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Tod des Bundeskanzlers/-präsidenten

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PNK (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Montag, 09. Januar 2006 - 14:08 Uhr:   

Mich würde interessieren, was in einer Situation wie jetzt in Israel, also Tod oder Amtsunfähigkeit des Kanzlers, Präsidenten, MP etc., in Dtld. geschehen würde.
Konkret:1. Wer stellt die Amtsunfähigkeit fest
2. Gab es solches schon mal, auch auf kommunaler Ebene (ich bin noch jung)
3. Welche Zeiträume müssen eingehalten werden
4. was, wenn der gewählte Kanzler etc. z.B. nach Verlust des Postens durch Amtsunfähigkeit plötzlich wieder aus dem Koma erwacht.
5.In welchen Gestztbücher ist das alles geregelt
6.Was gibt es in diesem Zusammenhang noch für Kuriositäten

Ich danke im voraus für gescheite Antworten.
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PNK (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Montag, 09. Januar 2006 - 14:10 Uhr:   

Was ich natürlich vergessen habe ist: wie spielt sich das ganze ab bei Tod einer solchen Person. Das dürfte dann einfacher sein, aber was würde in welchen Zeiträumen wie passieren...
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MMA (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Montag, 09. Januar 2006 - 14:39 Uhr:   

Antwort zu 2.

Ja, am 30. April 1945 ist das letzte Mal ein deutscher Kanzler im Amt verstorben.
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Xenon (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Montag, 09. Januar 2006 - 15:28 Uhr:   

Wobei das kein Problem war, da er sich ja vorab um die Nachfolge gekümmert hatte und angesichts der Tatsache, daß es praktisch kein Parlament mehr gab, Einsprüche nicht zu erwarten waren.
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Philipp Wälchli (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Montag, 09. Januar 2006 - 18:07 Uhr:   

Ehem, auf die Gefahr der Beckmesserei hin möchte meine Unmassgeblichkeit ergänzen: Am 30. April 1945 haben sich ZWEI Kanzler umgebracht, erst der "Führer und Reichskanzler" A. H., der in seiner Person aber die Funktion des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers vereinigt hatte; testamentarisch hatte er das Amt des Reichspräsidenten auf Grossadmiral Dönitz übertragen, das Amt des Reichskanzlers jedoch auf J. Goebbels, der sich allerdings gleichentags ebenfalls umbrachte. Damit trat eine faktisch kanzlerlose Zeit ein; Dönitz versuchte aber dann noch von Flensburg und Ploen aus, eine neue Regierung zu bilden, was aber zu reinem Schattenboxen verkam.
Es erübrigt sich im Grunde die Frage, ob diese Regierung rechtlich oder faktisch eine gültige Regierung gewesen sei, da ab Mai Deutschland ohnehin unter Besatzungsrecht stand.
In Deutschland unter Geltung des Grundgesetzes übernimmt bei Ausfall des Bundespräsidenten der amtierende Präsident des Bundesrates, faktisch einer der Ministerpräsidenten der Länder, die Aufgaben des Bundespräsidenten; bei Ausfall des Kanzlers übernimmt der Vizekanzler seine Funktionen. In der Praxis dürfte wohl, wenn der Kanzler dauernd ausfällt, Rücktritt der Regierung und anschliessende Neuwahl eines Kanzlers mit erneuter Regierungsbildung zu erwarten sein. Ob der Tod eines Kanzlers bei an sich stabilen Mehrheitsverhältnissen ein Grund zur vorzeitigen Neuwahl des Bundestages wäre, dürfte umstritten sein. Politisch wäre eine Absicherung durch Volkswahl an sich wohl wünschbar, nach dem Wortlaut des Grundgesetzes dürfte dies aber wohl kaum zulässig oder dem ursprünglichen Sinn des historischen Verfassungsgebers entsprechend sein. Hingegen werden die Urteile des BVerfG zur Wahl 1984 und 2005 wohl entsprechend angewendet werden können, dass etwa argumentiert würde, durch diesen Todesfall seien gleichsam die politischen Karten neu gemischt worden, so dass die Mehrheiten nicht mehr stabil seien usw. Gegen den Willen einer Mehrheit des Bundestages, die dem Kanzler das Vertrauen absichtlich entzieht, sind ja nach diesen Urteilen vorzeitige Neuwahlen nicht zu verhindern.
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uwe s. (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Januar 2006 - 12:02 Uhr:   

Das Problem der Feststellung der Amtsunfähigkeit wurde vor ein paar Jahren in Griechenland virulent. Der alte Ministerpräsident war meines Wissens so krank, dass er die Amtsgeschäfte nicht mehr weiterführen konnte und er noch nicht mal seine eigene Amtsunfähigkeit äußern konnte. Unter seinen potentiellen Nachfolgern und Ministern wollte aber wohl auch niemand die undankbare Aufgabe übernehmen den eigenen Chef für halbtot erklären zu müssen (was er objektiv aber war). Ergebnis war eine tagelange Hängepartie in der Griechenland praktisch unregierbar war.
Wie dazu die deustchen Regelungen aussehen, kann ich nicht sagen. Im Hinblick auf Österreich müsste aber eigentlich herauszufinden sein, wie die Amtsunfähigkeit eines Bundespräsidenten festgestellt wurde, da die ja typischerweise die Hofburg "auf der Bahre verlassen" (so auch letztes Jahr).
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MMA (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Januar 2006 - 12:42 Uhr:   

"Ob der Tod eines Kanzlers bei an sich stabilen Mehrheitsverhältnissen ein Grund zur vorzeitigen Neuwahl des Bundestages wäre, dürfte umstritten sein. Politisch wäre eine Absicherung durch Volkswahl an sich wohl wünschbar, nach dem Wortlaut des Grundgesetzes dürfte dies aber wohl kaum zulässig oder dem ursprünglichen Sinn des historischen Verfassungsgebers entsprechend sein."

Letzteres ist doch schon ein ziemlich starkes Argument dafür, dass eine solche Volkswahl nicht verfassungskonform wäre; "umstritten" ist m. E. ein zu schwacher Ausdruck für den Konflikt mit dem GG, in den man sich damit begäbe.

"Hingegen werden die Urteile des BVerfG zur Wahl 1984"
(Korrektur: Wahl 1983, Auflösung 1982; hier lesen schließlich junge Menschen mit, die sich auf Prüfungen vorbereiten ;-)
"und 2005 wohl entsprechend angewendet werden können, dass etwa argumentiert würde, durch diesen Todesfall seien gleichsam die politischen Karten neu gemischt worden, so dass die Mehrheiten nicht mehr stabil seien usw. Gegen den Willen einer Mehrheit des Bundestages, die dem Kanzler das Vertrauen absichtlich entzieht, sind ja nach diesen Urteilen vorzeitige Neuwahlen nicht zu verhindern."

Moment mal, wie soll das denn gehen? Soll der Vizekanzler als amtierender Kanzler die Vertrauensfrage stellen? Oder soll er sich erst nach Art. 63 zum Kanzler wählen lassen und sich alsbald das Vertrauen nach Art. 68 versagen lassen?
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J.A.L.
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Januar 2006 - 14:02 Uhr:   

Zunächst zu einer kleinen Datenfrage: Reichskanzler Dr. Goebbels (insoweit man eine auf testamentarische Anordnung beruhende Übertragung der Amtsbezeichnung anerkennen will) hat sich erst kurz nach Mitternach des 1. Mai 1945 umgebracht.

In der Tat ist eine absolute Amtsunfähigkeit des Bundeskanzlers, nicht aber der Tod, wohl das größte technische Problem, dass dem deutschen parlamentarischen Regierungssystem bevorstehen würde.

Die von Philipp Wälchli vorgeschlagene Lösung

"In der Praxis dürfte wohl, wenn der Kanzler dauernd ausfällt, Rücktritt der Regierung und anschliessende Neuwahl eines Kanzlers mit erneuter Regierungsbildung zu erwarten "

scheitert daran, dass die Regierung nicht zurücktreten kann. Es kann natürlich jeder einzelne Minister mit Wirkung für sich zurücktreten, aber eben nicht für den unbeteiligten Kanzler. Ein nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu bestellender Betreuer oder Pfleger könnte wohl auch nicht keine öffentlich-rechtliche Erklärung gegenüber dem Bundespräsidenten mit Wirkung für und gegen Bundeskanzler abgeben. Somit müsste vorübergehend der Vizekanzler nach Art. 69 I GG die Geschäfte des Bundeskanzlers führen. Sollte dieser Zustand länger andauern (man denke etwa an Wachkomapatienten, die in diesem Zustand über Jahrzehnte verharrt sind), müsste wohl der Bundestag daran gehen, ein Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler zu stellen, um das Amt neu besetzen zu können.

Das könnte allerdings politisch durchaus inopportun sein, etwa wenn der Zustand des Bundeskanzlers auf einem Attentat basieren würde, käme dies einer Belohnung der Attentäter gleich.
In einem solchen Fall könnte die Geschäftsführung des Vizekanzlers bis spätestens zum ersten Zusammentritt eines turnusmäßig neu gewählten Bundestages weitergehen.

Besonders glücklich ist diese Regelung, für einen Fall, der berücksichtigt man, dass Bundeskanzler in der Regel in nicht mehr ganz jungem Alter sind, gar nicht einmal besonders abstrus ist, sicherlich nicht.
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Philipp
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Januar 2006 - 15:02 Uhr:   

@Philipp Wälchli
"Ob der Tod eines Kanzlers bei an sich stabilen Mehrheitsverhältnissen ein Grund zur vorzeitigen Neuwahl des Bundestages wäre, dürfte umstritten sein."

Nach dem Tod des Kanzlers findet eine Kanzlerwahl gemäß Art. 63 GG statt. Kommt bei dieser in keinem Wahlgang die absolute Mehrheit für einen Kandidaten zustande, wird also ein Minderheitskanzler gewählt, kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen.

Es ist also unproblematisch.
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MMA (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Januar 2006 - 15:06 Uhr:   

@J.A.L.
Wenn sich die Goebbels-Diskussion hier nun doch ausweitet, möchte ich doch mal einwenden, dass man sich da juristisch auf viel dünneres Eis begibt als bei der Kanzlerschaft Hitlers (die mit einer verfassungskonformen Ernennung 1933 begann und vor seinem Tod nie formell beendet wurde). Selbst wenn man ganz rechtspositivistisch und politisch/moralisch blind die Gesetzgebungsmacht Hitlers - selbst nach der letzten, eigenmächtigen Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes 1943 http://www.verfassungen.de/de/de33-45/ermaechtigungsgesetz33.htm als rechtmäßig anerkennte, dürfte man doch bei dieser bloßen testamentarischen Verfügung Hitlers in die Bredouille kommen.
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Martin Fehndrich
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Januar 2006 - 20:32 Uhr:   

Nur der Kanzler kann zurücktreten, die Minister werden entlassen. Und jetzt kann man hier über das Zusammenspiel der Artikel 64 und 69 diskutieren, ob der geschäftsführende Vizeknazler die Regierung umbilden kann.
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Philipp Wälchli (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Dienstag, 10. Januar 2006 - 23:19 Uhr:   

Kann nach dem Tod oder der Amtsunfähigkeit eines Kanzlers nach 63GG ein neuer Kanzler gewählt werden? Wenn man davon ausgeht, dass Tod oder Amtsunfähigkeit einem Rücktritt gleichkommen, dann wohl ja, denn dann gibt es keinen formellen Kanzler mehr (höchstens einen Geschäftsführenden). Was aber in einem Fall wie oben genannt, etwa bei einem Wachkoma oder bei einem Koma, das gewiss nur vorübergehend anhält, aber dessen Nachwirkungen (etwa schwere Hirnschäden, Verlust des Sprachvermögens u. dgl.) noch nicht bekannt sind?
Ist GG69I so zu verstehen, dass der Vizekanzler einfach auf den Posten des Kanzlers nachrückt, also tatsächlich Kanzler wird, oder müsste er als solcher zurücktreten, um eine Wahl nach GG63 möglich zu machen, müsste er nach Feststellung der Erledigung des Amtes des Kanzlers nach GG63 gewählt werden, um tatsächlich Kanzler zu werden, oder bleibt er einfach bis Ende der regulären Amtszeit geschäftsführender Kanzler und könnte somit auch nur nach GG67 ersetzt werden durch ein konstruktives Misstrauensvotum, das sich aber formell nicht gegen ihn (als Stellvertreter), sondern gegen den (geschäftsunfähigen) Kanzler richtet?
Kann der geschäftsführende Vizekanzler nach GG68 einen Vertrauensantrag als Kanzler stellen oder steht dies nur dem eigentlichen Kanzler zu? (GG69I sagt nichts dazu, sondern einfach nur, dass er den Kanzler vertritt.) Könnte er mit Wirkung für die gesamte Regierung (da der Rücktritt des Kanzlers automatisch die Erledigung der Ministerämter nach sich zieht - insofern tatsächlich ein Regierungsrücktritt) zurücktreten wie der Kanzler oder steht dies nur dem eigentlichen Kanzler zu?
Anders gefragt: Ist die Konzeption des GG diese, dass das Kanzleramt an der Person des Kanzlers haftet oder ist die Konzeption mehr formal, so dass dem Stellvertreter des Kanzlers auch sämtliche Rechte des Kanzlers zustehen?
Eigentlich dürfte man annehmen, dass wenigstens bei längerer, auch bloss vorübergehender Behinderung des Kanzlers dem Stellvertreter mindestens das Recht zustehen müsste, einen Minister entlassen und einen andern ernennen zu dürfen (natürlich mit Zustimmung des Bundespräsidenten, versteht sich); andernfalls könnte eine Regierung schnell handlungsunfähig werden. Man stelle sich bloss einmal vor, der Kanzler wäre mit andern Ministern in einem Flugzeug unterwegs, das abstürzt. Dann müsste doch, bis zur Genesung des Kanzlers, der Stellvertreter wenigstens auch die mit dem Kanzler ausfallenden Minister ersetzen können. Wenn er das aber rechtens kann, dann besteht nach dem Wortlaut des GG kaum ein ersichtlicher Grund, warum er die andern Rechte des Kanzlers nicht ebenfalls ausüben dürfte.

Zur Kanzlerschaft des A. H. noch folgender Hinweis: Die Ernennung 1933 war zumindest formal korrekt (auf einem andern Blatt stehen natürlich Vorkommnisse wie etwa Einschüchterungen auf der Strasse, der eigenartige Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit und anderes). A. H. wurde durch den Reichspräsidenten ernannt und anschliessend vom Reichstag durch ein Vertrauensvotum bestätigt. (Puristen und Legalisten könnten vielleicht noch einwenden, dass die Abgabe der Regierungserklärung über Rundfunk statt vor dem Reichstag politisch unschicklich oder ordnungswidrig gewesen sei.) Damit war er aber für längstens 4 Jahre bis Ablauf der Wahlperiode legal Kanzler, also bis 1937. 1937 war aber das Amt des Reichspräsidenten schon nicht mehr nach den Vorschriften der Verfassung besetzt, die vorangehenden Reichtags"wahlen" kaum mehr als eine Farce, so dass von da an A. H. höchstens noch als geschäftsführender Kanzler bis zur rechtsgültigen Ernennung eines Kanzlers gelten könnte.
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Florian (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Januar 2006 - 10:53 Uhr:   

Die Fragen von P. Wälchli sind wirklich gut. Auf die Antworten aus dem Forums-Kreis bin ich gespannt.

Zu A.H. eine Frage:
Mir war gar nicht klar, dass die _formale_ Rechtsgrundlage für Hitlers Herrschaft auf so wackligen Beinen stand.
(Von der moralischen oder demokratischen Grundlage spreche ich hier nicht, deren Fehlen ist wohl allgemeiner Konsens).

Nun meine Frage:
Die Rechtsauffassung im Dritten Reich war doch sehr positivistisch geprägt. D.h. für die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme ist nur deren _formal_ korrektes Zustandekommen entscheidend.
Wurde vor diesem Hintergrund eigentlich die Rechtmäßigkeit der Regierung Hitler und deren Gesetze und Anordnungen eigentlich nie hinterfragt?
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sebu
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Januar 2006 - 11:25 Uhr:   

Zurück zur eigentlichen Frage:
Eine Regierung steht und fällt mit dem Bundeskanzler, die Vertretung bezieht sich wohl nur auf die Funktion, nicht aber auf das Amt des Kanzlers (http://www.europa-digital.de/laender/de/staat/regierung.shtml).
Für den Todesfall, den man klar als "Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers" bezeichnen kann, hätte m.E. zur Folge, dass damit die gesamte Bundesregierung entlassen ist und die Geschäfte auf Bitten des Bundespräsidenten weiterführen müsste, vermutlich dann unter der organisatorischen Leitung des Vizekanzlers. Ansonsten muss dann das Procedere in Art. 63 starten.
Der Krankheitsfall ist deutlich unklarer bzw. die eigentliche Frage ist, ob überhaupt jemand und wenn ja wer feststellen darf, dass der Bundeskanzler (auf Dauer) sein/ihr Amt nicht mehr ausüben kann. Wenn es jemand darf und macht, gilt das gleiche wie bei Rücktritt / Todesfall. Wenn nicht, ist die Regierung kopflos unter der organisatorischen Leitung des Vizekanzlers, der nach wie vor im Prinzip nur "einfacher Bundesminister ist".
Mehr als oranisatorische Stellvertretungsbefugnisse, also Stellen der Vertrauensfrage, Ministerernennungen/- entlassungen halte ich für nicht im Sinne des GG mit seinem starken Fokus auf das Amt des Kanzlers.
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Philipp Wälchli (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Mittwoch, 11. Januar 2006 - 16:36 Uhr:   

Die Geschäftsordnung der Bundesregierung bestimmt immerhin:

"II. Stellvertretung des Bundeskanzlers
§ 8
Ist der Bundeskanzler an der Wahrnehmung der Geschäfte allgemein verhindert, so vertritt ihn der gemäß
Artikel 69 des Grundgesetzes zu seinem Stellvertreter ernannte Bundesminister in seinem gesamten
Geschäftsbereich. Im übrigen kann der Bundeskanzler den Umfang seiner Vertretung näher bestimmen."

"In seinem gesamten Geschäftsbereich" würde doch wohl eher für umfassende Vertretungsbefugnis sprechen; nichts gesagt ist allerdings über den Fall des Todes, der dauernden Amtsunfähigkeit etc.


Eine Nachbemerkung noch zu A. H. und der von ihm geprägten Zeit: Der sogenannte "Rechtspositivismus" wird immer wieder als Merkmal jener Zeit aufgeführt; in der Tat hat es damals Rechtspositivismus in dem Sinne gegeben, dass nur auf "formale" Gültigkeit oder Gesetzmässigkeit geachtet wurde, ohne nach materiellen Gesichtspunkten zu fragen. Die "Härte des Gesetzes" wurde denn auch gern Gegnern des Regimes entgegengehalten. Anderseits ist Rechtspositivismus kein ausschliessliches Merkmal jener Zeit, sondern kommt im Lauf der ganzen bekannten Menschheitsgeschichte immer wieder vor. Zudem wurde ebenso oft auch der Buchstabe des Gesetzes verlassen, wobei Generalklauseln (u. a. "das [gesunde] Volkesempfinden"), Zwecküberlegungen ("Eine Entscheidung in diesem Sinne würde dem höheren Zweck des Rechts zuwiderlaufen ...") oder auch schlichtes Ignorieren jeglicher Rechtslage eine Rolle spielten. Zum "formalen" Rechtspositivismus folgendes Beispiel: Das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" (vulgo Ermächtigungsgesetz) wurde 1933 durch den Reichstag als verfassungsänderndes Gesetz verabschiedet. Dafür war nach der Weimarer Verfassung eine 2/3-Mehrheit erforderlich. Für das Gesetz stimmten alle Parteien mit Ausnahme des Sozialdemokraten; die kommunistischen Abgeordneten waren durch eine Änderung der Geschäftsordnung aus dem Reichstag ausgeschlossen worden. A. H. und seine Anhänger argumentierten nun, dass auch gegen die Stimmen der kommunistischen Abgeordneten die Mehrheit von 2/3 aller Abgeordneten im Reichstag erreicht worden wäre. Der Ausschluss von der Abstimmung, aus dem Reichstag überhaupt dürfte allerdings formal das ganze Verfahren (und somit im Grunde jeglichen folgenden Beschluss des Reichstags) anfechtbar gemacht haben. Das Gesetz benötigte als verfassungsänderndes aber auch 2/3 der Stimmen des Reichsrates. Wiederum konnte gesagt werden, dass diese Mehrheit formell erreicht worden war. Allerdings war die Besetzung des Reichstages zweifellos illegal, weil mehrere Länder, darunter Preussen mit den meisten Stimmen, durch Reichskommissare, die durch Notverordnungen des Reichspräsidenten als kommissarische Leiter der Länder eingesetzt worden waren, vertreten waren; dazu lag aber eine Entscheidung des Staatsgerichtshofes vor, die eindeutig bestimmte, dass im Reichsrat nur selbständige Länderregierungen vertreten sein durften. Eine kleine Überlegung dazu verdeutlicht das Problem: Ein Reichskommissar war Vertreter des Reichspräsidenten bzw. der Reichsregierung, oft genug ein Mitglied der Reichsregierung (in Preussen bspw. der Reichskanzler). Stimmte ein Reichskommissar im Reichsrat ab, so stimmte auf diesem Wege gleichsam die Reichsregierung über eine Vorlage ab, die sie selbst eingebracht hatte. Damit wurde die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative bzw. zwischen Reich und Ländern massiv durchbrochen. Dies ist also ein materiell gravierender Missbrauch, zudem auch formell (durch Gerichtsurteil festgestellt) missbräuchlich. Der damalige "Rechtspositivismus" reichte allerdings nur soweit, genau jene formellen Bestimmungen zu beachten, auf die man sich berufen wollte bzw. die einem nützten, im übrigen fragte man nicht nach Recht oder Gesetz. Übrigens war diese Haltung schon vorher nicht so ganz unbekannt; die Rechtswissenschaft der 20er-Jahre hatte sich mit der Interessenjurisprudenz und der Freirechtsschule vom Positivismus bereits zu lösen begonnen; weite Teile der Bevölkerung haben sich vermutlich ebenfalls von Anfang an im Rechtsgewand der Republik unwohl gefühlt und hätten es gerne abgestreift, wenn sie auch von sich aus dazu nicht in der Lage waren. A. H. hat diesen Tendenzen dann allerdings die denkbar schlimmste Wendung gegeben, die bis 1945 in die reine Willkürherrschaft mündete.
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MMA (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Dienstag, 17. Januar 2006 - 18:06 Uhr:   

"A. H. wurde durch den Reichspräsidenten ernannt und anschliessend vom Reichstag durch ein Vertrauensvotum bestätigt."

Letzteres stimmt übrigens nicht. Wegen des Notstandsartikels war eine solche Abstimmung ja auch gar nicht erforderlich.

Zum Weitergelten von Recht aus der Nazi-Zeit gäbe es übrigens noch viel zu sagen.
Als eher harmloses, aber doch auch schon anstößiges Beispiel für die bis heute nicht ganz unbewältigten Weimarer Verhältnisse könnte man http://frei.bundesgesetzblatt.de/index.php?teil=I&jahr=2002&nr=39 ansehen, ("Gesetz zur weiteren Fortentwicklung ...", dort Seite 2065, siehe auch S. 2072, letzter Satz.
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ja (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Dienstag, 17. Januar 2006 - 19:01 Uhr:   

@MMA:
A. H. hat in der Tat kein Vertrauensvotum erhalten, aber nicht wg. irgendwelcher Notstandsartikel, sondern weil

"Artikel 54. Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht."

dahingehend interpretiert wurden, dass der Reichskanzler das Vertrauen des Reichstages hat, solange ihm nicht das Misstrauen ausdrücklich ausgesprochen wurde. (Das wurde auch vorher schon so praktiziert.)
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J.A.L.
Veröffentlicht am Mittwoch, 18. Januar 2006 - 21:54 Uhr:   

@ MMA:
Kann es sein, dass du Weimarer Zeit und Nazizeit hier verwechselst?
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MMA (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Donnerstag, 19. Januar 2006 - 13:39 Uhr:   

@J.A.L.: Nein, aber vielleicht habe ich mich unklar ausgedrückt.
Weitergeltende Nazi-Gesetze (und das sind alle, die aufgrund des Ermächtigungsgesetzes verabschiedet wurden, auch ohne spezifisch nationalsoz. Inhalt) sind sehr anstößig; eine noch heute geltende, 2005 zuletzt geänderte Notverordnung Hindenburgs ist weniger, aber eben auch anstößig. Gegen weiter geltende demokratisch verabschiedete Weimarer Gesetze wäre formell nicht viel einzuwenden.
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J.A.L.
Veröffentlicht am Donnerstag, 19. Januar 2006 - 14:23 Uhr:   

" eine noch heute geltende, 2005 zuletzt geänderte Notverordnung Hindenburgs ist weniger, aber eben auch anstößig"

Das kann ich nun überhaupt nicht finden. Zwar würden wir aus heutiger Sicht eine Notverordnungsmacht des Präsidenten oder der Regierung für nicht mit demokratischen Grundprinzipien, mehr noch aber für schlicht nicht nötig halten, doch dies wurde in der Weimarer Zeit fundamental anders gesehen. Deswegen war ja die Notverordnungsbefugnis des Art. 48 II der Weimarer Verfassung auch von der nocht von demokratischen Parteien dominierten Nationalversammlung als unverzichtbar angesehen worden.

Formell und pauschal ist dagegen nichts zu sagen, es kommt für mich auf den materiellen Inhalt der Verordnung an:
Und wenn sie dann wie in dem hier angesprochenen Fall sich auf eher interne Angelegenheiten der Deutschen Girozentrale oder der Deutschen Kommunalbank bezieht, finde ich das in keiner Weise anstößig.
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Philipp Wälchli (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Donnerstag, 19. Januar 2006 - 14:36 Uhr:   

Die Kritik an der Verordnung Hindenburgs erscheint mir doch ziemlich gesucht. Sie wurde nach geltendem Weimarer Verfassungsrecht durch den frei gewählten Präsidenten 1931 erlassen und von der demokratisch bestellten Regierung Brüning gegengezeichnet (die letzte Regierung, die noch als demokratisch bezeichnet werden kann). Diese Regierung wurde von der Zentrumspartei massgeblich getragen und geprägt, und diese galt damals wie heute als gemässigt.
Betrachtet man ferner den Inhalt der Verordnung, so geht es vor allem um Massnahmen gegen die damals erheblichen Störungen des Wirtschaftslebens, insbesondere der heute noch geltende Teil beschränkt sich auf gewisse Massnahmen im Bank- und Geldwesen.
Kritisieren müsste man m. E. vor allem folgenden Punkt, der mit obiger Kritik nicht das mindeste zu tun hat: Statt alte Verordnungen durch Novellen weiterzuschleppen, wäre es angebracht, bei grösseren Gesetzgebungsvorhaben, die die betreffenden Materien beschlagen, diese alten und verstreuten Einzelerlasse aufzuheben und deren Bestimmungen, soweit sie noch weiter gelten sollen, in einem Rahmengesetz und ggf. Ausführungserlassen zu diesem unterzubringen. Dies würde Übersichtlichkeit und Verständlichkeit der Gesetzgebung massgeblich verbessern.

Als Kuriositäten möchte ich nebenbei erwähnen: Eine Verordnung des Schweizer Bundesrates von 1915 über die Einführung der 24-Stunden-Zählung, bestehend aus 1 Artikel (ca. 3 Zeilen Text), ein Freiburger Erlass über den Vollzug der Todesstrafe, der erst bei einer Generalbereinigung der Gesetzgebung in den 1980er-Jahren entdeckt und aufgehoben wurde (die Todesstrafe war schon lange abgeschafft!), oder ein Berner Dekret über die Familienstiftungen und Familienkisten aus dem frühen 19. Jahrhundert, das selbst wiederum inhaltlich auf einen Verordnung aus dem 18. Jahrhundert verweist (Familienfideikommisse sind inzwischen durch ZGB verboten!).
Im Gegensatz zu der erwähnten Notverordnung besteht für diese drei Erlasse keinerlei Notwendigkeit mehr, ihr Regelungstatbestand beschränkt sich Verhältnisse, die inzwischen längst überwunden sind, der Regelungsgehalt ist somit gleich Null. Von den drei erwähnten Erlassen gelten aber zwei weiterhin munter fort.
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sebu
Veröffentlicht am Donnerstag, 19. Januar 2006 - 17:57 Uhr:   

Um wieder zum eigentliche Topic zurückzukommen.
@Philipp Wälchli, 11. Januar:
Vertretung für den gesamten Geschäfsbereich verstehe ich so, dass sich das auf die unmittelbar dem BKanzler/der BKanzlerin unterstehenden Behörden bezieht, also Zuständigkeit für das BPresseamt, BND usw.; hierfür ist Arbeitsfähigkeit zu gewährleisten (auch für den Fall der Amtsunfähigkeit).

Die Verfassung räumt dem Kanzler eine sehr starke Stellung ein, es kann in der BRegierung im Prinzip nichts ohne ihn/sie laufen. Soll der Vizekanzler dann unliebsame Minister rausschmeißen dürfen (vgl. Scharping)? Das kann m.E. von den Verfassungsvätern so nicht gewollt sein. Außerdem kann der BTag ja jederzeit jemand anderen wählen (im Gegensatz z.B. zum US-Präsidenten, für den es eine sehr detaillierte Not-Nachfolge-Liste gibt).

Interessanter fände ich die Frage, wer feststellen darf, dass der Bundeskanzler dauernd amtsunfähig ist; wäre dies festgestellt, gälte wieder: kein Bundeskanzler, keine Regierung, sondern nur eine geschäfsführende.
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MMA (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Donnerstag, 19. Januar 2006 - 18:59 Uhr:   

Die jetzige Bundesregierung hat gleich nach ihrer Vereidigung am 22. 11. 05 eine Vertretungsregelung beschlossen. Siehe etwa http://ftd.de/pw/de/31537.html Absatz 6. Steht da vielleicht Genaueres drin als in § 8 der Geschäftsordnung?
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Philipp Wälchli (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Freitag, 20. Januar 2006 - 09:54 Uhr:   

Die Bundesregierung selbst verbreitet allerdings folgende Erklärung über ihr Funktionieren:

"Nach dem Kanzlerprinzip bestimmt die Bundeskanzlerin die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Das bedeutet: Sie leitet die Geschäfte der Bundesregierung. Grundlage hierfür ist eine vom Kabinett beschlossene Geschäftsordnung. Sie wird vom Bundespräsidenten genehmigt.
Nach dem Kollegialprinzip entscheiden Kanzlerin und Minister gemeinsam, wenn über Angelegenheiten von allgemeiner politischer Bedeutung diskutiert wird. Bei Meinungsverschiedenheiten ist die Kanzlerin allerdings Erste unter Gleichen. Kommt es also zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ministern, schlichtet die Bundeskanzlerin. Das Kabinett muss schließlich mit Mehrheit entscheiden.
Nach dem Ressortprinzip leitet jeder Minister seinen Aufgabenbereich in eigener Verantwortung. So darf die Bundeskanzlerin nicht ohne weiteres in die Befugnisse ihrer Minister "hineinregieren". Zugleich muss jede Ministerin, jeder Minister allerdings darauf achten, Entscheidungen innerhalb des von der Kanzlerin vorgegebenen politischen Rahmens zu treffen."

Insbesondere wenn das Kabinett mit Mehrheit entscheidet, kann der Kanzler nicht ohne weiteres bestimmen, was läuft; naturgemäss kann sich der Kanzler aber über das Ernennungsrecht im Prinzip jede gewünschte Mehrheit verschaffen, nur nicht im Einzelfall.

Für die Formulierung der Geschäftsordnung stellt sich nun die Frage, was unter "Geschäftsbereich" zu verstehen sei. Schränkt man diesen auf die Routinetätigkeiten des Kanzlers und der ihm unmittelbar unterstellten Ämter ein, so fragt sich allerdings, warum die Geschäftsordnung dann noch ausdrücklich vom "gesamten" Bereich spricht. Insbesondere wenn man die Arbeitsfähigkeit garantieren will, kann es schon auch notwendig sein, dass der stellvertretende Kanzler auch die andern Funktionen des Kanzlers ausüben kann. Wenn bspw. der Kanzler mit dem Flugzeug abstürzt und dies in Begleitung mehrerer Minister, von denen einige tot, andere schwer verletzt sind, aber vorerst nicht arbeitsfähig, dann kann schon der Fall eintreten, dass die normalen Stellvertretungsmechanismen überlastet werden und es unumgänglich wird, wenigstens einige "Not-Minister" neu zu ernennen. Warum sollte das ein stellvertretender Kanzler dann nicht auch tun dürfen, zumal ja immer noch die Beteiligung des Bundespräsidenten gefordert ist?
Natürlich kann der Bundestag "jederzeit" einen neuen Kanzler mittels konstruktivem Misstrauensvotum bestimmen; allerdings bedeutet "jederzeit" nur, dass jederzeit ein Antrag eingebracht werden kann, dies nach den Bestimmungen der Geschäftsordnung, danach muss eine vom Grundgesetz bestimmte Frist bis zum Entscheid abgewartet werden. Das Verfahren kann so ohne weiteres ein paar Tage bis eine Woche dauern.
Anders (und im Prinzip schneller) geht es, wenn man das Amt des Kanzlers als erledigt ansieht. Dann müsste ein Kanzler auf dem ordentlichen Weg durch Vorschlag des Bundespräsidenten mit anschliessender Abstimmung im Bundestag "ohne Aussprache" erfolgen.
Eine andere, mit Recht gestellte Frage ist die, ob die Geschäftsordnung der Bundesregierung der richtige Ort sei, um eine Regelung dieser Tragweite zu erlassen. Gerade wenn man das Kanzlerprinzip in den Vordergrund stellt und den Passus der Geschäftsordnung als umfassende Vertretungsvollmacht ansieht, dann stellt sich doch die Frage, ob eine solche weitgehende bzw. umfassende Vollmacht nicht einer besseren Verankerung etwa durch Bundesgesetz und mithin Parlamentsentscheid bedürfe. Die Geschäftsordnung der Bundesregierung ist ja demokratisch nur durch Mehrheitsbeschluss des Kabinetts und durch Genehmigung des Bundespräsidenten legitimiert; als Geschäftsordnung kann sie eigentlich Aussenwirkung nur insofern entfalten, als sie bspw. regelt, wie die Regierung nach aussen auftritt, wie sie zeichnet u. dgl. Gerade aber die Rechte des Kanzlers gegenüber dem Bundestag wie Vertrauensfrage wirken aber sehr stark nach aussen über den inneren Geschäftskreis der Bundesregierung hinaus und greifen in die Zuständigkeit des Bundestages ein.
Sedes materiae wäre daher wohl besser die Geschäftsordnung des Bundestages (die aber auf die Stellvertretung des Kanzlers oder die Fragen im Zusammenhang mit seiner evtl. Neubestellung im Verhinderungsfall mit keinem Wort eingeht) oder aber gleich ein entsprechendes verfassungsausführendes Gesetz, das diese wichtigen Fragen zur Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes beantwortet.
Mein Eindruck ist, dass die Stellvertretung und etwaige Nachfolge bzw. Ersetzung eines Kanzlers bei Krankheit, Tod, Amtsunfähigkeit usw. zur Zeit wohl ungenügend rechtlich geregelt ist.

Der Organisationserlass der Bundesregierung vom 22. 11. 2005 scheint nach dem Wortlaut der erwähnten Meldung vorwiegend die Stellvertretung der Minister untereinander und die Zuständigkeiten der einzelnen Ressorts zu betreffen; ohne Einsicht in den Wortlaut lässt sich genaueres aber nicht ausmachen.
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ja (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Freitag, 20. Januar 2006 - 10:44 Uhr:   

IMHO scheinen die Regelungen auf Folgendes hinauszulaufen:

Fällt der Kanzler/die Kanzlerin krankheitsbedingt aus, greift die Vertretungsregelung - der knifflige Fall hier könnte eintreten, wenn der Kanzler/die Kanzlerin behauptet, er/sie sei fit, während z.B. eine Mehrheit des Kabinetts dies anders sieht. Soweit ich sehe, wäre die Regierungskrise dann durch den Bundestag zu lösen (Vertrauensfrage/konstruktives Misstrauensvotum), es könnte aber theoretisch schon eine unübersichtliche Situation entstehen, wenn z.B. der Kanzler im Krankenhaus liegt, sich aber in der Lage sieht, eine Kabinettssitzung zu leiten, das Kabinett aber gleichzeitig zusammentritt und seine Dienstunfähigkeit beschließt.

Fällt der Kanzler dauerhaft aus, könnte der Vizekanzler geschäftsführend bis zur nächsten Wahl (und ggf. darüber hinaus) im Amt bleiben. In der Praxis dürfte aber der Bundestag damit durchkommen, die Kanzlerschaft als erledigt anzusehen und einen neuen Kanzler zu wählen. Wenn der Bundespräsident diesen dann ernennt, dürfte die Kuh vom Eis sein. Dieses Vorgehen dürfte schon allein wg. des Koalitionsproporzes stattfinden.

Die Problematik der Ministerernennung dürfte sich zumindest kurzfristig nicht stellen, da hier übergangsweise auch eine Vertretung durch Staatssekretäre (haben wir ja genug von) möglich ist.

Summa summarum dürfte es also auf das Verhalten des Bundestages ankommen. In normalen Zeiten mit stabilen Mehrheitsverhältnissen und großem zeitlichen Abstand zum nächsten Wahltermin dürfte es bei einem dauerhaften Ausfall des Kanzlers nach einer gewissen "Schamfrist" (in der der Vizekanzler amtiert) eine Neuwahl durch den Bundestag geben - ob als konstruktives Misstrauensvotum oder als Neuwahl nach einer erledigten Kanzlerschaft dürfte in erster Linie von politischen Überlegungen abhängen.

Schwieriger wird es, wenn ein dauerhafter Ausfall des Kanzlers mit instabilen Mehrheitsverhältnissen zusammenfällt, die Regierung sich also nicht sicher sein kann, einen neuen Kanzler installieren zu können, während der Opposition die Mehrheit für ein konstruktives Misstrauensvotum fehlt (zumal einem solchen Votum gegen einen schwer kranken Kanzler immer das Odium des Verrats anhinge). Es könnte also zu einer dauerhaften geschäftsführenden Kanzlerschaft durch den Vizekanzler kommen.

Das größte Problem liegt m.E. in der Frage, wer im Zweifelsfall die Dienstunfähigkeit des Kanzlers beschließt.
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Philipp Wälchli (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Freitag, 20. Januar 2006 - 11:53 Uhr:   

Wenn der Kanzler sich für dienstfähig hält, das Kabinett aber nicht, stellt sich schon einmal die Frage, wer denn dann die Vertrauensfrage stellen dürfte. Ein konstruktives Misstrauensvotum wäre hingegen jederzeit möglich. Diesbezüglich stellen sich ja die Probleme aus Weimarer Zeiten nicht:
Nach der Weimarer Verfassung und nach den meisten Landesverfassungen jener Zeit gab es zwar die Möglichkeit des Misstrauensvotums, das aber insofern eingeschränkt war, als ein abgestzter Minister oder Kanzler geschäftsführend im Amt bleiben konnte, bis sein Nachfolger ernannt war (wie heute). Nun gab es den Trick, einfach den Rücktritt zu erklären und sich danach die Geschäftsführung anvertrauen zu lassen. Damit war ein Misstrauensvotum unmöglich geworden. Diesen Trick hat Hindenburg in der Endphase der Republik angewandt, aber etwa auch von der andern politischen Seite SPD und Zentrum in Preussen gegen die NSDAP. Nach dem GG ist es immerhin nun so, dass ein erfolgreiches Misstrauensvotum zwingend die Bezeichnung eines Nachfolgers verlangt, der dann auch ernannt werden muss.
Schlimmstenfalls könnte somit der Bundestag eine Entscheidung durchsetzen, sofern die Kanzlermehrheit zustande kommt, was ggf. allerdings nicht sicher wäre.
Wären sich Kanzler und Kabinett nicht einig oder griffe der Bundespräsident ein, z. B. indem er eine Erklärung abgäbe, das Amt des Kanzlers sei vakant, und sodann einen förmlichen Kanzlervorschlag zu Handen des Bundestages, dann wäre wohl nach den Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit der Gang nach Karlsruhe durch einen oder mehrere der Beteiligten programmiert.
Der Bundestag aus sich heraus kann vermutlich nicht erklären/feststellen, dass der Kanzlerposten erledigt sei. Welches Instrument dazu hätte er? Das normale Bestellungsverfahren setzt die Initiative des Bundespräsidenten voraus, worauf der Bundestag reagiert.
Insgesamt erschiene eine Klärung wohl doch wünschenswert, sei es durch eine Ergänzung des GG, durch Gesetz oder auch durch Machtspruch des BVerfG. Andere Verfassungen enthalten über die Feststellung der Dienstunfähigkeit des Präsidenten oder Regierungschefs teilweise sehr ausgefeilte Regelungen (deren Einzelheiten man durchaus auch der Gesetzgebung oder einer Verfahrensordnung überlassen könnte), das GG schweigt sich dazu hingegen völlig aus.
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MMA (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Freitag, 20. Januar 2006 - 12:47 Uhr:   

@Philipp Wälchli

zum Suchen: Der Organisationserlass, in dem nur die Neuaufteilung der Miniterien geregelt ist, ist nicht mit der Vertretungsregelung identisch.
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Florian (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Freitag, 20. Januar 2006 - 13:23 Uhr:   

da kommt man ja schon ins Grübeln.

Nehmen wir mal an, im Jahr 1996 wäre Kohl schwer erkrankt. Das Kabinett hätte ihn nicht mehr für amtsfähig gehalten, er selbst aber schon.
Vizekanzler war Kinkel (FDP).

Wie hätte die Koalition da gehandelt?
Dauerhaft einen FDP-Regierungschef zu haben, das hätte die Union wohl kaum akzeptiert.
Aber:
Die Vertrauensfrage hätte nur Kohl stellen können - und das hätte er nicht gemacht.
Konstruktives Misstrauensvotum gegen den eigenen Kanzler? Wohl kaum.
Ganz abgesehen davon: Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse wäre es durchaus nicht sicher gewesen, ob z.B. Schäuble die Kanzlermehrheit überhaupt bekommen hätte (Kohl selbst hätte ja krankheitsbedingt schon mal nicht mitgestimmt. Und ob in geheimer Abstimmung alle FDP-Abgeordneten "ihren" Kanzler zu Gunsten von Schäuble ersetzen würden, wäre auch unsicher gewesen...

Es stimmt schon:
Eine klare gesetzliche Regelung wäre sehr wünschenswert.
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sebu
Veröffentlicht am Samstag, 21. Januar 2006 - 10:58 Uhr:   

Hab' eine Blick in den Kommentar geworfen:
Der Vizekanzler hat das Amt treuhänderisch zu verwalten, darf aber keine Vertrauensfrage stellen, er kann auch nicht stellvertretend für den Kanzler einen Kanzlerrücktritt erklären, schlicht er darf nichts machen, was mit der personellen Zusammensetzung der Regierung zu tun hat. Notfalls muss er sich wohl mit Artikel 69III behelfen und die Minister bitten/zwingen geschäftsführend im Amt zu bleiben. Andere Ernennungen/Entlassungen müsste der Kanzler vom Krankenbett aus machen (falls er/sie dazu in der Lage ist) - dass so etwas prinzipiell funktionieren kann, wissen wir aus den letzten Lebenswochen von Johannes Paul II.
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Philipp Wälchli (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Samstag, 21. Januar 2006 - 16:34 Uhr:   

In welchen Kommentar? Was sagen andere Kommentare? Und wie leiten sie diese Auslegung her bzw. begründen sie?
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sebu
Veröffentlicht am Sonntag, 22. Januar 2006 - 08:50 Uhr:   

Maunz-Dünig
Wenn ich es im wesentlichen verstanden hab', leitet sich das aus der Stellung des Kanzlers innerhalb der BReg ab und daher, dass das Wohl und Wehe der gesamten BReg von ihm/ihr abhängt.
Könnte z.B. der Stellvertreter die Vertrausensfrage stellen, würde das Parlament ja ihm und nicht dem BKanzler im Zweifelsfalls das Misstrauen aussprechen, das GG sieht aber nur vor, dass der Regierungschef selber die Vertrauensfrage stellen kann und auch nur ihm das Misstrauen ausgesprochen werden kann, nicht aber einem einzelnen Minister, was ja de facto der Vizekanzler ja ist.
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Philipp Wälchli (Unregistrierter Gast)
Veröffentlicht am Sonntag, 22. Januar 2006 - 15:51 Uhr:   

Nun ja, die Frage dreht sich m. E. doch eben gerade darum, ob der Stellvertreter dieselben Rechte ausüben kann wie der Vertretene oder eben gerade nicht. Um diese Entscheidung zu begründen, würde ich dann doch eine Argumentation der Art erwarten, dass GG Art. x in Verbindung mit GG Art. y dafür spreche, dass das Kanzleramt an der Person hafte und der Stellvertreter daher nur etwas wie der Treuhänder sein könne etc.

Inzwischen ist mir eine Möglichkeit eingefallen, wie sich die Lücke, die wir unterdessen im Verfassungsrecht vermuten, ausfüllen liesse: Betreffend Feststellung der Amtsunfähigkeit des Kanzlers könnte analog das Zivilrecht angewandt werden betreffend zivilrechtliche Handlungsfähigkeit. Das hiesse dann, dass der Kanzler solange als amtsfähig angesehen würde, wie er nicht formell für zivilrechtlich handlungsunfähig erklärt worden wäre; rein tatsächliche Amtsunfähigkeit (also etwa Unerreichbarkeit, Ortsabwesenheit) würde dann der Stellvertreter tatsächlich nur "treuhänderisch", "geschäftsführend" oder "sachwalterisch" überbrücken (was wiederum für die oben erwähnte personenbezogene Konzeption des Kanzleramtes spräche); sobald der Kanzler geschäftsunfähig erklärt worden wäre, wäre aber zugleich auch sein Amt erledigt, der Bundestag müsste eine Neuwahl vornehmen. In der Zeit bis zum Zustandekommen der Neuwahl müsste die bisherige Bundesregierung geschäftsführend mit dem Vizekanzler (oder einem ausserordentlichen Stellvertreter) im Amt bleiben. Sofern die Mehrheiten dieselben bleiben und klar ist, wer die "Erbschaft" antreten soll, könnte nach der Neuwahl des Kanzlers der neue Kanzler mit unverändertem Kabinett weiterregieren, allerdings nach formeller Neuernennung, da ja die Erledigung des Amts des Kanzlers jene der gesamten Bundesregierung nach sich zieht.
Insgesamt ergäbe dies eine durchaus stimmige Auslegung, allerdings mit dem Nachteil, dass die zivilrechtliche Handlungsunfähigkeit nicht ohne weiteres geeignet ist für staatliche Belange. Im Normalfall ertragen zivilrechtliche Geschäfte schon einmal einen Stillstand oder auch eine längere "Stellvertreterherrschaft", wobei insbesondere bei Vermögensverwaltung u. dgl. ja in aller Regel die Richtlinien eindeutig und die jeweils zu ergreifenden Massnahmen im Sinne der Bestandessicherung naheliegend sind; ein Staat hingegen muss auch auf Unvorhergesehenes u. U. schnell antworten können, fundamentale politische Entscheidungen ertragen nicht immer Aufschub. Insofern sollte ein Entscheid über etwaige Amtsunfähigkeit ggf. sehr schnell gefällt werden können, ferner ist es nach zivilrechtlichen Normen u. U. nur möglich, auf Begehren der nächsten Angehörigen zu handeln, was bei analoger Anwendung auf den Staat dazu führt, dass (nichtgewählte) private Angehörige über Wohl und Wehe des Staates verfügen könnten. Notfalls liesse sich aber wohl doch analogieweise auf zivilrechtliche Massnahmen zurückgreifen, auch wenn dies, wie eben gezeigt, auch nicht sachgerechte Aspekte einbrächte.

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