Universität Dortmund

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Pressemitteilung

06.08.2007


 

Das Landtagswahlsystem in Nordrhein-Westfalen

 
Die Methodik des Ausgleichs von Überhangmandaten bei nordrhein-westfälischen Landtagswahlen hat erhebliche Schwächen. Dies ist das Ergebnis einer Diplomarbeit am Fachbereich Statistik der Universität Dortmund vom vergangenen Jahr. 1
Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat vor einiger Zeit einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Landeswahlgesetzes eingebracht. In einer öffentlichen Anhörung berät dazu am Donnerstag, den 16. August 2007 ab 10:00 Uhr der zuständige Hauptausschuss des Landtags. Zum Landtagswahlrecht wurde an der Universität Dortmund bereits im letzten Jahr eine Diplomarbeit vorgelegt. In dieser macht der Diplom-Statistiker Benjamin Beckmann Vorschläge zur Verbesserung des Landeswahlsystems. Während der Gesetzesentwurf der Landesregierung im Einklang mit der Diplomarbeit eine Umstellung der Mandatszuteilungsmethode auf die Divisormethode mit Standardrundung vorsieht, soll mit der unzureichenden Ausgleichsmandatsregelung eine gravierende Schwäche des Landeswahlgesetzes bestehen bleiben. 2
Bei nordrhein-westfälischen Landtagswahlen werden anhand des landesweiten Stimmenergebnisses die Landtagsmandate auf die kandidierenden Listen verteilt. Zusätzlich wird in jedem der aktuell 128 Wahlkreise ein Wahlkreisabgeordneter mit einfacher Mehrheit gewählt. Die Vergabe der Landtagsmandate auf die einzelnen Parteien erfolgt basierend auf dem Verhältnis der Stimmenergebnisse der Parteien durch ein Mandatszuteilungsverfahren; wobei nur Parteien berücksichtigt werden, die mindestens fünf Prozent der landesweiten Stimmen auf sich vereinen. Die Besetzung der von einer Partei gewonnenen Mandate erfolgt in zwei Schritten: Zunächst erhalten die Wahlkreissieger der Partei ein Landtagsmandat, die übrigen Mandate werden danach über die Landesreserveliste der Partei vergeben. Stehen einer Partei, die in 20 Wahlkreisen erfolgreich war, zum Beispiel 60 Mandate zu, so ziehen für die Partei noch einmal vierzig weitere Abgeordnete über die Landesreserveliste in den Landtag ein. 3
Ein Problem entsteht, wenn eine Partei mehr Wahlkreismandate erringt, als ihr auf Grund des Stimmenverhältnisses zustehen. Denn die Wähler dieser Partei haben einen Vorteil: Eine Stimme von Ihnen bringt mehr Mandate ein, als das Wahlergebnis nahelegt. Die Wahlkreismandate, die eine Partei mehr erhält als ihr zustehen, nennt man Überhangmandate. 4
Bei den letzten fünf Landtagswahlen sind stets Überhangmandate angefallen. Laut Benjamin Beckmann ist dies kein Zufall: „Je größer die Anzahl der Wahlkreismandate im Verhältnis zur vorgesehenen Landtagsgröße ist, desto wahrscheinlicher werden Überhangmandate – und mit rund 71 % (128 von 181) ist der Wahlkreismandatsanteil in Nordrhein-Westfalen der größte aller Bundesländer.“ 5
Um der verzerrenden Wirkung von Überhangmandate entgegen zu wirken, behilft man sich vielfach mit Ausgleichsmandatsregelungen: Dabei erhalten Listen ohne Überhangmandate so lange Ausgleichsmandate, bis in Hinblick auf die Mandatszuteilungsmethode das Verhältnis zwischen den landesweiten Stimmen und den zugeteilten Mandaten wieder deckungsgleich ist. 6
„Die Grundidee der nordrhein-westfälischen Ausgleichsmandatsregelung ist simpel und richtig“, so Betreuer Prof. Dr. Trenkler, „die zu verteilende Gesamtmandatszahl soll so lange erhöht werden, bis sämtliche Überhangmandate den jeweils überhängenden Parteien auch im Wege des Verhältniswahlrechts zustehen.“ Der Gesetzgeber fordert darüber hinaus, dass der Landtag stets eine ungerade Gesamtmandatszahl umfassen soll. „Daher wäre es das klügste beim Auftreten von Überhangmandaten den Landtag auf die kleinste ungerade Gesamtmandatszahl aufzustocken, die sämtliche Überhangmandate »proportionalisiert«“, fordert Benjamin Beckmann. 7
Der aktuelle Gesetzesentwurf der Landesregierung behält dagegen eine seit der Landtagswahl 1995 offiziell eingeführte Ausgleichsmandatsregelung bei, die über einen eher komplizierten Rechenweg vermittelt wird. Dabei kann es vorkommen, dass trotz Überhangmandaten die Ausgangsmandatszahl nicht erhöht wird, obwohl genau dies die erklärte Absicht der gesetzlichen Ausgleichsmandatsregelung ist. 8
Zudem neigt die aktuelle Ausgleichsmandatsregelung häufig zu einem „Überausgleich“, der weder durch die Stimmenverhältnisse, noch durch die Forderung einer stets ungeraden Gesamtmandatszahl gerechtfertigt werden kann. So hätte bei den Landtagswahlen 1990 und 1995 der Landtag – sowohl bei der damaligen als auch bei der nun geplanten Mandatszuteilungsmethode – um jeweils zwei Mandate kleiner sein können und es wäre dennoch eine verhältnisgemäße Mandatsverteilung erzeugt worden. Aber die aktuelle Ausgleichsmandatsregelung sorgt nicht nur für eine unnötige und kostenträchtige Aufblähung des Landtags: „Bedenklicher ist, dass durch den Überausgleich sogar Koalitionsmehrheiten kippen können, obwohl ein mehrheitserhaltender Ausgleich möglich wäre“, so Benjamin Beckmann. 9
Offenbar sind der Landesregierung die Probleme der aktuellen Ausgleichsmandatsregelung nicht bewusst: „In der Begründung zum Änderungsgesetz bleiben die Schwächen unerwähnt. Es ist zu hoffen, dass der Hauptausschuss noch die nötigen Veränderungen einleiten wird.“ Dabei könnte der Landtag das ebenfalls aktuell in Beratung befindliche Kommunalwahlgesetz gleich mit anpassen. Die kommunale Ausgleichsmandatsregelung ist nämlich mit derjenigen auf der Landesebene identisch. 10
Zu Gute halten muss man der Landespolitik allerdings die Komplexität des Themas: „Bei einigen früheren Landtagswahlen wurde die Vergabe der Ausgleichsmandate sogar entgegen der gesetzlichen Vorgaben vollzogen, ohne das dies jemanden aufgefallen wäre“, so Benjamin Beckmann. Ist die Landespolitik in Wahlrechtsfragen zu unbedarft? Diesen Vorwurf wollen die beiden Statistiker so nicht gelten lassen: „Am Gesetzesentwurf der Landesregierung ist die Umstellung von der Hare-Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten zur Divisormethode mit Standardrundung grundsätzlich zu begrüßen. Die neue Methode verhindert einige Paradoxien und schafft für die Wählerstimmen die größtmögliche Erfolgswertgleichheit“. 11

Die Diplomarbeit mit dem Titel „Das Landtagswahlsystem in Nordrhein-Westfalen“ stellt ausführlich die Entwicklung des nordrhein-westfälischen Landtagswahlsystems dar und analysiert die bisher verwendeten Mandatszuteilungsverfahren und Ausgleichsmandatsregelungen. Sie wurde am 31.08.2006 eingereicht und mit der Note 1,0 bewertet. Unter www.wahlrecht.de/nrw kann die Arbeit kostenlos heruntergeladen werden. Der Erstgutachter der Arbeit war Prof. Dr. Götz Trenkler vom Lehrstuhl für Statistik und Ökonometrie des Fachbereichs Statistik der Universität Dortmund. Als Zweitgutachter fungierte Professor Dr. Friedrich Pukelsheim vom Lehrstuhl für Stochastik und ihre Anwendungen vom Institut für Mathematik der Universität Augsburg. Der Verfasser der Arbeit Benjamin Beckmann (weltall@gmx.de) ist bei einem kleinen datenverarbeitenden Dienstleistungsunternehmen in Bielefeld beschäftigt.
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eingetragen von Matthias Cantow