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Wahlrecht.de Forum » Wahlsysteme und Wahlverfahren » Sitzzuteilungsverfahren: Hare/Niemeyer, d’Hondt etc. » Vorschriften über Sitzzuteilungsverfahren bei Wahlen zu den Ausschüssen? « Zurück Weiter »

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CHeine (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Sonntag, 11. November 2007 - 12:17 Uhr:   

Liebe Experten in Sachen Wahlrecht. Eine Frage zum Sitzzuteilungsverfahren bei Wahlen zu den Ausschüssen eines Stadtrates. In der Gemeinde- ordnung ist lediglich das Verhältniswahlrecht vorgeschrieben. Aber weder im Wahlgesetz noch in der Gemeindeordnung ist eine Ausage zum Sitz- zuteilungsverfahren bei der Ausschußbesetzung getroffen. Wie frei ist die Gemeinde bei der Wahl des Sitzzuteilungsverfahrens? Lediglich im Kommentar zur Gemeindeordnung steht: "Zulässig sind das Verfahren nach d'Hondt und nach Hare/Niemeyer".
Kann der Stadtrat dann ein abweichendes Verfahren festlegen (z.B. Sainte-Lague)?
Welche Grenzen gibt es überhaupt für verschiedene Verfahren? Gibt es eine Liste von in Deutschland "anerkannten" Verfahren?

Vielen Dank für Antworten!
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Matthias Cantow
Veröffentlicht am Sonntag, 11. November 2007 - 15:37 Uhr:   

Um nicht Verwirrung zu stiften, teile ich meine Antwort mal in zwei Teile (A. und B.):

A. Antwort nach dem derzeitigen Stand der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung

Ist in der Ermächtigungsgrundlage für die entsprechende Satzung der Gemeinde kein Zuteilungsverfahren vorgegeben, kann sich die Gemeindevertretung das Verfahren frei aussuchen.

Das gilt nach der herrschenden Meinung auch für den Gesetzgeber bei der Wahl eines Sitzzuteilungsverfahrens für Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen sowie nicht-politischen Wahlen wie Sozialwahlen, Betriebsratswahlen usw.

Kann der Stadtrat dann ein abweichendes Verfahren festlegen (z.B. Sainte-Lague)?

Ja, die Kommentierung der Gemeindeordnung hat keine bindende Wirkung für den Satzungsgeber. In der Regel beschreiben solche Gesetzeskommentierungen auch nur die Praxis, welche in der Vergangenheit angewandt wurde oder es wird auf die Ergebnisse der Rechtsprechung verwiesen. Inhaltliche Auseinandersetzungen der Kommentatoren mit den Verfahren sind selten und – wenn es sie gibt – zum größten Teil mathematisch falsch. In letzter Zeit tasten sich aber einige Kommentatoren vorsichtig an das Thema heran.

Welche Grenzen gibt es überhaupt für verschiedene Verfahren?

Das Verfahren müsste dem, für Verhältniswahlen aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit folgenden Maßstab der Erfolgswertgleichheit erfüllen. Bei der Prüfung dieses konkreten Maßstabs fiel das Ergebnis in der Vergangenheit aber zumeist so aus, dass beanstandete Ungleichheiten als verfassungsgemäß bewertet wurden (das letzte bekannte Beispiel für – nennen wir es mal „kreative“ – Rechtsfindung ist das Urteil des Staatsgerichtshofs in Baden-Württemberg vom 14. Juni 2007 (Wir können alles, außer Hochdeutsch (Teil 2) – Meldung vom 9. August 2007).

Jedoch gibt es Hoffnung, dass Richter den in der langjährigen Rechtsprechung entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstab einmal ernst nehmen, wie die zwei Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 17. März 2004 (Markt-Ergolding- und Landsberg-am-Lech-Urteil) beweisen, die aber noch nicht konsequent und bis zum Ende gedacht sind.

Gibt es eine Liste von in Deutschland "anerkannten" Verfahren?

Nein, das widerspäche ja der aktuell noch bestehenden Freiheit des Gesetz- bzw. Satzungsgebers bei der Auswahl des Sitzzuteilungsverfahrens. Es wird aber immer mal so etwa behauptet, wie etwa von Ronald Pofalla („ [...] es gibt drei anerkannte und etablierte mathematische Berechnungsverfahren [...]“) in einer Rede vor dem 15. Deutschen Bundestag (Plenarprotokoll 15/5 vom 30.10.2002, S. 174 [D]).

B. Meine Meinung

Es gibt keine Wahlfreiheit des Gesetz- bzw. Satzungsgebers, denn diese haben bei der Auswahl darauf zu achten, welches Sitzzuteilungsverfahren die in der bisherigen Verfassungsrechtsprechung zu diesem Problem aufgestellte Anforderung optimal erfüllt. Die Verwendung des Zuteilungsverfahrens nach d’Hondt wäre demnach ausgeschlossen, Sainte-Laguë sogar geboten.

Zur Zeit ist immer noch eine Wahlprüfungsbeschwerde zur Bundestagswahl 2002 (nein, kein Schreibfehler) in Karlsruhe anhängig, bei der das Bundesverfassungsgericht Gelegenheit hat, diese Thematik abschließend zu behandeln. Die Verzögerung der Entscheidung resultiert aus verschiedenen Gründen, so lag die Beschwerde neun Monate ungelesen beim damaligen Berichterstatter Hans-Joachim Jentsch und auch danach war seinem Berichterstatterschreiben nicht zu entnehmen, ob die Beschwerde gründlich gelesen wurde. Jentsch ist aber seit Oktober 2005 nicht mehr Berichterstatter und das Gericht hat noch für dieses Jahr eine Entscheidung angekündigt, so dass sich die Ausführungen unter A. erübrigen könnten.

Ich hoffe damit etwas zur Beantwortung der Fragen beigetragen zu haben.
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CHeine (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Sonntag, 11. November 2007 - 17:33 Uhr:   

Herr Cantow, vielen herzlichen Dank!
Da in unserer Gemeinde demnächst die Hauptsatzung und Geschäftsordnung überarbeitet wird, versuche ich, eine Mehrheit für Sainte-Lague zu finden (wir haben z.Z. Hare/Niemeyer, was in Sachsen schon "hochmodern" ist, da die meisten Gemeinden d'Hondt anwenden).
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Sonntag, 11. November 2007 - 17:34 Uhr:   

Dazu ein paar Anmerkungen:

Zu A: weitgehende Zustimmung. Allerdings ist zu beachten, dass in Deutschland kaum reine Verhältniswahlsysteme existieren. So ist bei den Wahlen der Landtage und des Bundestages ja überall die Verhältniswahl durch Wahlkreise mit in der Regel relativer Mehrheitswahl verbunden. Eine solche Mischung des Wahlverfahrens liegt in der Kompetenz der jeweiligen Gesetzgeber. Streng genommen könnte ein Parlament auch ein Mehrheitswahlverfahren vorsehen, eine verfassungsrechtliche Vorschrift, die zwingend Verhältniswahlen verlangt, dürfte in den meisten Landesverfassungen nicht existieren, im Grundgesetz jedenfalls existiert sie eindeutig nicht. Aus der Verbindung einer "reinen" Verhältniswahl mit z. B. Wahlkreisen und darin herrschendem relativen Mehrheitswahlrecht ergibt aber eben notwendigerweise Abstriche an dem Prinzip der Verhältnismässigkeit, somit auch an dem Kriterium der Erfolgswertgleichheit.
Die deutschen Gerichte haben denn auch in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass zwar das Prinzip der Erfolgswertgleichheit entscheidendes Kriterium für den Verhältniswahlteil eines Verfahrens ist, aber eben nur für diesen und durch andere Kriterien aus den anderen Teilen des Verfahrens durchbrochen werden kann. Die meisten der "unverständigen" Urteilssprüche begründen sich denn auch aus solchen Verbindungen verschiedener Verfahren und sich somit notwendig aneinander reibenden wenn nicht gar ausschliessender Prinzipien, erwähnt sei nur die Problematik der Überhangmandate.
Für Ausschüsse haben die Gerichte zudem ein anderes Prinzip aufgestellt, jenes der Spiegelbildlichkeit. In der Tat ist die Bestellung eines Ausschusses eine andere Sache als die eines Parlamentes. Es handelt sich dabei ja auch nicht um eine Urwahl, in der auf den Willen der Bürger als originäre Willensquelle des Staates rekurriert wird. Vielmehr soll die Entscheidung der Wähler nur noch einmal in verkleinerter Form abgebildet werden. Dass dazu andere Verfahren zulässig oder sogar geboten sind, erscheint zumindest mir einleuchtend, weil die Problematik eine andere ist. So kann bspw. das Auftreten von Rundungsdifferenzen bei knappen Mehrheitsverhältnissen dazu führen, dass sich die Mehrheit in einem Ausschuss gegenüber dem zugrunde liegenden Gremium verschiebt, etwa zu einem Patt führt oder gar umkehrt. Da erscheint dann bspw. die Forderung, ein Abbildungsverfahren müsse zumindest mehrheitserhaltend sein, durchaus diskutabel.

Daher zu B) entschiedener Widerspruch: Ich kann die (in diesem Forum immer wieder vertretene) Meinung, dass sich bestimmte Verfahren von Verfassungs wegen aufdrängen oder sogar nur allein zulässig seien, nicht teilen. Dies heisst meines Erachtens die "kreative" Rechtsprechung der Gerichte durch eine noch viel "kreativere" ersetzen. Eine Verfassung hat den Zweck, die absoluten Grenzen des staatlichen, politischen Handelns zu ziehen. Innerhalb dieser Grenzen sollten die politischen Akteure wie Regierung, Parlament, Parteien usw. aber weiten Spielraum haben. Wenn man nun gewissermassen durch die Hintertüre ungeschriebene Verfassungssätze einführt, aus denen bestimmte Vorgaben für politisches Handeln zu folgen scheinen und ausserdem auch noch konkrete Lösungen vorgezeichnet werden, dann hat die Verfassung ihre Aufgaben, Grenzen zu setzen und somit dem politischen Kräftespiel Regeln zu geben, verloren und wird gleichsam an die Stelle politischen Handelns und Entscheidens gesetzt. Politik wird dadurch dann nicht mehr zu einer Auseinandersetzung über Ziele und Zwecke, über die Wege, wie diese zu erreichen seien, und dabei über Kompromisse, zu berücksichtigende, auch divergierende Interessen usw., sondern letztlich eine Frage des "Rechthabens": Wer ist "genauer" auf der Linie der Verfassung.
Eine solche Haltung stellt dann allerdings einen Rückfall in eine vormoderne Zeit dar, in der es darum ging, "das Richtige" zu erkennen und zu tun, meist als "gottgegeben" hingestellt, zudem besteht auch eine Affinität zu sämtlichen Diktaturen der Geschichte, die ja stets vorgaben, das (einzig) Richtige und Notwendige zu tun, das die tumben Republikaner und Demokraten nicht zu tun vermochten.
Ich gebe freimütig zu, dass die Verbindung des Mehrheitswahlrechts mit dem Verhältniswahlrecht in den konkreten Ausgestaltungen in Deutschland wohl kaum als geglückt bezeichnet werden kann. Allerdings ist dies keine Frage, die die Rechtsprechung autoritativ lösen kann und soll, meiner Meinung nach auch nicht darf. Es handelt sich offensichtlich um eine klassische politische Fragestellung, die auch politisch gelöst werden muss. Und in der Tat gibt es ja in der letzten Zeit zumindest ein Nachdenken darüber, ob und wenn ja welche Änderungen der bestehenden Wahlsysteme nötig seien.
Ausserdem sollte man sich auch den Blick nicht für andere Fragestellungen versperren lassen, z. B. für Fragen wie solche, ob und wie eine angemessene Regionalverteilung von Sitzen in einem föderalistischen Staat garantiert werden könne, wie nationalen Minderheiten eine Chance auf Vertretung eingeräumt werden könne usw. usf. Unter der Tyrannei eines "reinen" Verhältniswahlsystems würden derartige, durchaus legitime Ansprüche unter den Tisch fallen, wie es bei jeglicher "reinen Lehre" der Fall zu sein pflegt. Da haben deutsche Gerichte meines Erachtens sehr zurecht entschieden, dass das Prinzip der Verhältnismässigkeit in seiner Ausformung als Erfolgswertgleichheit durchaus durch andere Prinzipien sachgerecht durchbrochen werden kann und darf. Damit haben sie zugleich auch ihre Aufgabe wahrgenommen, als Hüter der Verfassung aufzutreten und eben - gewisse Grenzen zu setzen.
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sebu
Veröffentlicht am Montag, 12. November 2007 - 18:19 Uhr:   

@ Philipp Wälchli
Allerdings ist zu beachten, dass in Deutschland kaum reine Verhältniswahlsysteme existieren. So ist bei den Wahlen der Landtage und des Bundestages ja überall die Verhältniswahl durch Wahlkreise mit in der Regel relativer Mehrheitswahl verbunden. ...
Die Sitzzuteilung erfolgt aber nach Prinzipien der Verhältniswahl, das Bundeswahlgesetz spricht deswegen auch von "einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl". Wer innerhalb der Parteien einen Sitz bekommt, wird teilweise durch die starren Listen, teilweise durch die Sieger in den Wahlkreisen bestimmt. In den Bundesländern gibt es (mehr oder weniger gelungene) Regelungen für Ausgleichsmandate. Von daher kann man schon sagen, dass die Verhältniswahlkomponente dominiert.

Ich kann die (in diesem Forum immer wieder vertretene) Meinung, dass sich bestimmte Verfahren von Verfassungs wegen aufdrängen oder sogar nur allein zulässig seien, nicht teilen. ... Eine Verfassung hat den Zweck, die absoluten Grenzen des staatlichen, politischen Handelns zu ziehen. Innerhalb dieser Grenzen sollten die politischen Akteure wie Regierung, Parlament, Parteien usw. aber weiten Spielraum haben.
Mit der Rolle der Verfassung als "Leitplanken", innerhalb derer sich die politischen Akteure bewegen, haben Sie sicherlich recht. Nichtsdestotrotz ist es Aufgabe von Parlamenten und Verfassungsgerichten, darüber nachzudenken, wie die Verfassungsvorgaben möglichst gut umgesetzt werden können. Wenn sich daher nun herausstellt, dass -nach einer geeigneten Operationalisierung- ein Sitzzuteilungsverfahren ein Kriterium wie Erfolgsgleichheit besser erfüllt als ein anderes Verfahren, ist es daher zumindest bedenkenswert, die neuesten Erkenntnisse zu berücksichtigen und das in diesem Sinne "bessere Verfahren" einzuführen. Prof. Pieroth weist in der Anhörung zum Landeswahlgesetz in NRW auf folgendes hin: "Dabei ist allerdings im aktuellen Schrifttum zu lesen: Wenn denn das Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers eine so tolle Übersetzung der Stimmen in Mandate gewährleistet, sollten wir uns nicht mit weniger zufriedengeben. - Insofern kann sich im Laufe der Zeit die Ansicht immer mehr verstärken, dieses Verfahren zu nutzen." (Quelle, S. 19)
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Montag, 12. November 2007 - 19:41 Uhr:   

Nur ganz kurz:

ad 1): Ob und inwiefern die Verhältniswahlkomponente dominiere, darüber lässt sich gewiss in guten Treuen verschiedener Meinung sein. Entscheidend ist aber eben, dass das Prinzip der Verhältniswahl eben gerade nicht allein steht, sondern in mehrfacher Hinsicht durchbrochen wird. Gerade beim Bundestagswahlrecht gibt es verschiedene Durchbrechungen, bei denen man sich fragen kann, ob da noch von Dominanz der Verhältniswahl gesprochen werden könne. Das absolute Horrorszenario, dass die stärkste Partei ausschliesslich Wahlkreiskandidaten wählt und alle Zweitstimmen ihrem präsumptiven Koalitionspartner gibt, ist ja bisher nicht eingetreten. Sollte dergleichen oder anderes aber doch einmal in grösserem Massstab auftreten, dann ... Das Bundesverfassungsgericht hat nun meiner Meinung nach zurecht festgehalten, dass eben solche konkurrierenden Prinzipien vom Grundgesetz gedeckt sind. Dann sind aber auch Durchbrechungen oder punktuelle Abweichungen vom Verhältniswahlprinzip zulässig; wenn solche zulässig sind, dann gibt es allerdings auch keinen Grund zu schliessen, dass ein Verfahren von Verfassungs wegen bevorzugt werden müsse, das dieses Prinzip besser gewährleiste. Zumal ja eben auch freisteht, ein reines Mehrheitswahlverfahren einzuführen.

ad 2): "Mit der Rolle der Verfassung als "Leitplanken", innerhalb derer sich die politischen Akteure bewegen, haben Sie sicherlich recht. Nichtsdestotrotz ist es Aufgabe von Parlamenten und Verfassungsgerichten, darüber nachzudenken, wie die Verfassungsvorgaben möglichst gut umgesetzt werden können."
Mit dem Begriff der "Leitplanken" könnte ich mich ja noch anfreunden, aber mit der Wahl des Begriffes "Verfassungsvorgaben" wird genau wieder jene Sichtweise, die ich zuvor bekämpft habe, durch die Hintertüre eingeführt. Nochmal: Eine Verfassung legt Grenzen staatlichen Handelns fest und nur in Ausnahmefällen eigentliche Staatsziele, etwa die Garantie des Lebensunterhalts jedes Bürgers, wobei dann immer noch offen bleibt, wie dies umgesetzt werden soll und kann.
Gerade im Bereich des Wahlrechts sehe ich allerdings keine "Vorgaben" oder sehr geringe, und wenn dem so ist, dann kann man diese auch nicht besser oder genauer erfüllen. In Verbindung mit dem ad 1) Gesagten möchte ich die Optik sogar umkehren: Das Prinzip der Verhältniswahl dominiert nicht, sondern stellt nur die Grundlage dar, auf der das konkrete Wahlsystem auch noch anderen Prinzipien folgen kann und darf.
Auch das Zitat Pieroth sollte man nicht überbewerten: Wenn ein Verfahren gewünschte Eigenschaften aufweist oder in besonderem Masse aufweist, dann ist es ein Akt politischer Entscheidung, dieses zu wählen, einen verfassungsrechtlichen Zwang kann ich aber gleichwohl darin nicht erblicken. Die Verfassung oder konkret: das Grundgesetz legt nicht fest, dass ein absolut perfektes Verhältniswahlsystem geschaffen werden müsse. Das steht so nirgends drin und kommt auch per Auslegung nicht heraus. Hingegen gibt es Grenzen: So ist es gewiss unzulässig, ein System als "Verhältniswahlrecht" zu verkaufen, das faktisch auf Mehrheitswahl hinausläuft; ebenso gibt es eine Grenze, die zu starke Abweichungen vom Grundsatz einer Verhältniswahl untersagt. So dürfte bspw. Imperiali kaum zulässig sein. Hingegen scheint mir nach wie vor, dass der Gesetzgeber frei sei, innerhalb der bekannten Verfahren das zu wählen, das seinen Leitvorstellungen am besten dient.
Abgesehen davon liegen die schärfsten Abweichungen vom Verhältniswahlgrundsatz ja nicht so sehr in Hare-Neimeyer etc. als vielmehr in den Durchbrechungen bedingt durch die Einerwahlkreise und deren unvollkommene Verrechnung mit dem Ergebnis der Verhältniswahl.
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CHeine (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Montag, 12. November 2007 - 22:22 Uhr:   

Ich möchte noch einmal auf die Ausgangsproblematik zurückkommen. Es geht um die Besetzung von Ausschüssen. Hierbei ist in Sachsen (falls man sich unterhalb der Gemeinderatsfraktionen nicht einigt) die Verhältniswahl mit starren Listen vorgeschrieben. (Nur bei Vorlage keines oder nur eines Wahlvorschlages wird dann die Mehrheitswahl angewandt). Im konkreten Fall meiner Gemeinde (wir sind (noch!) eine Hare/Niemeyer-Insel im d'Hondtschen Ozean von Sachsen) erzielte die stärkste Partei 47 % der Stimmen und 50 % der Sitze. Mit einer weiteren Liste verfügt sie über 54 % der Sitze bei 52 % der Stimmen. Soweit noch in Ordnung. Bei einer hypothetischen Anwendung des Verfahrens nach d'Hondt und der Annahme, dass alle Räte für die Wahlvorschläge ihrer Fraktionen stimmen, hätte diese Fraktion dann 3 von 4 Sitzen in allen beschließenden Ausschüssen. Das sind 75 % der Sitze! Ausgangspunkt sind 52 % der Stimmen. Diese Verzerrung entsteht durch die Hintereinanderschaltung von d'Hondt (Wähler-Rat-Auschuss). Da kann man schon hinterfragen, ob das noch den Zielen einer Umsetzung des Wählerwillens entspricht. Leider interessiert das in den meisten Gemeinden auch die Minderheit nicht. Zumindest wehrt sich dort niemand.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Montag, 12. November 2007 - 22:52 Uhr:   

Das sind nun aber gleich ein paar Probleme:
1. Warum in aller Welt müssen Ausschüsse 4 Sitze haben? Gerade bei knappen Mehrheiten wäre dann bei 5 Sitzen eine Verteilung 3:2 "angenehmer", kommt aber natürlich am Ende auf dasselbe hinaus wie 3:1.
2. Statt jeden Ausschuss für sich zu betrachten, wäre es auch möglich, eine "ausgewogene" Verteilung über die Summe aller Ausschusssitze zu suchen, wie dies andernorts auch praktiziert wird.
3. Natürlich könnte man bei 52:48 auch 2:2 verteilen und dann den Vorsitzenden jeweils der Mehrheit zuschlagen - dann wird einfach per Stichentscheid regiert.
4. Stellt sich die Frage, ob ein solches Verfahren anstössig sei. Für Ausschussbesetzung hat das Bundesverfassungsgericht z. B. den Grundsatz der Spiegelbildlichkeit aufgestellt. Es ist gewiss eine legitime Haltung zu fordern, dass eine Mehrheit im Parlament auch in den Ausschüssen erhalten bleibe - selbst wenn dies zu deutlichen Verzerrungen führt. Ferner ist es ja auch nicht so, dass Ausschüsse den Wäherlwillen spiegeln sollen, sondern sie sind eben Ausschüsse des Parlaments, gehen also nicht unmittelbar auf die Wähler zurück. Daher ist es durchaus legitim, die Ausschussbesetzung unabhängig vom (echten oder vermeintlichen) Wählerwillen zu betrachten, denn es geht doch darum, dass das von den Wählern bestellte Parlament das Mandat der Wähler sinnvoll umsetzt, eben z. B. auch durch Ausschussbesetzungen. Dabei muss man dem Parlament einen gewissen Spielraum zubilligen - ansonsten verliert es seine Funktion als delegiertes Entscheidungsorgan und verkommt am Ende zu einer quasi-mathematischen Formel.
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CHeine (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Mittwoch, 14. November 2007 - 08:16 Uhr:   

Ich muß dazu sagen, dass in Sachsen der Bürgermeister automatisch stimmberechtigtes Mitglied der beschließenden Ausschüsse ist, sogar sein Vorsitzender. Mit ihm sind es dann 5
Mitglieder. Des Weiteren ist zu beachten, dass die Ausschüsse nicht umsonst beschließende Ausschüsse heißen. In gewissem Rahmen beschließen diese anstatt des Gemeinderates. Sie sind also nicht nur innere Organe des Rates, sondern direkte Entscheidungsträger. Da ist es eventuell doch legitim, den Wählerwillen in einem vertretbare Rahmen in den beschließenden Ausschüssen wieder vorfinden zu wollen. Und der Wählerwille drückt sich in den Stimmen aus, die die einzelnen Listen erzielt haben. Und eine Verzerrung von 52 % zu 75 % erscheint mir doch problematisch.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Donnerstag, 13. Dezember 2007 - 14:28 Uhr:   

Beim nochmaligen Betrachten dieser Information (Wer hat schon die sämtlichen Gemeindeordnungen und -wahlverfahren aller Bundesländer im Gedächtnis?) scheint mir, dass gerade diese Konstellation eine entschiedene Argumentation für die 3:1-Verteilung hergeben könnte:

Denn wenn es tatsächlich nur 4 Mitglieder gibt, die den Gemeinderat repräsentieren, und wenn es eine 2:2-Verteilung gibt, dann führt dies automatisch zur Bürgermeisterdiktatur. Damit die Mehrheit der Wähler der Gemeinderatswahl also auch in diesen beschliessenden Ausschüssen bestehen bleibt, ist dann die 3:1-Verteilung nicht bloss gerechtfertigt, sondern sogar zwingend.
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CHeine (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Donnerstag, 13. Dezember 2007 - 22:21 Uhr:   

Dem kann ich nicht ganz zustimmen. Die politischen Realitäten sind meistens dergestalt, dass Mehrheitsfraktion und Bürgermeister von der selben Partei gestellt werden. Dann verschiebt sich das Mehrheitsverhältnis auf 4:1, also 80 % der Ausschusssitze für einen Stimmenanteil von 52 %. Eine 2:2 Verteilung sichert eine 3:2 - Mehrheit inclusive Bürgermeister, also den tatsächlichen Kräfteverhältnissen angepasster.
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Philipp Wälchli
Veröffentlicht am Donnerstag, 13. Dezember 2007 - 23:52 Uhr:   

Der entscheidende Passus lautet eben: "meistens".

Was, wenn der Bürgermeister mal nicht der Mehrheitsfraktion angehören sollte?

Sobald man zugesteht, dass die Mehrheitsfraktion Anspruch auf Erhaltung ihrer Mehrheit in den Ausschüssen hat, hat man letztlich 3:1 resp. 4:1 akzeptiert.
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CHeine (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Freitag, 14. Dezember 2007 - 14:37 Uhr:   

Ich denke, für beide Ansichten gibt es gute Argumente. Der hinter meiner konkreten Anfrage stehende Fall scheint sich einem für die Minderhaitsfraktionen günstigen Ende zuzuneigen, denn das Zählverfahren Hare/Niemeyer steht nicht in Frage. Allerdings bleibt die Frage, inwieweit bei einem Zählverfahren nach d'Hondt
eine Analogie zum früheren Bayerischen Landtagswahlrecht gegeben wäre. Das mußte ja wohl geändert werden, weil eine Nacheinanderschaltung von d'Hondt die Verzerrung so groß werden ließ, dass es per Gerichtsbeschluss geändert werden mußte. Dies wäre ja dann hier ähnlich. Sind die Fälle vergleichbar?
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hermi
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Freitag, 23. Juli 2010 - 13:52 Uhr:   

Darf ich eine Fragenumkehrung stellen?
Wie bindend ist denn die Vorgabe dass die Ausschussbestzung letztlich den Wählerwillen widerspiegeln soll? Ist es dabei zulässig, dass die Mehrheit der Gemeindevertretung mit ca. 80% die 20% Wählergruppe von der Besetzung von Ausschüssen dadurch ausschließt, dass die Zahl der Sitze im Hauptausschuss von 4 auf 3 redu-ziert wird und damit die 20% Truppe herausfällt?
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Ratinger Linke
Unregistrierter Gast
Veröffentlicht am Freitag, 23. Juli 2010 - 15:22 Uhr:   

Allgemein werden Tricks mit den Ausschussgrößen ziemlich wenig problematisiert. Ob das konkrete Ergebnis tragbar ist, ist allerdings eine andere Frage. Typischerweise müsste eine 20%-Gruppierung bei 3 Sitzen immer noch einen Sitz erhalten, also wird hier wohl D'Hondt angewendet und die Spiegelbildlichkeit schon dadurch verletzt (wenngleich das die Gerichte nicht unbedingt so sehn).

Um welchen Fall geht es denn konkret? Insbesondere ist auch die Gesetzeslage im jeweiligen Bundesland relevant.

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