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Paul-Gerhard Martin
| Veröffentlicht am Freitag, 14. Oktober 2005 - 13:58 Uhr: | |
Für universitäre Gremienwahlen bin ich auf der Suche nach einer Alternative zu d'Hondt. Die Randbedingungen sind: max. 8000 Stimmen, max. 4 Listen (Erfahrungswerte), fixe Zahl von 3 bis 9 Sitzen je nach Wählergruppe und Gremium. Gerade bei diesen kleinen Sitzzahlen spielt die Schwelle für den ersten Sitz natürlich eine große Rolle, und da m.E. Hare-Niemeyer und Sainte-Lague den ersten Sitz zu früh zuteilen (d'Hondt bekanntlich zu spät) würde ich gerne folgendes "Verfahren der wahrscheinlichsten Mindestsitzzahlen" (WMS) versuchen: Jeder Stimme für eine Liste entspricht eine Kugel einer bestimmten Farbe in einer Urne. Zur Ermittlung der Sitze ziehe ich soviele Kugeln aus der Urne, wie Sitze zu vergeben sind. Entsprechend der Kugelfarben werden die Sitze auf Listen verteilt. Nun soll die Auswahl aber natürlich nicht zufällig erfolgen, sondern so, dass die Grundgesamtheit (Wählerstimmen) am besten repräsentiert wird. Für alle Listen und alle Sitzzahlen von 1 bis S (Gesamtsitzzahl) wird die Wahrscheinlichkeit berechnet, mindestens diese Sitzzahl zu erreichen. Unter diesen Wahrscheinlichkeiten werden die S größten als Höchstzahlen ausgesondert und der jeweiligen Liste ein Sitz zugeteilt. Die nach dem WMS-Verfahren ermittelte Sitzverteilung lässt sich also so ausdrücken: Unter allen möglichen Verteilungen gibt es mehr, bei denen auf Liste i mindestens xi Sitze entfallen, als solche, bei denen auf Liste j mehr als xj Sitze entfallen (für alle i und j). Damit ist - meiner Meinung nach - ein völlig objektives, aus der Grundgesamtheit selbst erwachsenes Auswahlkriterium gegeben, während die Festlegung von Schwellen (Standard- oder Abrunden) - meiner Meinung nach - eine willkürliche (nicht im Sinn von unreflektiert, aber doch subjektiv) ist. (Nebenbemerkung: Mit dem Urnenmodell-Ansatz lässt sich das d'Hondt-Verfahren als dasjenige interpretieren, das die unter allen möglichen Kombinationen am häufigsten vorkommende liefert – bei Ziehen mit Zurücklegen; bei Ziehen ohne Zurücklegen tritt eine geringfügige Modifikation hinzu.) Das Verhalten des WMS-Verfahrens bei Beispielsverteilungen entspricht genau meinen Erwartungen (zwischen d'Hondt und Hare-Niemeyer, aber näher an letzterem). Der Algorithmus ist etwas komplexer als bei den Standardverfahren, aber zumindest bei kleineren Wahlen technisch unproblematisch (Taschenrechner genügt). Meine Frage: Kennt jemand eine Beschreibung und Bewertung eines derartigen Verfahrens? Bei Interesse schicke ich gerne eine detailliertere Darstellung. |
Nikolai Scheuring
| Veröffentlicht am Freitag, 14. Oktober 2005 - 21:16 Uhr: | |
Habe mal nach diesem Urnenmodell die Zweitstimmen umgerechnet (mit 5%-Hürde): SPD 213; CDU 173; FDP 61; PDS 54; Grüne 51; CSU 46 Die Grünen sind die einzigen, die auch für eine Wahrscheinlichkeit <0,5 einen Sitz bekommen (oder Rundungsfehler bei Excel). Mit CDU/CSU als eine Partei: CDU/CSU 219; SPD 213; FDP 61; PDS 54; Grüne 51 Keine Veränderungen, da sich die Wahrscheinlichkeiten für Sitzgewinne bei den anderen Parteien nicht verändern (Ein großer Vorteil der Methode!). Nach d'Hondt: SPD 214; CDU 173; FDP 61; PDS 54; Grüne 50; CSU 46 Nach Hare-Niemeyer: SPD 213; CDU 173; FDP 61; PDS 54; Grüne 51; CSU 46 |
The Joker
| Veröffentlicht am Samstag, 15. Oktober 2005 - 22:32 Uhr: | |
Sorry, das ist aus meiner Sicht eher eine Marginalie. Viel problematischer ist m.E. die mögliche Rolle der Überhangmandate als Mehrheitsverfälscher: Hätte Schwarzgelb prozentual knapp unterhalb von Rotrotgrün gelegen, bestünde die Möglichkeit, dass die CDU durch massig Ü-Mandate doch noch eine Sitze-Mehrheit für Schwarzgelb besorgt hätte. Aus meiner Sicht ähnlich problematisch wie das Ergebnis der US-Wahl 2000... |
Good Entity
| Veröffentlicht am Sonntag, 16. Oktober 2005 - 12:38 Uhr: | |
@The Joker: Überhangmandate gibt es meines Wissens bei Gremienwahlen an der Universität gar nicht, da kann das Problem der überkippenden Mehrheit nicht auftreten. Das Problem von Paul-Gerhard Martin war ein Bundestag mit nur zB 5 oder 9 Sitzen und der Versuch, aus etwa unserem realen Wahlergebnis dafür eine "gerechte" Verteilung zu finden. Gerade unser reales Wahlergebnis wäre dabei gleich ein passendes Problem, weil wir gleich mehrere Parteien (FDP, Linkspartei.PDS, Grüne, CSU) haben, für die sich je nach Auszählverfahren ein erster und einziger Sitz ergibt - oder auch nicht. Das Auszählverfahren entscheidet hier den Wahlausgang, denn es kann bei den Sitzen etwa heißen: "SPD 3 CDU 2" oder aber auch "SPD 2 CDU 2 FDP 1". |
Paul-Gerhard Martin
| Veröffentlicht am Montag, 17. Oktober 2005 - 09:24 Uhr: | |
Eine kurze Anmerkung zum Kommentar von Herrn Scheuring: Nur im 2-Listen-Fall ist die Schwelle regelmäßig bei exakt 50% Wahrscheinlichkeit. In anderen Fällen kann es durchaus vorkommen, dass bei Wahrscheinlichkeiten unter 50% noch ein Sitz gewonnen oder auch bei Wahrscheinlichkeiten über 50% ein Sitz verfehlt wird. Dass das Verfahren auch bei "großen" Wahlen plausible Ergebnisse liefert, ist beruhigend. Tatsächlich aber geht es mir um (sehr) kleine Sitzzahlen (s. Kommentar Good Entity). |
Philipp Wälchli
| Veröffentlicht am Montag, 17. Oktober 2005 - 10:40 Uhr: | |
Nur zur Nachfrage nach besserem Verständnis: Wie läuft genau das Verfahren? Wofür stehen die Kugeln nun? Für eine Stimme für eine Liste (Satz 1) oder für einen Sitz, den eine Liste erhält (Satz 2)? Warum der Umweg über Kugeln? Nur ein "didaktischer" Kniff? An welchem Massstab oder von welcher Grundlage aus wird berechnet, wie wahrscheinlich es ist, dass i xi Sitze erhält? Oder anders gefragt: Nach welchem Alogrithmus? Inwiefern ist diese Wahrscheinlichkeit ein besserer/gerechterer Massstab als z. B. die Minimierung von Abweichungen zwischen Idealanspruch und tatsächlich zugeteilgten Sitzansprüchen oder Minimierung der Abweichung der Erfolgswerte pro Stimme? |
Paul-Gerhard Martin
| Veröffentlicht am Montag, 17. Oktober 2005 - 16:38 Uhr: | |
Antwort an Herrn Wälchi: Das mit den Kugeln dient tatsächlich nur der besseren Veranschaulichung (vgl. Lotto). Eine Kugel steht zunächst für eine Stimme, und aus der Grundgesamtheit aller Stimmen (=Kugeln) werden dann so viele ausgewählt, wie Sitze zu vergeben sind. Zur zweiten Frage: Ob besser oder nicht, vermag ich jetzt noch nicht zu sagen. Aber alle Definitionen von Abweichungsmaßen sind (mehr oder weniger sinnvolle) Festlegungen, keine objektiven Beobachtungen. Die Aussage "Unter allen möglichen Verteilungen gibt es mehr, bei denen Liste A mindestens 3 Sitze erhält als solche, bei denen Liste B mindestens 1 Sitz erhält" ist dagegen eine solche völlig objektive Beobachtung (wohlgemerkt: "wahrscheinlich" steht hier nicht für unsicher oder unscharf sondern einfach für die - exakt zu ermittelnde - relative Häufigkeit). Den Algorithmus schicke ich Ihnen direkt zu. |
Philipp Wälchli
| Veröffentlicht am Dienstag, 18. Oktober 2005 - 12:06 Uhr: | |
Für so kleine Gremien käme evtl. auch das Minderheitenschutz-Modell des Berner Gemeindegesetzes in Frage: Art. 43 2. Berechnung 1 Der Anspruch der Minderheit berechnet sich für jedes zu besetzende Organ gemäss der FormelM x SW 2 Diese Formel wird wie folgt angewendet:a Bei geheimen Wahlen bedeutenM die Zahl der von der Minderheit erzielten Parteistimmen, S für Erneuerungs- und Ersatzwahlen die Gesamtzahl der Mitglieder des zu wählenden Organs mit Einschluss seines Präsidiums, W die Zahl der eingelangten Wahlzettel; die leeren und die ungültigen Wahlzettel fallen ausser Betracht. b Bei offenen Wahlen bedeutenM die Stimmen der Minderheitenkandidatin oder des Minderheitenkandidaten oder, bei mehreren Kandidaturen der Minderheit, den Durchschnitt der erzielten Stimmen, S für Erneuerungs- und Ersatzwahlen die Gesamtzahl der Mitglieder des zu wählenden Organs mit Einschluss seines Präsidiums, W die Zahl der an der Wahl teilnehmenden Stimmberechtigten. 3 Ergibt die Rechnung so hat die Minderheit Anspruch auf wenigstens 1,40 bis 2,80 1 Sitz wenigstens 2,81 bis 4,20 2 Sitze wenigstens 4,21 bis 5,70 3 Sitze wenigstens 5,71 bis 7,20 4 Sitze wenigstens 7,21 bis 8,70 5 Sitze wenigstens 8,71 bis 10,20 6 Sitze und so fort. |
Paul-Gerhard Martin
| Veröffentlicht am Dienstag, 25. Oktober 2005 - 09:06 Uhr: | |
Anmerkung: Eine kurze Beschreibung des Rechenalgorithmus mit Beispielen sowie ein Rechenblatt zum "Durchspielen" sind verfügbar unter http://www.wahlrecht.de/doku/urnenmodell.html |
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