus den Ausführungen des BVerfG ergibt sich das jedoch nicht. Es nennt mehrere mögliche Rechtfertigungen für das negative Stimmgewicht, so etwa die Erfolgswertgleichheit:

Die Regelungen des § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG sind auch nicht geboten, um eine mit den Überhangmandaten möglicherweise verbundene Verzerrung der Erfolgswertgleichheit zu reduzieren. Dies folgt schon daraus, dass diese Regelungen nicht folgerichtig auf die Reduzierung von Überhangmandaten abgestimmt sind.

Das wäre im Fall von Ausgleichsmandaten - und damit verbundenen denkbaren negativen Stimmgewicht - aber gerade anders.

Der einzige Unterschied einer Ausgleichsmandateregelung bei Bundestagswahlen zu der Ausgleichsmandateregelung bei den meisten Landtagswahlen wäre, dass es bei letzteren nur externe Überhangmandate aber keine internen Überhangmandate gibt. In einigen Bundesländern ist aber auch das anders.

Die Zulassung interner Überhangmandate läßt sich aber mit der Berücksichtigung der föderalen Gliederung im Wahlrecht begründen.

Die Regelung der § 6 und § 7 BWG, wonach die Direktmandate auf die nach der Unterverteilung auf Landesebene errechnete Anzahl der Listenmandate angerechnet werden, ist zwar geeignet, die bundesstaatliche Gliederung und den ihr folgenden Aufbau der Parteien im Wahlrecht zu berücksichtigen.

Das BVerfG hält dieses Ziel für legitim und stellt fest, dass diese Regelung auch geeignet zur Gewährleistung dieses Ziels ist.
Nur die Angemessenheit verneint es, da keine der möglichen Rechtfertigungen aus seiner Sicht ausreichend ist.
Die Gewährleistung der Erfolgswertgleichheit könnte aber gerade eine solche Rechtfertigung darstellen - wie das BVerfG selbst andeutet (nur ist die gegenwärtige Regelung darauf ja nicht angelegt, was im Fall einer Ausgleichsmandateregelung gerade anders wäre).


(Beitrag nachträglich am 01., Mai. 2011 von Marc editiert)
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Sonntag, 01. Mai 2011 - 14:03 Uhr:   

Interne Überhangmandate mit Ausgleich (verschiedener Art) gibts in den Ländern schon, nämlich in Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Berlin und Hamburg. Wobei in Bayern wegen der getrennten Wahlgebiete kein negatives Stimmengewicht möglich ist und in Rheinland-Pfalz die Methode undefiniert ist (kann man auch so interpretieren, dass zunächst intern zu kompensieren wäre).
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Arno Nymus
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Montag, 02. Mai 2011 - 02:10 Uhr:   

Ratinger Linke schrieb

quote:

Das Beispiel in der Wikipedia ist zwar falsch (Änderungen bei kompletter Umkehrung der Präferenzen stellen keine Verletzung des Monotoniekriteriums dar)



Die Zweit- und Drittpräferenz der Demokraten-Wähler kommt in dem Beispiel generell nicht zum Einsatz. Insofern kann man dort gerne republikanisch als Zweit- und Grüne als Dritt-Präferenz einsetzen, um den exakten Wortlaut des Monotonie-Kriteriums zu erfüllen. Am Ergebnis mit IRV ändert das nichts:

Erst verlieren die Demokraten. Wenn sie aber dann in der Gunst des Wählers schlechter abschneiden, gewinnen sie deswegen.

Ratinger Linke schrieb

quote:

Insofern ist IRV jedenfalls nicht schlechter als eine relative Mehrheitswahl.



Aber nur für den isolierten Fall, dass das Wahlergebnis genau so ist, wie Du es im ersten Beispiel geschildert hast. Sobald man es mit dem zweiten Beispiel von Dir (mit der Monotonie-Verletzung) in Beziehung setzt, sieht man, dass die SPD - sofern Sie mehr Wähler von sich überzeugt - durch IRV verliert.
IRV würde also die gestiegene Wähler-Unterstützung für die SPD in eine Niederlage der SPD ummünzen.
Bei Approval Vote und auch bei Plurality Vote würde sich die gestiegene Wähler-Unterstützung für die SPD nicht gegen die SPD auswirken.
Insofern ist IRV in dem Beispiel schon schlechter als Plurality Vote und auch Approval Vote.
Ehrlich gesagt ist (I)RV das einzige mir bekannte Mehrheitswahlsystem, welches Monotonie-Verletzungen erzeugt. Approval, Borda, Bucklin, Plurality, Range, Ranked Pairs und generell Condorcet-methods usw. usf. erfüllen alle dieses Kriterium.


Ratinger Linke schrieb

quote:

Im Übrigen hat auch Condorcet das No-Show-Paradoxon, das das wirkliche Analogon zum negativen Stimmengewicht ist (zusätzliche Wähler, die A gegenüber B bevorzugen, ändern den Gewinner von A zu B).



Hast Du da bitte gerade mal ein Beispiel? Besonders erfreulich wäre ein Beispiel mit einer möglichst einfach berechenbaren Condorcet-Methode, vllt. Ranked Pairs. ;)
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Montag, 02. Mai 2011 - 12:56 Uhr:   

Dass relative Mehrheitswahl und Approval Voting das Monotoniekriterium im Beispiel nicht verletzen, liegt aber nur daran, dass sie immer das schlechtere Ergebnis liefern. Insofern sind sie schon schlechter.

Beispiel für No-Show mit dem allgemeinen Grundschema von Perez:

11 y>x>t>u>z
10 u>z>y>t>x
10 x>z>t>y>u
2 u>z>t>y>x
2 u>t>z>y>x
2 z>y>x>t>u
1 t>z>y>x>u
1 x>y>t>u>z

Bei Ranked Pairs gewinnt t und verliert gegen z, wenn es einen zusätzlichen Wähler t>z>y>x>u gibt. Bei Schulze funktionieren z.B. 3 zusätzliche Wähler y>x>t>z>u.
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Arno Nymus
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 03. Mai 2011 - 02:27 Uhr:   

Schönes Beispiel. :-)
Also in der Tat erfüllen Condorcet-Methoden das No-Show-Kriterium ebenso wenig wie IRV.
Das von mir erwähnte Approval Voting erfüllt es hingegen - ebenso wie Plurality Voting (und auch Range Voting generell und Borda, aber ich will mal nicht abschweifen).

Ratinger Linke schrieb

quote:

Dass relative Mehrheitswahl und Approval Voting das Monotoniekriterium im Beispiel nicht verletzen, liegt aber nur daran, dass sie immer das schlechtere Ergebnis liefern.



Aber wohl nur, weil Du "schlechter" hier als "nicht das von IRV gelieferte" Ergebnis definierst.
Bei dem Beispiel gibt es eine deutliche Mehrheit für die eher links stehenden Parteien und innerhalb dieser Gruppe ist die SPD stärker.
In dem Beispiel liefern Approval Vote und Plurality Vote daher realistisch immer die SPD als Sieger.
IRV hingegen liefert nur solange ein SPD-Sieg, bis die SPD-Unterstützung bei den Wählern steigt... dann erklärt IRV die anderen zum Sieger.

Insofern: was meinst Du mit "schlechter"?

PS: Oder meinst Du mit schlechter "nicht das Condorcet-Kriterium" erfüllend, was bekanntlich nur von Condorcet-Methoden erfüllt wird, welche - wie Dein Beispiel anschaulich zeigt - dafür das "No Show-Kriterium" verletzen.
Wenn das aber Deine Definition von "schlechter" wäre, wäre IRV aber grundsätzlich schlechter als alle Condorcet-Methoden. IRV wäre also wiederum nicht die beste Wahl.
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 03. Mai 2011 - 10:27 Uhr:   

In solchen Fällen halt ich in der Tat das Condorcetkriterium für vernünftig und ein Verfahren für mangelhaft, das den Condorcetsieger nicht wählt. Andererseits gibt es aber auch Condorcetsieger, die für die Wähler irrelevant sind und nicht gewählt sein sollten. Das Problem an Condorcet ist, dass es keinen Unterschied macht, ob die Erstpräferenz gegen die Letztpräferenz gewinnt oder die vorletzte gegen die letzte.

Grob gesagt sollte ein Condorcetsieger dann gewählt sein, wenn er einen bestimmten Anteil an exponentiellen Bordapunkten (z.B. Erster 16, Zweiter 8, Dritter 4, ...) oder einfacher ein Quorum an Erstpräferenzen erreicht. Ich bin aber nicht so naiv, zu glauben, dass sich damit ein Verfahren ohne grobe andere Mängel basteln ließe. Insbesondere wird der Grenzfall dazu, dass es keinen Condorcetsieger gibt, immer problematisch sein.

Für praktische Anwendungen in Deutschland halt ich IRV für geeignet, und normale Stichwahlen, die die gleichen Probleme haben, werden ja auch tatsächlich durchgeführt. Über die Streichungsregel kann man im Detail allerdings diskutieren. Bei Sachentscheidungen, wo sich das Problem der Irrelevanz einzelner Alternativen weit weniger stellt und auch die Frage der Qualität unabhängig von der politischen Positionierung kaum relevant ist, ist aber Condorcet besser.
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Clovis
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Dienstag, 03. Mai 2011 - 11:30 Uhr:   

Guten Tag RL & AN,

nur mal so nachgefragt, was haben eigentlich die von Euch diskutierten Verfahren mit der "Reform des Bundeswahlgesetzes" zu tun?

Man könnte natürlich die Direktmandate nach einem Condorcetverfahren wählen lassen, wobei man Erst- und Zweitstimme als entsprechende Präferenz deuten könnte. Ich bin mir unschlüssig, ob weitere Präferenzen große praktische Bedeutung hätten. Dies hätte den Charme, dass man Direktmandate in Wahlkreisen ohne Condorcetsieger einfach unbesetzt lassen könnte. Die Proporzmandate müßten dann natürlich aufgrund der Erstpräferenzen vergeben werden. Ich vermute, dass es dann auch keine, oder sehr wenige Überhangmandate gäbe. Außerdem könnte man ein Herz für die Anhänger von Kleinparteien zeigen, und bei den Wählern, deren Erstpräferenz die 5%-Hürde reißt, die Zweitstimme als Proporzstimme zählen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit,
Clovis
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Arno Nymus
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 03. Mai 2011 - 23:05 Uhr:   

@Clovis: Frage gefragt und selbst beantwortet - vorbildlich ;)
In der Tat geht es bei der Diskussion darum, welches Wahlsystem geeignet ist bei der Direktwahl.

Bei Anwendung einer Rangfolgewahl (z.B. IRV, Condorcet Methoden) würde man also nicht mehr einfach ein Kreuz als Erststimme machen, sondern Kandidaten durchnummerieren. Die Zweitstimme direkt in diese Präferenzen einzubeziehen, würde ich allerdings für eher ungünstig halten.
Analog würde man bei Verwendung von Approval Voting nicht ein Kreuz für die Erststimme machen, sondern so viele Kreuze wie man Kandidaten für fähig hält (aber natürlich höchstens eines bei jedem Kandidaten).

Die Zweitstimme würde wie bisher benutzt werden (einfach ein Kreuz), um die proportionale Zusammensetzung zu garantieren und somit die Ergebnisse der Direktkandidaten einzubetten.

Das wäre natürlich nur die einfachste und durchschaubarste Möglichkeit.
Ihre Idee, dass man die Wahlkreise ohne eindeutigen Condorcet-Sieger unbesetzt lassen könnte, klingt interessant. Das dürfte zumindest die Zahl der Überhangmandate verringern (aber möglicherweise nicht sehr) - wenn auch das eigentliche Problem weiterhin geregelt werden müsste.

@Ratinger Linke, "exponentielle Bordapunkte": mir kam gestern der selbe Gedanke, aber ich denke, dass ein weiteres großes Problem der Rangfolgewahl die Nicht-Berücksichtigung der "Abstände" ist, d.h. Wenn ein Wähler Kandidat A und B etwa gleich stark einschätzt (mit leichter Präferenz für A) und C zutiefst verabscheut, ist seine Rangfolge A>B>C. Wenn ein Wähler A bevorzugt und B und C zutiefst verabscheut (mit leichter Präferenz für B), ist auch seine Rangfolge A>B>C.
Wenn man das berücksichtigt, landet man schnell z.B. bei Range Voting.

Dazu wäre zu sagen, dass Range Voting z.B. nicht das Majoritätskriterium und auch nicht das Condorcet-Kriterium erfüllt - die beiden Kriterien aber auch nicht geeignet sind, ein Verfahren nach Range Voting zu beurteilen. Z.B. das Condorcet-Kriterium ist für Rangfolgeverfahren (d.h. für die Eingabe individueller Präfernzenordnungen) entwickelt und auch letztlich nur für sie geeignet.
Beispiel: 51% der Bevölkerung geben A 10 Punkte und B 9 Punkte. 49% der Bevölkerung geben A 0 Punkte und B 10 Punkte. Das Majoritätskriterium und das Condorcet-Kriterium schreiben A als Sieger vor, weil A von der Mehrheit der Bevölkerung gebenüber B bevorzugt wird.
Wenn man sich die Werte aber ansieht, erkennt man, dass nur eine kleine Mehrheit A leicht gegenüber B bevorzugt (also wohl auch ganz gut mit B leben könnte), während eine nur geringfügig kleinere Bevölkerungsgruppe A offensichtlich zutiefst verabscheut und B bevorzugt. Wenn man hier die "Gesamt-Zufriedenheit" der Bevölkerung im Blick hat, wäre B der logische Sieger.
Anders formuliert: dass Range Voting nicht immer den Condorcet-Sieger gewinnen lässt ist analog dazu, dass Rangfolgeverfahren nicht immer den Kandidaten mit der einfachen realtiven Mehrheit gewinnen lassen.
Durch differenzierte Darstellung der Wählermeinung ist also das Verfahren zur Ermittlung des Siegers auf Basis der undifferenzierteren Darstellung der Wählermeinung nicht mehr geeignet.

Das Problem von Range Voting ist natürlich, dass es wieder taktisches Wählen hervorruft (wenn ich weiß, dass die Wahl sich zwischen Kandidat A und B entscheidet und ich für A bin, bewerte ich B mit dem schlechstmöglichen und A mit dem bestmöglichen Wert).
Für den Fall ist dann Approval Voting wieder besser, weil man den chancenreichen Kandidat ("C"), den man nicht mag, nicht mit Minuspunkten gegenüber den chancenlosen, extremistischen Kandidaten ("N") ausstatten kann, nur um "C" zu schaden.

Damit wäre ich wieder bei Approval Voting:
Approval Voting reduziert das taktische Wählen gegenüber Plurality Vote und erzeugt dabei nicht die den Rangfolgewahlen inhärenten Paradoxien.

Interessant wäre ja nun, ob noch weitere Stimmabgabeverfahren außer einfache Stimme, Präferenzordnung, Punktewertung (Range Voting, Approcal Voting) sinnvoll denkbar wären. Dazu: Hat jemand von Euch das Paper zum Theorem von Dhillon & Mertens gelesen (http://rangevoting.org/DhillonM.html)?
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Ratinger Linke
Registriertes Mitglied
Veröffentlicht am Dienstag, 03. Mai 2011 - 23:50 Uhr:   

Condorcet mit auf 2 (oder 3) limitierte Präferenzen ist schon eine interessante Idee, insbesondere in der Kombination als gleichzeitige Ersatzstimme für die Sperrklausel. Müsste man mal genauer durchdenken.

Normales Condorcet in Einerwahlkreisen ist jedenfalls überhangtechnisch hoch riskant, auch wenn es vielleicht in der Praxis momentan eher überhangreduzierend wär (ohne praktische Erfahrung sehr schwer abschätzbar). Unbesetzte Wahlkreise sind jedenfalls eher nicht wünschenswert; auch bei Streichung von Überhang wär eine anderweitige Besetzung sinnvoll.

Alle Verfahren, bei denen es vordefinierte (Borda) oder frei definierbare Abstände zwischen den Präferenzen gibt, haben das Problem, dass sie sehr anfällig für taktisches Wählen sind und dann in der Praxis entarten. Tendenziell gilt das auch schon für Approval Voting, wo man an 1 Punkt eine Differenzierung setzen kann.

Wirklich geeignet sind solche Verfahren eher in größeren Mehrerwahlkreisen, wo die wahltaktischen Bedingungen ausreichend intransparent sind, um in großem Stil ausgenutzt zu werden. Insbesondere halt ich das lettische System (Approval Voting mit der Möglichkeit negativer Stimmen; also faktisch je 0, 1 (= Voreinstellung) oder 2 Stimmen) zur listeninternen Personalisierung bis zur Größenordnung von längeren Landeslisten bei Bundestagswahlen für brauchbar, auch wenn der taktisch versierte Wähler noch einen deutlichen Vorteil hat.

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