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Deutscher Bundestag

17. Wahlperiode

1. Sitzung (Auszug)

Berlin, Dienstag, den 27.10.2009


 

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Präsident Dr. Norbert Lammert: Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Verehrte Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die erneute Wahl zum Präsidenten des Deutschen Bundestages ist eine hohe Auszeichnung und eine große Verpflichtung. Das eine ist mir so bewusst wie das andere. 1
Vor vier Jahren hat mich der 16. Deutsche Bundestag mit einem ungewöhnlichen Vertrauensvorschuss in dieses Amt gewählt. Ich bedanke mich bei allen, die mir heute auch nach stattgefundenen Erfahrungen in der Wahrnehmung des Amtes ihre Stimme gegeben haben, zunächst bei meiner eigenen Fraktion, die mich trotz gelegentlicher Neigung zu Selbstständigkeit und Hartnäckigkeit, auch gegenüber deren besonderen Wünschen und Erwartungen, für dieses Amt erneut vorgeschlagen hat – in Kenntnis des Risikos, dass das so bleiben wird.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich freue mich natürlich – das werden Sie verstehen –, dass mein Bemühen eine so breite Anerkennung gefunden hat, dieses hohe Amt so überparteilich wie eben möglich zu führen und unser Parlament nach innen wie nach außen würdig zu vertreten. Dafür bin ich besonders dankbar, und ich versichere Ihnen gerne, dass ich mich nach Kräften weiterhin genau darum bemühen werde, auch wenn dies sicher nicht immer gleich gut gelingt.
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Meine Damen und Herren, am 27. September haben fast 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht, mehr als je zuvor in der Geschichte der Bundestagswahlen, obwohl es übrigens noch nie so viele Kampagnen zur Wahlbeteiligung gegeben hat wie in diesem Jahr. Etwa 18 Millionen Frauen und Männer haben nicht gewählt. Das ist so viel, wie das größte Bundesland Einwohner hat. Belanglos ist das nicht. Es sollte bei nüchterner Würdigung weder verharmlost noch dramatisiert werden. Immerhin ist die niedrigste Beteiligung an einer Bundestagswahl seit 60 Jahren immer noch deutlich höher als die vielgerühmte höchste amerikanische Wahlbeteiligung in den letzten 100 Jahren. Dennoch sollten wir uns mit dem unerfreulichen Trend und seinen Ursachen auseinandersetzen. 4
Zu den Gründen der Wahlverweigerung gehören nicht nur allgemeines politisches Desinteresse, das es natürlich auch gibt, sondern konkrete Enttäuschungen, Ratlosigkeit gegenüber zu vielen oder zu wenigen oder zu undeutlichen Alternativen, manchmal auch schlichte Bequemlichkeit und neuerdings auch eine intellektuelle Überheblichkeit, die sich in der öffentlichen Aufforderung zur Verweigerung dessen niederschlägt, was dieselben Autoren als demokratisches Grundrecht natürlich für völlig unverzichtbar halten.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Man wird gerade in diesem Jahr daran erinnern dürfen: Für dieses demokratische Kerngrundrecht freier Wahlen sind auch in Deutschland vor 20 Jahren viele Tausende Menschen auf die Straße gegangen.
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Aus gegebenem Anlass wird sich der neue Bundestag sehr bald sowohl mit den Transparenzregeln für Abgeordnete wie mit einzelnen Bestimmungen unseres Wahlrechts befassen müssen. Ich hoffe sehr, dass wir bei diesen beiden Themen mit möglichst breiten, fraktionsübergreifenden Mehrheiten zur überzeugenden Korrektur von Regelungen kommen, die nicht erst seit den gerichtlichen Beanstandungen umstritten sind. Dabei empfehle ich uns auch einen ruhigen Blick auf die geltenden Regelungen zur Zulassung nicht bereits im Parlament vertretener Parteien zur Bundestagswahl. Dass im dafür zuständigen Wahlausschuss Vertreter der etablierten Parteien über die Zulassung von Konkurrenz entscheiden, ist nicht über jeden demokratischen Zweifel erhaben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Und dass unser Wahlgesetz eine Überprüfung dort mit Mehrheit abgelehnter Bewerbungen erst nach der Wahl zulässt, halten nicht nur einige Kommentatoren des Grundgesetzes für eine Rechtsschutzlücke – ich auch. Dann ist es nämlich für eine Korrektur zu spät.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nie zu spät ist es für gute Vorsätze, mit denen wir sicher alle unsere Arbeit beginnen. Aber wir sollten mit der Umsetzung auch möglichst bald beginnen. Die Legislaturperiode ist kurz, für den Bundestag nur vier Jahre. Fast alle Landtage und viele Parlamente unserer Nachbarstaaten haben fünfjährige Legislaturperioden, ebenso wie das Europäische Parlament. Auch darüber lohnt es, nachzudenken,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nicht statt anderer eigener Anstrengungen zur Verbesserung unserer Arbeit, versteht sich, aber als möglicher Bestandteil. Ich weiß, dass es solche Überlegungen bei Mitgliedern aller Fraktionen gibt, und ich kenne auch die beachtlichen Einwände. Aber wir sollten auch nicht übersehen, dass es nach Einschätzung der meisten Wählerinnen und Wähler nicht zu wenige Wahlen in Deutschland gibt, sondern eher zu viele, von den Gemeinderäten, Kreistagen und Landtagen bis zum Europäischen Parlament. Auch die Teilnahme an Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene wie in den Ländern ist eher ernüchternd.
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Jedenfalls werden wir uns darauf einrichten müssen, für die nächsten Jahre nicht nur von einem allgemeinen Wohlwollen der Öffentlichkeit wie der Medien, als vielmehr von ausgeprägten Erwartungen begleitet zu werden. Unsere Arbeit wird dadurch nicht leichter, dass manche dieser Erwartungen sich wechselseitig ausschließen. Aber wir alle, die wir heute zur Konstituierung dieses Bundestages hier zusammengekommen sind, haben für dieses Mandat kandidiert, weil wir uns dieser Aufgabe gewachsen fühlen. Mit der Annahme dieses Mandats beginnt die Erledigung der übernommenen Aufgaben, in welchen Rollen auch immer. Ich wünsche uns allen, jedem Einzelnen Freude und Erfolg bei der Bewältigung dieser Herausforderungen, und ich freue mich auf eine ebenso streitbare wie kollegiale Zusammenarbeit. 9
Herzlichen Dank.
(Anhaltender Beifall im ganzen Hause)
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eingetragen von Matthias Cantow